Geschlossenheit – dazu fordern Politiker
ihre Parteikollegen auf, wenn es in ihrer Partei anhaltenden Streit gibt. Tatsächlich
geht es dabei nicht selten eher darum, Abweichler auf Linie zu bringen. Streit
wird in solchen Fällen nicht ergebnisoffen ausgetragen, sondern es wird alles
unternommen, um ihn zu ersticken, bevor er sich negativ auf die Umfragewerte
auszuwirken beginnt. Streit kann jedoch konstruktive Kräfte freisetzen und er
ist immer dann gut und wichtig, wenn das geschieht.
Die europäischen Institutionen streiten um den Krisenkurs – und Macht
Seit der Finanzmarktkrise streiten die
Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union untereinander über den
richtigen krisenpolitischen Kurs und die geeigneten Maßnahmen. Außerdem
streiten Europäischer Rat bzw. auf Fachebene der Ministerrat, Europäisches
Parlament und Europäische Kommission miteinander. Die Uneinig-keit ist groß, die
Streitigkeiten finden scheinbar kein Ende oder werden immer wieder neu
angefacht. Man dreht sich im Kreis. Die Entscheidungsprozesse sind quälend
langsam, die Beschlüsse oft wachsweiche oder halbherzige Kompromisse auf dem kleinsten
gemeinsamen Nenner.
Erschwert wird auf europäischer Ebene alles
zusätzlich noch dadurch, dass es dabei keineswegs nur um den Kurs und die Maßnahmen
geht. Vielmehr ringen die beteiligten Institutionen – Rat, Parlament,
Kommission – zugleich auch um ihren Einfluss in Entscheidungsprozessen und auf
die Weiterentwicklung der Europäischen Union.
Das ist grob betrachtet die allgemeine und
wohlvertraute Ausgangslage vor dem EU-Gipfel in Brüssel. Schaut man etwas
genauer hin, dann wird es für dessen Teilnehmer dieses Mal jedoch ein Gipfel
der Uneinigkeit, der sich diese Uneinigkeit aber schon aus Eigeninteresse gar
nicht mehr leisten kann. Das macht ihn zu etwas Besonderem.
Das Dilemma der Bundesregierung – und des Europäischen Rates
Bundesfinanzminister Schäuble hat jetzt, also
unmittelbar vor Beginn des EU-Gipfeltreffens, im TV-Interview in den tagesthemen der ARD noch einmal ausdrücklich
den austeritätspolitischen Kurs, den die Bundesregierung auf europäischer Ebene
fordert und bisher auch durchgesetzt hat, als den richtigen Weg zu mehr
Wirtschafts-wachstum verteidigt. (1)
Einerseits geht es ihm dabei natürlich darum,
diesen Kurs innerhalb des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs
gegen die von sozialdemokratischen Regierungen angesichts des Ausgangs der
Europawahl geforderten Kurskorrekturen zu verteidigen. Andererseits geht es ihm
aber ebenso darum, dass der Europäische Rat nicht im Machtpoker mit dem Europäischen
Parlament Boden preisgeben muss. So betrachtet ist sein selbstbewusstes
Statement in den tagesthemen auch ein
impliziter Aufruf zur Geschlossenheit des Europäischen Rates.
Für die Bundesregierung ist das eine
Dilemma-Situation. Denn Wolfgang Schäuble will die Position Berlins in der
Frage des Krisenkurse und der der Besetzung des Postens des Präsidenten der
Europäischen Kommission innerhalb des in beiden Fragen gespaltenen Europäischen
Rates verteidigen. Zugleich will er verhindern, dass es dem Europäischen
Parlament gelingt diese Situation auszunutzen, um am Ende seine Macht zu Lasten
des Europäischen Rates zu vergrößern.
Parlament und Kommission – gemeinsam stark?
Die Wahrscheinlichkeit, dass das geschieht
oder beim anstehenden EU-Gipfel der Boden für später unver-meidbare Weichenstellungen
in diese Richtung bereitet wird, ist eher noch größer geworden, seit sich die
Koalition in Berlin darauf verständigt hat, Martin Schulz (SPD) bei der Wahl
zum Präsidenten des Europäischen Parlaments und Jean-Claude Juncker (EVP) als
neuen Kommissionspräsidenten zu unterstützen. Denn beiden sind die europäische
Sache und die institutionelle Weiterentwicklung der Europäischen Union sehr
wichtig, was im Zweifel bedeuten könnte, dass sie aus der jeweils angestrebten
Position heraus gemeinsam auf eine
Stärkung der europäischen Institutionen gegenüber den Regierungen der
Mitgliedstaaten und damit auf eine Schwächung des Europäischen Rates hinwirken.
Eine Allianz von Parlament und Kommission
wäre in historischer Perspektive an sich schon bemerkenswert. Denn eigentlich
gibt es zwischen den beiden Organen eine beinahe schon traditionell starke
Rivalität. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten für den europäischen
Integrationsprozess wären es erst recht.
Der anstehende EU-Gipfel hat deswegen ohne
Frage eine besondere Brisanz. Dies wird klar, wenn man sich vor Augen führt, wie
sich die Stellung des Europäischen Parlaments im dem Machtdreieck „Rat – EP –
Kommission“ verändert hat.
Das Europäische Parlament war bis 1987 de facto bedeutungslos
Der Vertrag über die Gründung der
Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS bzw. Montanunion) wurde
1951 geschlossen. Mit seinem Inkrafttreten gab es bereits das Europäische
Parlament, das damals noch als „Versammlung“ bezeichnet wurde. Lange Zeit
wurden die Abgeordneten aus den Mitgliedstaaten in das Europaparlament entsandt. Erst seit 1979 wird das
Europaparlament direkt von den Bürgern gewählt. Seitdem werden Europawahlen
abgehalten.
Vor Inkrafttreten der Reform der
Gemeinschaftsverträge (EGKS-, EWG- und Euratom-Vertrag) im Juli 1987
(soge-nannte Einheitliche Europäische Akte) hatte das Europäische Parlament keine Entscheidungskompetenzen. Rechtsakte
wurden allein vom Rat beschlossen. Es wurde lediglich vom Rat (Ministerrat)
angehört. Mit der „Einheitlichen Europäischen Akte“ wurde das „Verfahren der
Zusammenarbeit“ eingeführt, bei dem das Europäische Parlament in bestimmten,
ve-traglich festgelegten Fällen am Entscheidungsprozess des Rates beteiligt wurde – allerdings ohne Änderungen an Beschlussvorlagen
wirklich erzwingen zu können.
Mit dem Maastrichter Vertrag zur Gründung
der Europäischen Union von 1993 erhielt das Parlament dann erstmals (in
bestimmten Fragen) echte Mitentscheidungsbefugnisse.
Das heißt, in den Fällen, in denen vertraglich das „Mitentscheidungsverfahren“
vorgesehen ist, kann das Europäische Parlament Änderungen an den stets von der
Europäischen Kommission vorbereiteten Beschlussvorlagen durchsetzen.
Alleiniges Initiativrecht der Europäischen Kommission: Noch zeitgemäß?
Allerdings entscheiden letztlich nach wie
vor die Staats- und Regierungschefs über die personelle Zusammen-setzung der
Europäischen Kommission, die vertraglich bedingt über das alleinige
Initiativrecht verfügt, das heißt, über das Recht alle Vorlagen zu erarbeiten,
über die entweder der Ministerrat alleine oder zusammen mit dem Europäischen
Parlament entscheidet.
Insofern stellt sich prinzipiell die
Frage, inwieweit die von der Europäischen Kommission erarbeiteten Initiativen
tatsächlich frei sind von staatlicher Einflussnahme oder anders ausgedrückt,
inwieweit sie letztlich das wider-spiegeln, was die Regierungen der
Mitgliedstaaten erwarten und verabschieden wollen.
Zudem werden die Initiativen der
Kommission aber durch eine Vielzahl von beratenden Ausschüssen und Lobbyisten
in Brüssel beeinflusst.
Abgesehen davon hat auch die Europäische
Kommission als „Exekutive“ der Europäischen Union Entscheidungs-befugnisse sowie
auch Gestaltungsspielräume und zwar auf der operativen Ebene, also bei der
Umsetzung von Beschlüssen des Rates oder des Rates und des Europäischen
Parlaments.
Aus diesen Gründen besteht heute im
Europäischen Parlament verstärkt der Wunsch, ebenfalls Initiativen erarbeiten
und in den Entscheidungsprozess einbringen zu dürfen oder anders ausgedrückt
wird das alleinige Initiativrecht der Kommission infrage gestellt.
Dabei muss man wissen, dass die
Gründungsväter der Europäischen Gemeinschaft die Europäische Kommission –
anfangs noch als „Hohe Behörde“ bezeichnet – vor allem deswegen geschaffen und
mit dem alleinigen Initiativrecht ausgestattet haben, um sicherzustellen, dass
auf europäischer Ebene alle Initiativen von einer neutralen, unparteiischen und
fachlich versierten Instanz erarbeitet werden und diese nicht von spezifischen
nationalen Interessen beeinflusst sind.
Anders hätte man die Akzeptanz der
ehemaligen Kriegsgegner Frankreich und Deutschland für die gemeinsame
Verwaltung und Entwicklung des damals strategisch wichtigen Kohle- und
Stahlsektors kaum gewinnen und damit auch eine dauerhafte Befriedung
Kontinentaleuropas nicht sicherstellen können.
Permanentes Tauziehen um Macht in Brüssel
Seit den 80er Jahren ist, wenn man all
dies berücksichtigt, die Geschichte des europäischen Integrationspro-zesses
stets ein Tauziehen um Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten desselben
zwischen dem Rat (Europäischer Rat der Staats- und Regierungschefs und
Ministerrat), dem Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission
gewesen. Das Kräfteverhältnis hat sich immer wieder verschoben, ist immer im
Fluss geblieben.
Ganz sicher gibt es bezüglich der
Interessen der genannten Institutionen oder Organe der Europäischen Union eine
mal mehr, mal weniger große Schnittmenge. Allerdings sind die Interessenlagen
innerhalb dieser Institu-tionen erstens nicht homogen und zweitens kommt es immer
wieder auch zu Verschiebungen und deswegen zu einer veränderten Austarierung. Darüber
hinaus stehen die Institutionen aber in einer Konkurrenzbeziehung zueinander,
die sich wie folgt auf den Punkt bringen lässt:
Die Regierungen der Mitgliedstaaten wollen
ihre Entscheidungs- und Gestaltungshoheit über die Europäische Union nicht an
das Europäische Parlament und/oder die Europäische Kommission abgeben (müssen).
Gewinner und Verlierer im Machtkampf
Tatsache ist, dass die Europäische
Kommission im Streit um Einfluss unter dem Strich keinen Boden gut gemacht hat,
sondern im Gegenteil nicht zuletzt angesichts der von David Cameron
angestoßenen Reform-debatte, bei der es vor allem auch um eine Rückverlagerung
von Kompetenzen auf die nationale Ebene geht, Entscheidungs- und
Gestaltungsmöglichkeiten zu verlieren droht.
Fakt ist andererseits ebenso, dass sich
das Kräfteverhältnis zwischen den Regierungen und dem Europäischen Parlament über
die Jahre sukzessive und durchaus erheblich zugunsten des letztgenannten
verschoben hat. Allerdings ist es noch nicht gekippt. Einiges deutet jedoch
darauf hin, dass sich die Machtbalance entscheidend verschieben könnte und zwar
zumindest in große Nähe des Kipppunktes. Ob und inwieweit dies geschieht, hängt
auch schon sehr stark vom Verlauf des morgen beginnenden EU-Gipfels sowie von der
weiteren Entwicklung der Verhandlungen im Zusammenhang mit dem Krisenkurs und
der Neubesetzung der Europäischen Kommission ab.
Für die Regierungschefs aller großen Mitgliedstaaten steht viel auf dem Spiel
Für David Cameron, Angela Merkel und François
Hollande steht jetzt bei den Verhandlungen auf europäischer Ebene jeweils viel
auf dem Spiel. Cameron und Hollande stehen in ihren Ländern massiv unter Druck
– nicht zuletzt wegen des Ausgangs der Europawahl. Die Bundeskanzlerin hat in
der Krise und beim krisenpolitischen Kurs in Europa bisher den Ton angegeben.
Bei ihr geht es darum, inwieweit sie diesen Führungsanspruch noch durchzusetzen
vermag. Dasselbe gilt bezüglich der Frage, ob der von ihr favorisierte Jean-Claude
Juncker neuer Kommissionschef wird. Und Matteo Renzi, der als neuer Premier
keine europapolitischen Altlasten mit sich schleppt, will den Italienern
beweisen, dass er die Stimmen verdient hat, die sie ihm bei der Europawahl im
Mai gegeben haben. Denn die Europawahl hat nichts an der schwachen Mehrheit von
Renzis Regierung im italienischen Parlament geändert.
Der EU-Gipfel – nur ein Auftakt für schwere, monatelange Verhandlungen?
Kurzum: In Brüssel einen gemeinsamen
Nenner zu finden, mit dem nur allein schon diese vier Regierungschefs zuhause
gut leben können, gleicht dieses Mal der Quadratur des Kreises.
Vor dem Hintergrund des skizzierten Gesamtbildes
ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sich das Pokern um den Krisenkurs
und die Besetzung des Postens des Kommissionspräsidenten über Monate hinziehen
wird. Niemand wird schnell nachgeben wollen bei den Verhandlungen im
Europäischen Rat und auch das Europäische Parlament wird hart bleiben.
Realistisch betrachtet wird es für die
Staats- und Regierungschefs letztlich kaum möglich sein, den bisherigen Krisenkurs
ohne Abstriche beizubehalten und zugleich
den Status Quo bei der Machtverteilung zwischen Rat, Parlament und Kommission zu
bewahren. Wenn es für die Hardliner im Europäischen Rat ganz schlecht läuft, verlieren
sie an beiden Fronten Boden.
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