Montag, 10. Oktober 2011

Schuldenkrise: State of the Art der Krisenbewältigung


Wirtschaftsliberalismus bedeutet „Freiheit der Märkte“ oder genauer gesagt, die Freiheit der Märkte von jeglicher staatlichen oder korporativen Bindung, sprich Beeinflussung, Beschränkung und Regulierung. Entsprechend richtet sich wirtschaftsliberale Politik auf die Zurückdrängung des Einflusses von Staat und etwa auch von Gewerkschaften bzw. auf die Liberalisierung (Öffnung für den Wettbewerb) und Deregulierung von Märkten, die Privatisierung von Staatsbetrieben und natürlich auch auf die Realisierung von Freihandel (Öffnung nationaler Märkte für den internationalen Handel).
Die dahinter stehende These ist, dass freie, sich selbst regulierende Märkte am effizientesten arbeiten und Volkswirtschaften prosperieren lassen.
Von den Feinheiten einmal absehend, ist das die zentrale Hypothese sowohl der klassischen liberalen Wirtschaftstheorie von Adam Smith und seinen Nachfolgern als auch der später entwickelten und heute herrschenden neoklassischen Wirtschaftstheorie. Bei Adam Smith ist es die letztlich lediglich metaphysisch („von Gott gewollt“) begründete „unsichtbare Hand“, die dafür sorgt, dass sich die Märkte selbst regulieren, entwickeln und die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt steigern. In der neoklassischen Modelltheorie sind es spezifische Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit die Märkte in ein wohlfahrtsoptimales Gleichgewicht respektive auf einen gleichgewichtigen Wachs-tumspfad finden.
Auch wenn die Selbstregulierung anders begründet wird, so ist sie dennoch in beiden Fällen der Grund für die aus diesen ökonomischen Theorien abgeleitete Forderung nach einer wirtschaftsliberalen Politik.
Das Problem dabei hat die Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise offenkundig werden lassen: die Hypothese selbstregulierender Märkte, auf der die beiden Familien liberaler Wirtschaftstheorien aufgebaut sind, ist nicht haltbar. Insofern kann dann aber eine wirtschaftsliberale Politik auch kein Garant für prosperierende Volkswirtschaften sein. Mehr noch kann sie durchaus auch die gegenteilige Wirkung entfalten, wenn man bedenkt, dass der Finanzmarktkrise gerade in den USA eine lange Phase wirtschafts-liberaler Politik vorausgegangen ist.
Warum ergeben sich unterschiedliche Wirkungen für die wirtschaftsliberale Politik oder mit anderen Worten, wenn Märkte nicht grundsätzlich selbstregulierend sind, wann, wo und wie soll der Staat eingreifen? Denn dass der Staat mitunter intervenieren muss, ist ja die Konsequenz aus der Erkenntnis, dass freie Märkte nicht selbstregulierend sind.
Leider können die Ökonomen diese Frage nicht zuverlässig beantworten. Die liberalen Theorien bieten gar keine Rechtfertigung für Interventionen, es sei denn es liegt sogenanntes Marktversagen vor, das heißt ein Fall, in dem ein wettbewerlicher Markt nicht möglich ist. Die Feststellung schließt aber auch John M. Keynes´ Theorie mit ein, die im Unterschied zum Liberalismus zwar eine Begründung für Interventionen des Staates gibt und unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Maßnahmen zur Stimulierung der Nachfrage nahe legt. Sie bezieht sich jedoch auf eine konjunkturell bedingte Nachfrageschwäche und gibt aber keine Orientierung für den Fall einer wirtschaftsstrukturell begründeten Wirtschaftsschwäche.
Um – zweifellos sehr pointiert zu verdeutlichen, was ich meine, stellen Sie sich bitte einmal ein Aquarium vor, in dem sehr viele kleine Fische und ein paar sehr große Fische herum schwimmen.
Wenden wir zunächst eine wirtschaftsliberale Politik in Reinform auf dieses Aquarium an, das heißt, der Staat macht nichts. Resultat: Die großen Fische fressen viel, nach und nach auch die kleinen Fische und werden immer dicker.
Wenden wir nun die wirtschaftsliberale Austeritätspolitik an, das heißt, wir sparen – also keine Futterzufuhr mehr. Ergebnis: Die großen Fische fressen die kleinen und überleben – jedenfalls eine Zeitlang.
Schließlich halten wir es mit Keynes, das heißt, es gibt Konjunkturpakete bzw. Extra-Portionen Futter: Ergebnis: Die großen Fische sichern sich den größten Teil des Futters und werden immer dicker, die kleinen Fische bekommen wenig oder nichts ab, bleiben klein, verhungern oder werden gefressen.
Das ist der „State oft the Art“ der Krisenbewältigung.
Sie können sich jetzt aussuchen, ob die Fische Platzhalter für Unternehmen, Banken oder Staaten sind. Ich denke, jeder von Ihnen ist Experte genug, innovative Lösungen zu ersinnen, mit denen erreicht werden kann, dass es der Fischpopulation in unserem Aquarium insgesamt besser geht. Wenn es Ihnen gelingt, dann sind Sie zumindest gedanklich ein Stück weiter als die Ökonomen.
Neue Lösungsansätze werden bisher zwar nicht diskutiert. Allerdings kann man nicht sagen, die Krise hätte nicht auch zu einem Umdenken geführt - etwa beim Internationalen Währungsfonds (IWF), der bei der Sanierung von Euro-Schuldenstaaten ja eine zentrale Rolle spielt.
Wenige Wochen vor seiner Verhaftung wegen Vergewaltigungsverdachts Mitte Mai 2011 hatte der damalige Chef des IWF, Dominique Strauss-Kahn, in Washington zu Studenten über die Lehren des IWF aus der Finanzmarktkrise gesprochen und die Abkehr vom bisherigen Sanierungskonzept verkündet: „Der Washington Consensus liegt jetzt hinter uns“ – so wurde er in der Presse zitiert. (1) Er erklärte ihn angesichts der globalen Krise für überholt. „Beim Gestalten des makroökonomischen Rahmens einer neuen Welt werde das Pendel umschwingen – zumindest ein bisschen – vom Markt hin zum Staat“. (2) Nebenbei bemerkt sprach er sich in dieser Rede auch für eine Finanztransaktionssteuer aus – so, wie es jüngst mit gleichlautender Begründung etwa auch José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission tat. (3)
Der Begriff „Washington Consensus“ geht auf den Ökonomen John Williamson zurück, der ihn 1990 prägte. Er fasste darunter zehn, in der Washingtoner Politik und Adminis-tration, bei der Fed, internationalen Organisationen (insb. IWF und Weltbank), Think Tanks und Fachleuten seines Erachtens weitgehend konsensfähige Grundsätze für Wirtschaftsreformen in Lateinamerika, zwecks Überwindung der Schuldenkrise, für makroökonomische Stabilität und Wachstum.
Im Einzelnen sind dies die folgenden Reformmaßnahmen: (4)
  1. Haushaltsdisziplin
    In Lateinamerika hatten nahezu alle Staaten große Haushaltsdefizite aufgebaut; die Folgen waren: Zahlungsbilanzkrise, hohe Inflation und Kapitalflucht; 
  2. Neue Prioritäten bei den öffentlichen Ausgaben setzen
    Der Fokus liegt auf langfristig wachstumsorientierten Investitionen, wie etwa in die medizinische Grundversorgung, das Bildungswesen und in Infrastrukturen;
  3. Steuerreform
    Absenkung der Spitzensteuersätze und Verbreiterung der Steuerbasis;
  4. Liberalisierung der Zinssätze
    gefordert werden marktbestimmte Zinsen;
  5. Festlegung eines wettbewerbsfähigen Wechselkurses
    um eine Exportstrategie erfolgreich verfolgen zu können, muss die heimische Währung hinreichend niedrig bewertet sein, was auf Währungsabwertung hinaus läuft;
  6. Liberalisierung des Handels
    Abbau von Handelsbeschränkungen und –kontrollen, speziell auch Abbau von Importzöllen (Zweck: Exportförderung);
  7. Liberalisierung bzw. Anregung ausländischer Direktinvestitionen
    Zweck: Know-How-Transfer, mehr Wettbewerb, Rationalisierung, Effizienz);

    Mitte der 90er Jahre forderte der IWF auch die Liberalisierung des Kapitalverkehrs;
  8. Privatisierungvon im Staatsbesitz befindlichen Unternehmen und Einrichtungen (private Unternehmen sind effizienter und erfolgreicher);
  9. Deregulierung
    von Märkten und Preisen;
  10. Schutz des Privateigentums (Property Rights)
    in den Industriestaaten selbstverständlich, in Lateinamerika nicht
Es ist unschwer zu erkennen, dass es sich in der Summe der Maßnahmen um ein wirtschaftsliberales Konzept handelt, aber ebenso, dass genau dieses Konzept auch auf die Euro-Schuldenstaaten, etwa in Griechenland (für Maßnahmen siehe hier), angewendet wird. Allerdings mit Ausnahme der Punkte 4-6 und 10, da sie für Euro-Schuldenstaaten nicht beeinflussbar (Währungsunion, EZB) bzw. erfüllt sind (Freihandel, Schutz des Privateigentums). Mit anderen Worten läuft überall in den Euro-Schuldenstaaten dasselbe Sanierungsprogramm: Es wird dereguliert, liberalisiert, privatisiert, Staat und Gewerkschaften werden zurückgedrängt und das gilt vor allem auch bezüglich des Kostenblocks, den sie darstellen (z. B. Staatsbedienstete, Löhne), die Steuern für Arbeitnehmer und Verbraucher werden erhöht, neue Steuern kreiert.
Offensichtlich ist Dominique Strauss-Kahn bei seinem Vortrag vor gut einem halben Jahr ein Fehler unterlaufen oder die anvisierte Abkehr vom Washington Consensus ist nach seiner Demission im Mai wieder ad acta gelegt worden.
So oder so, es bedeutet, wir sind in der Frage der Krisenbewältigung keinen Schritt weiter gekommen. Dass die wirtschaftsliberale Politik eine Renaissance erlebt, ist angesichts der Erfahrungen der zurückliegenden Jahre grotesk: Der Weg in die Krise wird uns als Weg aus der Krise verkauft, obwohl er es nicht sein kann. Es spielt offensichtlich keine Rolle, dass die wirtschaftstheoretische Basis dieser Politik nicht trägt. Dass die Troika und die Staats- und Regierungschefs Hilfsleistungen von der Befolgung dieses Sanierungskonzeptes in der EU abhängig machen, ist nicht nachvollziehbar. Es ist eine Verlustgarantie.

2 Kommentare:

  1. "der Krise gingen lange Jahre liberaler Wirtschaftspolitik voraus" schreiben Sie und glauben, das sei ein Beleg dafür, daß unregulierte Marktwirtschaft nicht funktioniere wie gewünscht. Aber wo bitte gab es unregulierte Wirtschaftspolitik? In den USA etwa? Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, hat man dort mit dem Programm "ein Haus für alle" die Banken gezwungen, Kredite ohne Sicherheiten zu geben, auch an schlechte Schuldner. Bush hat's so gewollt. Das wäre unter freier Wirtschaftspolitik nicht passiert. Aber warum war das Politik? - von einer Erklärung sind Sie weit entfernt, deshalb stimmt auch Ihre Analyse nicht: Die exponentiell ansteigenden Geldvermögen haben eine logische Kehrseite: Schulden. Wer viel Geld hat, sucht verzeifelt einen Schuldner, um aus seinem Geld einen Ertrag zu erzielen. Wenn kein guter Schuldner mehr da ist, auch die Staatschuld nicht granzenlos ausweitbar ist, müssen eben notfalls schlechte Schuldner gefunden werden. Und so ist es dann auch gekommen! Prinzipiell kommen wir mehr und mehr in Schwierigkeiten, für die gigantisch vermehrten Geldmengen noch ausreichend gute Schuldner zu finden, die das Geld aufnehmen und was draus machen, also mit Zins, und sei er auch noch so gering, wieder zurückzahlen. Da wird die Decke nun jedoch in den letzten Jahren immer dünner und so greift man in der Not zu seltsamen Konstruktionen, um die Gelder unterzubringen. Es geschah, wie es kommen mußte: Man vergriff sich, zunehmend. Und diese Tendenz wird weiter zunehmen! Wie lautet die Lösung? Vernichtung der übertriebenen Geldvermögen. Das nennt man Deflation - und das ist es, was bevorsteht, ob Merkel/Sarkozy/Obama usw. wollen oder nicht. Das ganze inflationär überblähte Gebilde wird zusammengeschmolzen - alle Werte nach unten korrigiert, Immobilien, Aktien, Anleihen, ... whatever. Ich versteh nicht, wo das Problem ist (außer für die, die in diesen Werten investiert sind).

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  2. Hat Bush die Banken wirklich gezwungen?

    Die Finanzmärkte wurden in den US auf Betreiben der starken Lobby dieser Branche, die überall in der US-Administration, in wichtigen Insitutionen und auch in der Politik selbst personell an maßgeblicher Stelle vertreten ist dereguliert - unter Clinton, der den Glass-Steagall-Act aufhob, ebenso wie unter den Bushs. Bis heute macht Washington pointiert ausgedrückt genau das, was "die Märkte" bzw. die Wall Street will.

    Kennen Sie den Aufsatz von Matt Taibbi "The Great American Bubble Machine", abgedruckt im "Rolling Stone" (No. 52) vom 23.7.2009? Dort wird das sehr aufschlussreich und detailliert beschrieben (siehe: http://www.scribd.com/doc/16752803/The-Great-American-Bubble-Machine)

    Selbstverständlich gab es nie eine völlig deregulierte Wirtschaft. Aber das ändert nichts daran, dass gerade in den USA Wirtschaftsliberalisierung betrieben wurde - mal mehr, mal weniger.

    Das Geld, dass die die Notenbanken und insbesondere die Fed in die Märkte pumpt, geht nicht mehr in produktive Investititionen, sondern ins Casino und dort werden Blasen aufgepumpt - das ist richtig und wurde beispielsweise von Steve Keen gut erklärt (siehe: http://www.paecon.net/PAEReview/issue57/Keen57.pdf).

    Dass es in der Realwirtschaft nicht genügend Anlagemöglichkeiten gibt, ist insofern nicht richtig, als es vor allem auch durch die Flutung der Märkte mit Geld erheblich forciert wird. Darüber hinaus sind fehlende Anlagemöglichkeiten m. E. eine Folge reifer, gesättigter und vor allem verkrusteter Märkte, auf denen keine dynamische Entwicklung mehr stattfinden kann. Das hat etwas mit der verbreitet hohen Unternehmenskonzentration und der Marktdominanz weniger, sehr großer Konzerne zu tun.

    Grüße
    SLE

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