Auf dem heute beginnenden, zweitägigen
EU-Gipfel soll über die Flüchtlingskrise und über die EU-Reformforderungen der
britischen Regierung verhandelt werden, die nach Ansicht von David Cameron
notwendig sind, damit sich die Briten beim voraussichtlich im Sommer
abgehaltenen Referendum für den Verbleib in der Europäischen Union entscheiden.
Dass David Cameron die nationalistischen Tendenzen
sowie die Diskussionen über die Flüchtlingskrise und den drohenden Brexit ausnutzt,
um auf europäischer Ebene etwas für Großbritannien herauszuschlagen, ist verständlich.
Die Selbstverständlichkeit mit der jedoch davon ausgegangen wird, die Erfüllung
der britischen Reformforderungen könne den Verbleib Großbritanniens in der EU
sicherstellen, ist indes schwer nachvollziehbar. Denn was der britische Premier
fordert ist eine Sache. Wie die britische Bevölkerung zur Mitgliedschaft in der
Europäischen Union steht, ist eine ganz andere Sache.
Großbritannien hat immer schon mit Europa gefremdelt
Es ist beinahe schon eine historische
Tatsache, dass sich die Briten und die britischen Regierungen nicht primär zum
europäischen Kontinent hin orientierten, sondern sich stärker mit den
US-Amerikanern verbunden fühlen. Als Winston Churchill 1946, also nach dem Ende
des zweiten Weltkriegs, zur Befriedung des Kontinents die Gründung der „Vereinigten
Staaten von Europa“ forderte, sah er Großbritannien ganz selbstverständlich
nicht als Teil davon. Und Toni Blair zog deswegen mit George W. Bush beim
Irak-Krieg ganz selbstverständlich an einem Strang.
Und auch wenn das Verhältnis zwischen
Großbritannien und den USA auf der politischen Ebene seitdem durchaus etwas abgekühlt
ist, nicht zuletzt aufgrund der Rivalitäten zwischen den Finanzplätzen New York
und London sowie unter anderem auch aufgrund der Politik gegenüber China und
der chinesischen Währung, so hat sich daran grundsätzlich nichts geändert. Großbritannien
hat deswegen in der Geschichte der europäischen Integration immer schon ein
zwiespältiges Verhältnis zu Kontinental-Europa gehabt.
Nicht das erste britische Referendum über den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft
Der erste Beitrittsantrag erfolgte erst im
Jahr 1961, zehn Jahre nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaften für
Kohle und Stahl (EGKS), aber die Verhandlungen wurden abgebrochen. Ein zweiter Beitrittsantrag
wurde dann 1967 gestellt, der Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) aber
erst 1973 vollzogen. Doch bereits im Sommer 1974 verkündete die britische
Regierung, für den Verbleib in der EG die Beitrittsbedingungen neu verhandeln
zu wollen. Auch damals ging es um eine Reform der EG bzw. um Sonderbedingungen
für Großbritannien, unter anderem was den Finanzierungsbeitrag des Landes
anbelangte. Es kam zu entsprechenden Vereinbarungen und ein Jahr später, im
Sommer 1975, fand in Großbritannien dann ein erstes Referendum über den Verbleib
in den EG statt. Die Briten stimmten seinerzeit mit 67,3 Prozent der Stimmen für
den Verbleib in den EG.
David Cameron macht es heute genauso wie
seine Vorgänger damals. Er fordert Reformen der Europäischen Union, hat dabei
aber die eigenen Vorteile im Blick. Denn es geht ihm nicht nur um Begrenzung
der Lasten für die eigenen Sozialsysteme durch Zuwanderer bzw. Flüchtlinge, um
Begrenzung der Bürokratie in und des Einflusses von Brüssel sowie um mehr
Transparenz. Es geht ihm ebenso darum, Ausnahmen von den europäischen Finanzmarktregeln
für britische Banken und Finanzmarktakteure durchzusetzen sowie der britischen
Regierung ein Veto-Recht zu sichern bei Fragen, die die Euro-Zone betreffen,
der die Briten gar nicht angehören. (1) (2)
Cameron pokert mit einem schlechten Blatt in der Hand
Bedenkt man, wie stark Großbritanniens
Wirtschaft in den vergangenen Dekaden deindustrialisierte und wie sehr sie deswegen
heute vom Dienstleistungssektor sowie insbesondere von der Finanzindustrie
abhängig ist, dann ist schwer vorstellbar, dass das Land ohne Einbindung in die
Europäische Union wirtschaftlich besser dastehen könnte.
Nach den jüngsten Daten der britischen
Statistikbehörde „Office for National Statistics“ (ONS) wuchs die britische
Wirtschaft im vierten Quartal 2015 um 0,5 Prozent und zwar nur deswegen, weil der
Dienstleistungssektor, der mit einem Anteil von gut 78 Prozent an der
Wertschöpfung gewichtet wird, im Schlussquartal 0,52 Prozent gewachsen ist
(siehe Abbildung 1).
Abbildung 1: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Industrie und Bauwirtschaft, die bei der Berechnung
des Wirtschaftswachstums mit 14,9 Prozent bzw. 5,9 Prozent gewichtet werden,
schrumpften hingegen leicht (-0,03 bzw. -0,01 Prozent), während der Agrarsektor
(mit 0,7 Prozent gewichtet) unverändert geblieben ist. (3)
Das ist keine Ausnahme gewesen. Das
britische Wirtschaftswachstum wird, wie Abbildung
2 veranschaulicht, seit der Finanzmarktkrise sogar zunehmend vom
Dienstleistungssektor getragen. Dabei sind die Finanzdienstleistungen ein
großer Posten. Im Jahr 2015 standen sie für 22,3 Prozent aller britischen
Dienstleistungsexporte. (4)
Abbildung 2: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Die Interessen der Londoner City, dem
Finanzzentrum Großbritanniens innerhalb von London, müssen David Cameron bei
den Verhandlungen mit der EU vor diesem Hintergrund selbstverständlich sehr wichtig
sein. Doch die schwache industrielle und Agrar-Basis Großbritanniens zeigen
eben auch an, dass das Land für seine Versorgung mit Gütern in hohem Maße von
Importen abhängig ist. Das zeigt ein Blick auf die Handelsbilanz des Landes (Abbildung 3).
Abbildung 3: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Während die britische Handelsbilanz bei Dienstleistungen
seit Jahren klar positiv ist, ist sie für Güter umgekehrt seit Jahren negativ.
Mehr noch kann der Export von Dienstleistungen die starke Importabhängigkeit
bei Gütern nicht ausgleichen, so dass die britische Handelsbilanz insgesamt
seit Jahren beständig negativ ist (blaue Linie in Abbildung 3).
Mehr noch ist die Abhängigkeit speziell
von Güterimporten aus EU-Ländern besonders hoch und insgesamt sogar steigend, wie
Abbildung 4 verdeutlicht, in der die
britische Handelsbilanz für Güter differenziert nach dem Warenhandel mit
EU-Staaten und Nicht-EU-Staaten dargestellt ist.
Abbildung 4: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
Das ist von Bedeutung im Zusammenhang mit
den Verhandlungen Großbritanniens über den Verbleib in der EU. Denn ein Brexit und
damit ein Verlassen des gemeinsamen Binnenmarktes würden bedeuten, dass der Handel
mit EU-Ländern erschwert würde, der Import von Gütern ebenso wie der Export von
Dienstleistungen.
Der Brexit wäre für Großbritannien wirtschaftlich viel riskanter als für die EU
Auch wenn sich das nicht ohne weiteres exakt
berechnen lässt, würde der Brexit einerseits zwar auch die EU treffen und zwar
vor allem jene EU-Staaten, die besonders intensiven Handel mit Großbritannien betreiben,
speziell Deutschland (siehe Abbildung 5).
Doch vor dem Hintergrund der dargelegten schiefen Wirtschaftsstruktur Großbritanniens
– starke Abhängigkeit von Güterimporten bei gleichzeitig starker Abhängigkeit
der Wirtschaftsleistung von Dienstleistungsexporten, insbesondere auch
Finanzdienstleistungen – wären die Briten ohne die EU wirtschaftlich voraussichtlich
schlechter dran als die EU insgesamt ohne die Briten. Denn mehr als 46 Prozent
der britischen Exporte, d.h. vor allem Dienstleistungen, gehen in die EU und
mehr als 50 Prozent der Importe des Vereinigten Königreichs, d.h. vor allem
Güter, kommen von dorther, wie die offiziellen Zahlen für 2015 (siehe Abbildung
5) verdeutlichen.
Abbildung 5: Zum Vergrößern bitte Abbildung anklicken!
So betrachtet kann man durchaus zu der
Auffassung gelangen, dass der britische Premier bei den Verhandlungen in
Brüssel mit einem schlechten Blatt in der Hand um eine Verbesserung der
Position Großbritanniens innerhalb der EU und des Euro-Raumes pokert und zwar politisch
wie wirtschaftlich. Das gilt umso mehr angesichts der verstärkten Turbulenzen
und der Abwärtsbewegung an den Finanzmärkten seit Jahresbeginn. Denn sollte
sich die Lage auf den Finanzmärkten verschlechtern oder es sogar zu einer neuen
Finanzkrise kommen, wäre Großbritannien wirtschaftlich in großen Schwierigkeiten,
erst recht wenn es sich zuvor von der EU gelöst hat.
Zugeständnisse hin oder her – die Haltung Britanniens zum Kontinent wird sich nicht ändern
Wer jedoch ganz abgesehen von den
wirtschaftlichen Implikationen ernsthaft annimmt, dass sich die traditionell
skeptische Haltung Großbritanniens zur EU verändert, wenn dem Land neue
Zugeständnisse gemacht werden, der macht sich Illusionen. Den Briten geht es politisch
nicht anders als den US-Amerikanern um politische und vor allem wirtschaftliche
Vorteile. Was David Cameron jetzt in Brüssel versucht, lässt sich deswegen weniger
mit echtem Reforminteresse erklären, sondern viel eher mit der Bezeichnung „Rosinenpicken“
beschreiben. Das ist nicht neu, sondern hat in Großbritannien im Verhältnis zur
EU Tradition. Er nimmt sich das von der EU, was er gut gebrauchen kann und
reduziert die Belastungen Großbritanniens durch Europa.
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