Montag, 29. Oktober 2012

Chinas politische Elite vor bedeutendem Führungswechsel: problembeladen, skandalgeschüttelt und tief gespalten

Alle zehn Jahre kommt es zu einer umfassenden Neubesetzung in der Führungsspitze der Kommunistischen Partei Chinas. Am 8. November beginnt der 18. Parteikongress, an dessen Ende sich die Partei auf die Mitglieder der neuen politischen Führungsspitze Chinas geeinigt haben wird.

„Die Führungsspitze“, das ist in erster Linie der aus bisher neun Mitgliedern – darunter Präsident Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao – bestehende „Ständige Ausschuss“ (Standing Committee) des insgesamt aus 25 Mitgliedern zusammengesetzten wichtigsten Lenkungsorgans, dem Politbüro. Dazu gehört aber auch die aus annähernd 350 Parteimitgliedern und führenden Beamten bestehende Zentralkommission. Auch dort werden zahlreiche Posten neu besetzt.
Doch seit im Februar dieses Jahres eine ebenso Aufsehen erregende wie undurchschaubare Affäre begann, bei der es unter anderem um Korruption, Bereicherung, Machtmissbrauch und den vertuschten Mord an einem Briten geht und in deren Mittelpunkt mehr und mehr ein Politbüro-Mitglied und zugleich einer der aussichtsreichen Anwärter auf einen der neun Posten im „Ständigen Ausschuss“, dem eigentlichen Machtzentrum der Partei und damit Chinas, rückte, ist in der Partei nichts mehr so wie es einmal war. (1)
Es geht um Bo Xilai (63), der damals Parteichef der Millionenmetropole Chongqing war, aber bereits im März dieses Amtes und kurze Zeit später auch aller anderen Parteiämter enthoben wurde. Inzwischen wurde er auch aus der Partei ausgeschlossen und wird sich in Kürze in einem juristischen Verfahren zu verantworten haben. Vor ein paar Wochen war bereits seine Frau Gu Kailai in einem Prozess des Mordes an dem Briten Neil Heywood für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Die Exekution der Todesstrafe wurde allerdings für zwei Jahre ausgesetzt und könnte danach in eine langjährige Haftstrafe umgewandelt werden. (2) Doch es gibt Ungereimt-heiten in der Urteilsbegründung, die bei Beobachtern Fragen danach haben aufkommen lassen, ob sich der Mord so zugetragen hat und die Schuldfrage wirklich eindeutig aufgeklärt ist. Bo Xilai soll seine Macht missbraucht haben, um – unter anderem – den Mord an dem Briten zu vertuschen. Im Zuge der Untersuchungen wurden weitere Vergehen festgestellt, von Korruption bis hin zu „unangemessenen sexuellen Beziehungen zu mehreren Frauen“. Voraussichtlich werden nicht alle zur Anklage gebracht. Die Partei wollte den Fall Bo Xilais jedoch als Beispiel für ihren erfolgreichen Kampf gegen die Korruption darstellen. (3)
Es hatte bisher geheißen, Bo Xilais´ Prozess könne noch vor dem Parteikongress beginnen. Doch das ist unwahrscheinlich geworden, seit die New York Times am Donnerstag einen umfassend recherchierten Artikel über das versteckte Vermögen der Familie des chinesischen Premiers Wen Jiabao veröffentlichte, das diese in seiner Amtszeit angehäuft haben soll. (4) Wen Jiabao, der aus einfachen Verhältnissen stammt und sich immer als bescheidener Mann des Volkes gerierte, steht aktuell selbst am Pranger. Auf etwa 2,7 Milliarden Dollar, so schätzt die New York Times, hat die Familie von Wen Jiabao ihr Vermögen in dessen Amtszeit gesteigert. Das Vermögen der Familie von Bo Xilai wird dagegen „nur“ auf mindestens 136 Millionen Dollar geschätzt. (5) Es ist schwer vorstellbar, dass das Führungsduo Hu Jintao und Wen Jiabao den Fall des vor angeklagten Bo Xilai jetzt noch nutzen kann, um der chinesischen Bevölkerung zu demonstrieren, die Partei gehe auch gegen korrupte führende Kader entschlossen und hart vor. Hinzu kommt: Auch die Familie von Xi Jinping, dem voraussichtlichen Nachfolger Hu Jintaos im Amt des Präsidenten, konnte im Zuge von dessen politischem Aufstieg ein Vermögen aufbauen, das gemäß detaillierter Recherchen von Bloomberg auf deutlich mehr als doppelt so groß wie das der Familie von Bo Xilai geschätzt wird. (6)
Das lässt sich alles nicht so einfach gegeneinander aufrechnen und inwieweit diese Zahlen als gesichert gelten können und zudem auf Korruption und Vetternwirtschaft zurückzuführen sind, ist fraglich. Aber wie sehr Korruption und Nutzung des politischen Amts für Bereicherung die Kommunistische Partei von der Spitze bis in die tieferen Hierarchieebenen durchziehen, zeigt einmal die Tatsache, dass Chinas Internetuser mittlerweile gezielt auf korrupte Politiker Jagd machen. (7) Mehr noch zeigen dies aber Fakten bezüglich des Umfangs illegaler Kapital-abflüsse aus China als Ausfluss von Verbrechen, Korruption und Steuerflucht.
Gemäß einer aktuellen Studie sind zwischen 2000 und 2011 insgesamt 3,79 Billionen Dollar an Kapital illegal aus China abgeflossen – ein außergewöhnlich hoher Wert, der gemäß der Autoren der Studie auch ernsthafte Fragen hinsichtlich der Stabilität der chinesischen Volkswirtschaft aufwirft. Während sich die illegalen Kapitalabflüsse im Jahr 2000 auf 172,6 Milliarden Dollar summierten, waren es im Jahr 2011 602,9 Milliarden Dollar. Das Problem illegaler Kapitalabflüsse aus China hat sich eindeutig verschärft. (8)
Die Wut in der chinesischen Bevölkerung auf korrupte Parteipolitiker ist vor dem Hintergrund der auch in China tobenden Debatte um die zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit groß. (9) (10) Korruption und wachsende Ungleichheit – das ist ein explosives Gemisch. Mit dem Bericht über das Vermögen der Familie von Chinas Premier droht es – trotz sofortiger Sperrung der Zugänge zu allen damit zusammenhängenden Berichten durch die chinesische Zensur – für die Kommunistische Partei noch explosiver zu werden. Mit einer Verurteilung von Bo Xilai allein lässt sich dieses Problem der Partei nun wohl nicht mehr entschärfen.
Doch für die Partei geht es so unmittelbar vor dem Führungswechsel gar nicht so sehr um das Korruptions-problem.
Lange Zeit war der Fall Bo Xilai und seiner Frau Gu Kalai als ein außergewöhnlicher und für die chinesische Führung peinlicher Fall von Korruption und Machtmissbrauch dargestellt worden. Bo Xilai ist jedoch eine Galionsfigur des links-konservativen und in der Tradition von Mao Zedong stehenden Flügels der Kommunis-tischen Partei Chinas (KPC) und er wurde von Jiang Zemin (86), dem einflussreichen Vorgänger Hu Jintaos unterstützt. Er hätte einen der Posten im neuen Ständigen Ausschuss des Politbüros erhalten können. Er hatte gute Aussichten. Aufgrund seiner Verwicklung in den Mordfall, der zur Verurteilung seiner Frau führte und des gegen ihn laufenden Verfahrens, ist dies nicht mehr möglich. Hu Jintao (69) und Wen Jiabao stehen dagegen für Modernisierung und wirtschaftliche Öffnung Chinas und damit in der Tradition von Deng Xiaoping.
In den letzten Wochen hat sich nun immer deutlicher herauskristallisiert, dass die Parteigrößen entlang der Linien dieser beiden Lager tief zerstritten sind über den künftigen Kurs der Partei oder anders ausgedrückt über die künftige Zusammensetzung des Ständigen Ausschusses des Politbüros. (11) Der Parteikongress beginnt folglich im Zustand einer tief gespaltenen Partei, deren Flügel heftig um den Einfluss Links-Konservativer bzw. Moderni-sierer auf den politischen Kurs Chinas ringen.
Zwar haben sich Ex-Präsident Jiang Zemin, Präsident Hu Jintao und Xi Jinping auf eine Kandidatenliste und auf eine Verkleinerung des Ständigen Ausschusses von neun auf sieben Mitglieder verständigt. (12) Aber weil alte Parteikader ein Vetorecht besitzen und die Auseinandersetzung an Schärfe gewonnen hat – die Veröffentlichung zum Vermögen Wen Jiabao so kurz vor dem Parteikongress könnte in diesem Zusammenhang zu sehen sein –, kann sich die Zusammensetzung des Spitzengremiums selbst im Verlaufe des Parteikongresses noch ändern. (13) Es erscheint deswegen gegenwärtig lediglich sicher, dass Xi Jinping neuer Präsident und Li Keqiang sehr wahrscheinlich neuer Premierminister werden wird.
Ob die anderen Kandidaten auf der bekanntgewordenen Kompromiss-Liste,
  • Vize-Premier Wang Qishan (64) und
  • Zhang Gaoli (65), Parteichef in Tianjin (beides Finanzmarktrefromer),
  • der Chef des machtvollen Organisationsressorts der Partei, Li Yuanchao (61),
  • Zhang Dejiang (65), der die Parteiführung in Chongqing nach Bo Xilais´ Absetzung übernommen hat und
  • der gegenwärtige Propagandaminister Liu Yunshan (65), der auch für die Überwachung des Internets zuständig ist,
am Ende alle in das Spitzengremium einziehen, ist vor dem Hintergrund der Intensität des Machtkampfes fraglich.
Doch nicht nur die politische Führung steht vor einer Erneuerung. Auch die militärische Führung Chinas steht unmittelbar vor einer umfassenden Neubesetzung. Sieben der zehn Generäle in der „Zentralen Militärkommission“, dem obersten Führungsgremium der Volksbefreiungsarmee, werden in Pension gehen. Aber auch auf den nachgeordneten militärischen Führungsebenen werden zahlreiche wichtige Posten neu besetzt. (14) An der Spitze dieser Kommission steht gegenwärtig Chinas Präsident Hu Jintao. Er selbst strebt an, diese Position auch nach Abgabe des Präsidentenamtes an Xi Jinping zu behalten. Angesichts der Kontroverse bezüglich des künftigen Kurses der politischen Führung und der damit verbundenen Unwägbarkeiten ist noch nicht sicher, ob ihm dies – so wie seinem Vorgänger im Präsidentenamt, Jiang Zemin – auch wirklich gelingt. Viele der alten Garde in der Volksbefreiungsarmee gelten zudem als loyal zu Jiang Zemin. (15) Es erscheint deswegen realis-tisch davon auszugehen, dass das Ringen der Modernisierer um Hu Jintao und Wen Jiabao mit den Links-konservativen um Jiang Zemin auch die künftige militärische Führung Chinas betrifft.
China wird so oder so weiterhin auf wirtschaftliche und militärische Stärke setzen. Unter dem Strich bleibt allerdings festzustellen, dass das Land angesichts der sozialen Spannungen und des zunehmend schwierigeren wirtschaftlichen Fahrwassers gerade jetzt vor enormen Herausforderungen und langfristig bedeutsamen Weichenstellungen steht, aber politisch nach innen, nicht so sehr nach außen, ein Bild tiefer Zerrissenheit und Unsicherheit über den künftigen Kurs des Landes bietet.
Der 18. Parteikongress, der am 8. November beginnt, ist deswegen ein eminent wichtiges Ereignis – auch wenn er in den Medien angesichts der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahl kaum Beachtung erfährt. Die Politik der USA steht unter dem Einfluss von erdrückenden Sachzwängen und – wie in allen westlichen Industriestaaten, nur vielleicht stärker – von Lobbyisten. Sie wird sich nicht ändern, egal wie der neue Präsident heißt. Das politische Patt wird aller Voraussicht nach bestehen bleiben. In China geht es um mehr. Die personellen Entscheidungen betreffen dort weite Kreise der politischen und militärischen Führung und werden sich im künftigen Kurs Chinas niederschlagen.

2 Kommentare:

  1. Hallo Stefan, schau Dir mal genau die Überschrift an...(beutender Führungswechsel wäre angesichts des Inhalts des Aufsatzes bei Absicht eine fast kongeniale Wortschöpfung, ist aber vermutlich eher ein Versehen, oder?...)

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    1. Ja, das stimmt. Es ist ein Flüchtigkeitsfehler. Danke.

      Grüße
      SLE

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