„Die Führungsspitze“, das ist in erster
Linie der aus bisher neun Mitgliedern – darunter Präsident Hu Jintao und
Premierminister Wen Jiabao – bestehende „Ständige Ausschuss“ (Standing
Committee) des insgesamt aus 25 Mitgliedern zusammengesetzten wichtigsten
Lenkungsorgans, dem Politbüro. Dazu gehört aber auch die aus annähernd 350
Parteimitgliedern und führenden Beamten bestehende Zentralkommission. Auch dort
werden zahlreiche Posten neu besetzt.
Doch seit im Februar dieses Jahres eine
ebenso Aufsehen erregende wie undurchschaubare Affäre begann, bei der es unter
anderem um Korruption, Bereicherung, Machtmissbrauch und den vertuschten Mord
an einem Briten geht und in deren Mittelpunkt mehr und mehr ein Politbüro-Mitglied
und zugleich einer der aussichtsreichen Anwärter auf einen der neun Posten im
„Ständigen Ausschuss“, dem eigentlichen Machtzentrum der Partei und damit
Chinas, rückte, ist in der Partei nichts mehr so wie es einmal war. (1)
Es geht um Bo Xilai (63), der damals
Parteichef der Millionenmetropole Chongqing war, aber bereits im März dieses
Amtes und kurze Zeit später auch aller anderen Parteiämter enthoben wurde.
Inzwischen wurde er auch aus der Partei ausgeschlossen und wird sich in Kürze in
einem juristischen Verfahren zu verantworten haben. Vor ein paar Wochen war
bereits seine Frau Gu Kailai in einem Prozess des Mordes an dem Briten Neil
Heywood für schuldig befunden und zum Tode verurteilt worden. Die Exekution der
Todesstrafe wurde allerdings für zwei Jahre ausgesetzt und könnte danach in
eine langjährige Haftstrafe umgewandelt werden. (2) Doch es gibt Ungereimt-heiten
in der Urteilsbegründung, die bei Beobachtern Fragen danach haben aufkommen
lassen, ob sich der Mord so zugetragen hat und die Schuldfrage wirklich
eindeutig aufgeklärt ist. Bo Xilai soll seine Macht missbraucht haben, um –
unter anderem – den Mord an dem Briten zu vertuschen. Im Zuge der
Untersuchungen wurden weitere Vergehen festgestellt, von Korruption bis hin zu „unangemessenen
sexuellen Beziehungen zu mehreren Frauen“. Voraussichtlich werden nicht alle zur
Anklage gebracht. Die Partei wollte den Fall Bo Xilais jedoch als Beispiel für
ihren erfolgreichen Kampf gegen die Korruption darstellen. (3)
Es hatte bisher geheißen, Bo Xilais´
Prozess könne noch vor dem Parteikongress beginnen. Doch das ist
unwahrscheinlich geworden, seit die New York Times am Donnerstag einen
umfassend recherchierten Artikel über das versteckte Vermögen der Familie des
chinesischen Premiers Wen Jiabao veröffentlichte, das diese in seiner Amtszeit
angehäuft haben soll. (4) Wen Jiabao, der aus einfachen Verhältnissen stammt und
sich immer als bescheidener Mann des Volkes gerierte, steht aktuell selbst am
Pranger. Auf etwa 2,7 Milliarden Dollar, so schätzt die New York Times, hat die
Familie von Wen Jiabao ihr Vermögen in dessen Amtszeit gesteigert. Das Vermögen
der Familie von Bo Xilai wird dagegen „nur“ auf mindestens 136 Millionen Dollar
geschätzt. (5) Es ist schwer vorstellbar, dass das Führungsduo Hu Jintao und
Wen Jiabao den Fall des vor angeklagten Bo Xilai jetzt noch nutzen kann, um der
chinesischen Bevölkerung zu demonstrieren, die Partei gehe auch gegen korrupte führende
Kader entschlossen und hart vor. Hinzu kommt: Auch die Familie von Xi Jinping,
dem voraussichtlichen Nachfolger Hu Jintaos im Amt des Präsidenten, konnte im
Zuge von dessen politischem Aufstieg ein Vermögen aufbauen, das gemäß
detaillierter Recherchen von Bloomberg auf deutlich mehr als doppelt so groß
wie das der Familie von Bo Xilai geschätzt wird. (6)
Das lässt sich alles nicht so einfach
gegeneinander aufrechnen und inwieweit diese Zahlen als gesichert gelten können
und zudem auf Korruption und Vetternwirtschaft zurückzuführen sind, ist
fraglich. Aber wie sehr Korruption und Nutzung des politischen Amts für Bereicherung
die Kommunistische Partei von der Spitze bis in die tieferen Hierarchieebenen
durchziehen, zeigt einmal die Tatsache, dass Chinas Internetuser mittlerweile
gezielt auf korrupte Politiker Jagd machen. (7) Mehr noch zeigen dies aber
Fakten bezüglich des Umfangs illegaler Kapital-abflüsse aus China als Ausfluss
von Verbrechen, Korruption und Steuerflucht.
Gemäß einer aktuellen Studie sind zwischen
2000 und 2011 insgesamt 3,79 Billionen Dollar an Kapital illegal aus China
abgeflossen – ein außergewöhnlich hoher Wert, der gemäß der Autoren der Studie auch
ernsthafte Fragen hinsichtlich der Stabilität der chinesischen Volkswirtschaft
aufwirft. Während sich die illegalen Kapitalabflüsse im Jahr 2000 auf 172,6
Milliarden Dollar summierten, waren es im Jahr 2011 602,9 Milliarden Dollar. Das
Problem illegaler Kapitalabflüsse aus China hat sich eindeutig verschärft. (8)
Die Wut in der chinesischen Bevölkerung
auf korrupte Parteipolitiker ist vor dem Hintergrund der auch in China tobenden
Debatte um die zunehmende Einkommens- und Vermögensungleichheit groß. (9) (10)
Korruption und wachsende Ungleichheit – das ist ein explosives Gemisch. Mit dem
Bericht über das Vermögen der Familie von Chinas Premier droht es – trotz
sofortiger Sperrung der Zugänge zu allen damit zusammenhängenden Berichten
durch die chinesische Zensur – für die Kommunistische Partei noch explosiver zu
werden. Mit einer Verurteilung von Bo Xilai allein lässt sich dieses Problem
der Partei nun wohl nicht mehr entschärfen.
Doch für die Partei geht es so unmittelbar
vor dem Führungswechsel gar nicht so sehr um das Korruptions-problem.
Lange Zeit war der Fall Bo Xilai und
seiner Frau Gu Kalai als ein außergewöhnlicher und für die chinesische Führung
peinlicher Fall von Korruption und Machtmissbrauch dargestellt worden. Bo Xilai
ist jedoch eine Galionsfigur des links-konservativen und in der Tradition von
Mao Zedong stehenden Flügels der Kommunis-tischen Partei Chinas (KPC) und er wurde
von Jiang Zemin (86), dem einflussreichen Vorgänger Hu Jintaos unterstützt. Er
hätte einen der Posten im neuen Ständigen Ausschuss des Politbüros erhalten
können. Er hatte gute Aussichten. Aufgrund seiner Verwicklung in den Mordfall,
der zur Verurteilung seiner Frau führte und des gegen ihn laufenden Verfahrens,
ist dies nicht mehr möglich. Hu Jintao (69) und Wen Jiabao stehen dagegen für Modernisierung
und wirtschaftliche Öffnung Chinas und damit in der Tradition von Deng
Xiaoping.
In den letzten Wochen hat sich nun immer
deutlicher herauskristallisiert, dass die Parteigrößen entlang der Linien
dieser beiden Lager tief zerstritten sind über den künftigen Kurs der Partei
oder anders ausgedrückt über die künftige Zusammensetzung des Ständigen
Ausschusses des Politbüros. (11) Der Parteikongress beginnt folglich im Zustand
einer tief gespaltenen Partei, deren Flügel heftig um den Einfluss
Links-Konservativer bzw. Moderni-sierer auf den politischen Kurs Chinas ringen.
Zwar haben sich Ex-Präsident Jiang Zemin,
Präsident Hu Jintao und Xi Jinping auf eine Kandidatenliste und auf eine
Verkleinerung des Ständigen Ausschusses von neun auf sieben Mitglieder
verständigt. (12) Aber weil alte Parteikader ein Vetorecht besitzen und die
Auseinandersetzung an Schärfe gewonnen hat – die Veröffentlichung zum Vermögen
Wen Jiabao so kurz vor dem Parteikongress könnte in diesem Zusammenhang zu
sehen sein –, kann sich die Zusammensetzung des Spitzengremiums selbst im Verlaufe
des Parteikongresses noch ändern. (13) Es erscheint deswegen gegenwärtig
lediglich sicher, dass Xi Jinping neuer Präsident und Li Keqiang sehr
wahrscheinlich neuer Premierminister werden wird.
Ob die anderen Kandidaten auf der bekanntgewordenen
Kompromiss-Liste,
- Vize-Premier Wang Qishan (64) und
- Zhang Gaoli (65), Parteichef in Tianjin (beides Finanzmarktrefromer),
- der Chef des machtvollen Organisationsressorts der Partei, Li Yuanchao (61),
- Zhang Dejiang (65), der die Parteiführung in Chongqing nach Bo Xilais´ Absetzung übernommen hat und
- der gegenwärtige Propagandaminister Liu Yunshan (65), der auch für die Überwachung des Internets zuständig ist,
am Ende alle in das Spitzengremium
einziehen, ist vor dem Hintergrund der Intensität des Machtkampfes fraglich.
Doch nicht nur die politische Führung
steht vor einer Erneuerung. Auch die militärische Führung Chinas steht
unmittelbar vor einer umfassenden Neubesetzung. Sieben der zehn Generäle in der
„Zentralen Militärkommission“, dem obersten Führungsgremium der
Volksbefreiungsarmee, werden in Pension gehen. Aber auch auf den nachgeordneten
militärischen Führungsebenen werden zahlreiche wichtige Posten neu besetzt. (14)
An der Spitze dieser Kommission steht gegenwärtig Chinas Präsident Hu Jintao. Er
selbst strebt an, diese Position auch nach Abgabe des Präsidentenamtes an Xi
Jinping zu behalten. Angesichts der Kontroverse bezüglich des künftigen Kurses
der politischen Führung und der damit verbundenen Unwägbarkeiten ist noch nicht
sicher, ob ihm dies – so wie seinem Vorgänger im Präsidentenamt, Jiang Zemin –
auch wirklich gelingt. Viele der alten Garde in der Volksbefreiungsarmee gelten
zudem als loyal zu Jiang Zemin. (15) Es erscheint deswegen realis-tisch davon
auszugehen, dass das Ringen der Modernisierer um Hu Jintao und Wen Jiabao mit
den Links-konservativen um Jiang Zemin auch die künftige militärische Führung
Chinas betrifft.
China wird so oder so weiterhin auf
wirtschaftliche und militärische Stärke setzen. Unter dem Strich bleibt allerdings
festzustellen, dass das Land angesichts der sozialen Spannungen und des
zunehmend schwierigeren wirtschaftlichen Fahrwassers gerade jetzt vor enormen
Herausforderungen und langfristig bedeutsamen Weichenstellungen steht, aber politisch
nach innen, nicht so sehr nach außen, ein Bild tiefer Zerrissenheit und
Unsicherheit über den künftigen Kurs des Landes bietet.
Der 18. Parteikongress, der am
8. November beginnt, ist deswegen ein eminent wichtiges Ereignis – auch
wenn er in den Medien angesichts der bevorstehenden US-Präsidentschaftswahl kaum
Beachtung erfährt. Die Politik der USA steht unter dem Einfluss von
erdrückenden Sachzwängen und – wie in allen westlichen Industriestaaten, nur
vielleicht stärker – von Lobbyisten. Sie wird sich nicht ändern, egal wie der
neue Präsident heißt. Das politische Patt wird aller Voraussicht nach bestehen
bleiben. In China geht es um mehr. Die personellen Entscheidungen betreffen
dort weite Kreise der politischen und militärischen Führung und werden sich im
künftigen Kurs Chinas niederschlagen.
Hallo Stefan, schau Dir mal genau die Überschrift an...(beutender Führungswechsel wäre angesichts des Inhalts des Aufsatzes bei Absicht eine fast kongeniale Wortschöpfung, ist aber vermutlich eher ein Versehen, oder?...)
AntwortenLöschenJa, das stimmt. Es ist ein Flüchtigkeitsfehler. Danke.
LöschenGrüße
SLE