Die Mutigen sind nie in der Überzahl. Bei
der Mehrheit ist die Angst, etwas zu verlieren, immer stärker als die Hoffnung,
etwas zu gewinnen. Existenz- und Verlustangst sind unschlagbar. Nur in einer
wirklich verzweifelten Lage ist es anders. Denn in solchen Fällen gibt es keine
Wahl mehr. Den mutigen Schritt zu wagen, Ungewissheit in Kauf zu nehmen, das ist
dann zu einer Überlebensfrage geworden.
55 Prozent der Schotten für Verbleib im Vereinigten Königreich
Das Ergebnis des schottischen
Unabhängigkeitsreferendums ist klar ausgefallen: 2.001.926 Schotten stimmten
für den Verbleib im Vereinigten Königreich. Das sind 55,3 Prozent der Stimmen.
Das „Ja“-Lager bekam 1.617.989 Stimmen beziehungsweise 44,7 Prozent der
Stimmen. (1)
Damit ist das Abstimmungsergebnis
deutlicher ausgefallen, als alle Meinungsumfragen bis kurz vor der Wahl
vermuten ließen. Die hatten zwar alle das „Nein“-Lager vorne gesehen, überwiegend
aber nur einen sehr knappen Vorsprung von zwei bis vier Prozentpunkten
prognostiziert. (2)
Hohe Wahlbeteiligung, hohe Aufmerksamkeit über die Grenzen hinaus
Die Wahlbeteiligung war hoch. Sie lag bei 84,59
Prozent. (3) Ohne Zweifel hat die Frage der Unabhängigkeit den Nerv der Bevölkerung
Schottlands getroffen. Offensichtlich kaum jemanden in Schottland hat diese Frage
kalt gelassen.
In Zeiten allgemein sinkender
Wahlbeteiligung ist das absolut bemerkenswert. Die Deutschen werden sich vielleicht
an die jüngsten Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen erinnern, bei denen
nur knapp 47,9 Prozent bzw. 52,7 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme
abgaben. Oder an die Europawahl Ende Mai, bei der die Wahlbeteiligung gerade
einmal bei 42,5 Prozent gelegen hat.
Mehr noch hatte in den letzten beiden
Wochen ganz Großbritannien nichts so sehr beschäftigt wie das Unabhängigkeitsreferendum
der Schotten. Beides, die hohe Wahlbeteiligung und die hohe Aufmerksamkeit
außerhalb Schottlands und auch weltweit, ist unbestreitbar ein großer Erfolg
für die Schottische Unabhängig-keitspartei (SNP) von Alex Salmond, die das
Referendum initiierte. Die hat das Referendum zwar verloren, aber für
Schottland und auch für Wales und Nordirland die Türen für mehr Unabhängigkeit
von London geöffnet. Denn eine größere Unabhängigkeit hatte der britische
Premier David Cameron vor dem Referendum für ein „Nein“ versprochen.
David Cameron hat Glück gehabt – vorerst
David Cameron hat unzweifelhaft einen
schweren Stand als Premier in einem in wichtigen Fragen wie der Unabhängigkeit
und dem Verbleib in der Europäischen Union von divergierenden Interessen geprägten
Großbri-tannien. Hinzu kommt, dass auch der austeritätspolitische Kurs seiner
Regierungskoalition sehr umstritten ist. All das ist der Grund für desaströse
Ergebnisse der Regierungsparteien bei den Europawahlen und bei den Kommu-nalwahlen
in Großbritannien.
Aber auch in der EU hat er einen schweren
Stand, war in zentralen Fragen bisher bereits einige Male nahezu isoliert, etwa
in der Frage der Regulierung des Finanzsektors und der der Besetzung des
Postens des Präsi-denten der Europäischen Kommission.
Cameron kann es in dieser Lage in
Großbritannien nicht allen recht machen. Das ist unmöglich. Es ist schon schwer
zu entscheiden, womit Großbritannien überhaupt am meisten gedient und was für
das Land wirklich richtig ist. Aber, das muss man anerkennen, er versucht es
tapfer.
Cameron hat mit der Zulassung des
Unabhängigkeitsreferendums seine politische Karriere aufs Spiel gesetzt oder
besser gesagt hat er sie in die Hände der Schotten gelegt. Das war entweder
sehr mutig, überheblich oder einfach leichtfertig. Doch was es auch war, das
ihn geritten hat, das Referendum zuzulassen, er hat Glück gehabt.
Der britische Premier hat seinen Kopf gerettet
– vorläufig. Er kann und wird nun vor allem den Gegnern in seiner eigenen
Partei sagen, sein Instinkt, sein Vertrauen in die Bevölkerung sei richtig
gewesen. Doch der Preis dafür ist eine relative Schwächung der Regierung in
London gegenüber Schottland, Wales und Nordirland, die nun mehr Unabhängigkeit von
London fordern und auch bekommen werden.
Das Trojanische Pferd, das Cameron den Tories beschert hat
Es mag sogar sein, dass das der richtige und
für Großbritannien zukunftsweisende Weg ist. Gleichwohl wird Cameron sich mit
der vorwurfsvollen Frage konfrontiert sehen, ob der Verlust an Macht das wirklich
wert ist. Mehr noch hat Cameron mit diesem Ausgang des Referendums und mit seinem
Versprechen für mehr Unabhängigkeit in den Augen seiner parteiinternen,
europakritischen Gegner ein Trojanisches Pferd in Westminister einziehen lassen.
Denn die Schotten sind Europa-Befürworter. Sie wollen in der EU bleiben und es dürfte
für Cameron nunmehr unmöglich sein, die Interessen jener zu vertreten und zu
unterstützen, die für einen EU-Austritt sind.
Das könnte folglich sehr bald neues böses
Blut geben, bei den Tories. Zwar dürfte es die in den letzten Wahlen schwer
gebeutelten und in den Umfragen abgestürzten Liberaldemokraten, die mit in
Camerons Regierungsboot sitzen und die Europa-Befürworter sind, erleichtern,
wenn Cameron die Europakritiker in der eigenen Partei knebelt. Andererseits ist
genau das Wasser auf die europakritische Unabhängigkeitspartei (Ukip) von Nigel
Farage. Europakritische Wähler der britischen Konservativen, werden nun
vielleicht vermehrt von der Fahne gehen, was mit Blick auf die Parlamentswahlen
im Frühjahr 2016 nichts Gutes bedeutet für Tories. Der Preis für den Verbleib
Schottlands im Vereinigten Königreich, den Cameron zahlen muss, könnte die Abwahl
der Konservativen im nächsten Frühjahr sein.
Bilanz des Referendums: Gewinner und Verlierer
Cameron könnte deswegen mit Blick auf das
Unabhängigkeitsstreben Schottlands und die Zukunft Großbri-tanniens das Richtige
getan haben und dafür am Ende politisch dennoch unter die Räder kommen.
Schottlands Unabhängigkeitsbefürworter
haben das Referendum verloren und dennoch sehr viel gewonnen. Denn die Schotten
haben gerade wegen der engagierten Debatte und der sehr hohen Wahlbeteiligung erheblich
an politischem Standing und an politischem Gewicht im Vereinigten Königreich gewonnen.
London kann es sich künftig nicht mehr erlauben, die Stimme Schottlands zu
ignorieren und über die Köpfe der Schotten hinweg zu regieren. Genau das ist es
wohl, worum es letztlich allen Schotten gegangen ist, Befürwortern wie Gegnern
der Unabhängigkeit. Früher oder später wird das auch den jetzt durch die
emotionale und engagiert ausgetragene Kontroverse erhitzten Gemütern in
Schottland bewusst werden.
Und Europa?
In Brüssel ist man erleichtert über den
Ausgang des Referendums, weil damit ein Austritt Großbritanniens aus der EU
wesentlich unwahrscheinlicher geworden ist. Ohne Schottland wäre der Austritt
der Briten besiegelt gewesen. Um die heikle Frage, wie Europa im Falle eines
unabhängigen Schottlands verfährt, ist Brüssel herum gekommen.
Andererseits werden sich andere, nach
Unabhängigkeit strebende Regionen in Europa durch das Referendum zwar nicht
ermutigt sehen. Gleichwohl werden sie die Verhandlungen Schottlands, Wales und
Nordirlands mit London über mehr Rechte genau verfolgen. Die Zugeständnisse,
die London seinen Regionen macht, werden für andere, nach Unabhängigkeit
strebende Regionen Europas die Messlatte für eigene Forderungen sein.
Der Druck der Regionen auf die Zentralregierungen
wird sich erhöhen. Dafür sorgen daneben auch die katastro-phalen Verluste vieler
großer Volksparteien bei den letzten Wahlen und die zunehmend erstarkende
Konkurrenz alternativer Parteien, zu denen auch die nach Unabhängigkeit
strebenden gehören.
Die Zentralregierungen in den
Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind so betrachtet mittelfristig ebenfalls
Verlierer des Referendums in Schottland. Dem Europäischen Parlament und der
Europäischen Kommission kann das nur recht sein. Sie stehen eindeutig auf der Gewinnerseite.
Die Nein-Wähler werden ihre Entscheidung sicherlich noch bereuen.
AntwortenLöschen"Die Mutigen sind nie in der Überzahl. Bei der Mehrheit ist die Angst, etwas zu verlieren, immer stärker als die Hoffnung, etwas zu gewinnen. Existenz- und Verlustangst sind unschlagbar. Nur in einer wirklich verzweifelten Lage ist es anders. Denn in solchen Fällen gibt es keine Wahl mehr. Den mutigen Schritt zu wagen, Ungewissheit in Kauf zu nehmen, das ist dann zu einer Überlebensfrage geworden."
AntwortenLöschenJau, so isses. Und so lange nicht explizit die Überlebensfrage gestellt wird bleiben die Merkels, Hollandes, Obamas - unn wie die Knechte des Kapitals alle heißen - an der Regierung.
Ein sehr wahrer Kommentar
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