Während alle Welt vornehmlich die europäische
und amerikanische Schuldenkrise als potenzielle Auslöser neuer Finanzmarkt- und
weltwirtschaftlicher Turbulenzen im Visier hat, geschieht durchaus Beunruhigendes
in China.
Einerseits hat China in den
zurückliegenden Monaten wiederholt seine militärische Erstarkung demonstriert (1)
(2) und zugleich tatkräftig sowohl die Abkopplung vom Dollar (Abkommen für
Handel in Landeswährung mit Japan (3), den BRIC-Staaten (4), Thailand (5)) als
auch den Aufbau des Renminbi zur Weltwährung vorangetrieben (Aufbau eines
liquiden Marktes für Yuan-Anleihen u. a. (6)). Auch vergibt China heute mehr Kredite
an Entwicklungsländer als die Weltbank. (7) Damit ist kaum mehr zu übersehen: China
strebt eine globale Führungsrolle an.
Andererseits gibt es zahlreiche Probleme
in China: vom Sorgenkind „Immobilienmarkt“ (8) über eine Kreditblase, die unkontrolliert
im Verborgenen wächst (9), die anhaltend hohe Inflation und den damit
verbundenen wachsenden sozialen Spannungen in den Regionen (10) bis hin zum Währungsstreit
mit den USA. Gerade deswegen ist der chinesischen Führung in den letzten
Monaten klar geworden, dass das bisherige, auf Export basierende Wachstumsmodell
für das Land kein Zukunftsmodell mehr sein kann.
Gleichwohl scheint noch nicht ausgemacht,
in welche Richtung China dabei gehen wird. Wird es sich künftig stärker auf die
Marktkräfte verlassen, sprich nach dem mittlerweile aus gutem Grund sehr umstrittenen
angel-sächsischem Muster liberalisieren? (11) (12) (13) Wird es ein neues,
eigenes und vielleicht sogar für den Westen richtungweisendes Wachstumsmodell verfolgen,
das die Schwächen des zuvor angesprochenen vermeidet und einen differenzierten Mix
aus Markt und Staat darstellt? Oder wird es eine stärkere Rückbesinnung auf traditionelle
Ansätze des kommunistischen Landes mit starken planwirtschaftlichen Elementen
geben? (14)
Zwischenzeitlich ist über diese Frage ein
anderes Problem in den Vordergrund gerückt. Denn jetzt gibt es offen-sichtlich eine
schwere Führungskrise in der Kommunistischen Partei (KP) des Landes. Sie wurde ausgelöst
durch den bisher aufstrebenden, inzwischen aber in Ungnade gefallenen und als
Parteichef der Metropole Chongqing abgesetzten chinesischen Politiker Bo Xilai (62).
Bo Xilai ist Sohn des legendären
Revolutionärs Bo Yibo, der einst zu den "acht Unsterblichen" der
kommunis-tischen Machtelite gehörte. Das macht ihn zu einem „Prinzling“ und
damit in der Tradition der chinesischen KP unantastbar. Söhne und Töchter von
Parteipatriarchen werden so genannt, weil sie dank ihrer Familienbande auf
wichtige Posten gelangen. Bo ging auf eine der prestigeträchtigsten Schulen des
Landes, auf die Beijing No. 4. (15) Er diente als Bürgermeister der nördlichen
Hafenstadt Dalian, war Parteichef der Industrieprovinz Liaoning, dann
Handelsminister in Peking. Zuletzt führte er die Metropole Chongqing am Yangtse
mit 32 Millionen Einwohnern, die er aus ihrer Rückständigkeit befreien sollte.
(16)
Bis vor kurzem wurden dem ambitionierten 62-Jährigen
Bo große Chancen eingeräumt, in den engsten Führungs-zirkel der Partei
einzuziehen: den ständigen Ausschuss des Politbüros, in dem die neun
mächtigsten Männer der Landes sitzen, darunter Präsident Hu Jintao. (17) Denn im
kommenden Herbst werden sieben Mitglieder des ständigen Ausschusses
ausgetauscht. (18)
Doch dann wendete sich das Blatt für Bo
Xilai infolge von Ereignissen in Chongqing.
Dort hatte sich Bo einen Namen als
unerbittlicher Kämpfer gegen Korruption gemacht. Seine rechte Hand war dabei
der örtliche Polizeichef und enge Vertraute Wang Lijun, der sich jedoch im
Februar ebenso überraschend wie spektakulär in das US-Konsulat in Chengdu
flüchtete, weil er angeblich um sein Leben fürchtete. Er war nach
Presseberichten zuvor vom Provinzpolitiker Huang Qifan mit einem ganzen Aufgebot
bewaffneter Polizei von Chongqing aus über dreihundert Kilometer quer durch die
Provinz Sichuan gejagt worden. Beide, Jäger und Gejagter, gehörten bis dahin zum
inneren Kreis um Bo Xilai. (19)
Nach einigen Stunden verließ Wang Lijun
das Konsulat - nach US-Angaben freiwillig. In Chonqing heißt es seitdem
offiziell, er sei wegen Burn-out krankgeschrieben. Im Internet kursieren viele
Gerüchte, aber über die wahren Hintergründe des Vorfalls ist offenbar so gut
wie nichts bekannt.
Tatsache ist, dass Bo Xilai nach dem
Skandal um den Polizeichef Lijun und Gerüchten über Korruptionsvorwürfe vom Zentralkomitee
der KP Mitte März – also nur einen Monat später - als KP-Chef von Chongqing
abgesetzt wurde. (20) Vor wenigen Tagen und nachdem unerwartet seine Ehefrau, Gu
Kailai, im Zusammenhang mit Mordermittlungen festgenommen worden war, wurde er auch
von allen anderen Ämtern der KP „suspendiert“. (21) Bei den Ermittlungen gegen
seine Frau geht es um den im November in Chonqing überraschend gestorbenen
Briten Neil Heywood (41), der in China freiberuflich für ein Beratungsunternehmen
tätig war und dem auch Kontakte zum britischen Geheimdienst nachgesagt wurden.
(22) Als Todesursache hatte die Polizei allerdings ursprünglich „Alkoholvergiftung“
angegeben und Heywoods Leiche war, wie berichtet wird, ohne Autopsie
eingeäschert worden. (23)
Auch wenn die Angelegenheit schier undurchschaubar
ist, wird sie in den Medien überwiegend als Ausdruck eines Machtkampfes innerhalb
der KP gewertet.
Zum einen dürfte das darauf zurückzuführen
sein, dass Premier Wen Jiabao und Bo Xilai als Repräsentanten unterschiedlicher
politischer Kurse gelten und mithin als Rivalen bezeichnet werden. Bo steht für
die harte, maoistische Linie und stellte den Kurs der "Öffnung und
Reform" in Frage, den der vorige Präsident Deng Xiaoping angestoßen hatte
und der den beispiellosen Wirtschaftsboom Chinas auslöste. Wen hingegen trieb
die "Öffnung und Reform" nicht nur voran, sondern setzt sich sogar
dafür ein, die Macht der Regierung zu begrenzen. (24)
Vor allem aber liegt es auch daran, dass es
jüngst Putschgerüchte gab und in diesem Zusammenhang die Internet-Zensur in
China verschärft worden ist:
Ab dem 30. März wurden zahlreiche Websites
gesperrt; im Kurznachrichtendienst „Weibo“ wurde die Kommen-tarfunktion vom
Anbieter „Sina“ für die ca. 300 Millionen Nutzer gesperrt, so dass keine
gebündelten Diskussionen mehr geführt werden können und zwar mit der
Begründung, "illegale Kommentare" und "wuchernde Gerüchte"
von den Seiten des Unternehmens zu entfernen. (25)
Am 10. April begann dann eine breit
angelegte Kampagne zur Bündelung der öffentlichen Meinung hinter Präsident Hu
Jintao. „Wir sollten uns nun um einen hohen Grad an ideologischer Einheit mit
dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei mit Hu als Generalsekretär
bemühen“, schrieb das Parteiblatt „Volkszeitung“ in einem Leitartikel. „Wir
müssen das Banner des chinesisch geprägten Sozialismus hochhalten!“ (26) Zugleich
bezeugte eine ganze Reihe hoher Politiker öffentlich ihre Loyalität zu Hu Jintao
und den höchsten Parteiorganen und ihre Ablehnung der Figur Bo Xilais. (27)
Die Parteikrise wie auch deren nur bruchstückhaftes
Bekanntwerden, das viele Widersprüchlichkeiten und offene Fragen hinterlässt,
zeigen gleichermaßen die Brisanz des weit über wirtschaftliche Aspekte
hinausgehenden Richtungsstreits und die Intransparenz der tatsächlichen Situation
in China. China war immer schon eine Blackbox und daran hat sich – allen
Maßnahmen der „Öffnung und Reform“ zum Trotz – offensichtlich nichts geändert. China
ist zu einem „Global Player“ mit Führungsanspruch herangewachsen, aber es
spielt nach seinen eigenen, alten Regeln und keinesfalls mit offenen Karten.
Diese Erkenntnis darf nicht unberücksichtigt
bleiben beim Versuch der Klärung der Frage, inwieweit China als ein Krisenherd für
die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft zu betrachten ist. Alle Antworten, die
wir aufgrund der Informations- und Datenlage darauf geben können, sind und
bleiben letztendlich sehr vage.
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