Montag, 17. April 2017

Erdogans Referendumssieg war nur noch ein formaler Akt – unumschränkter Machthaber der Türkei war er schon längst



Spielt es eine Rolle, ob beim Referendum 51,4 oder 50,7 Prozent der Stimmberechtigten für die von Präsident Erdogan angestrebte Verfassungsänderung stimmten? Glaubt irgendjemand, berechtigte und nachträglich erhobene Vorwürfe von Unregelmäßigkeiten und Manipulationen würden noch irgendetwas ändern in diesem Staat, den Erdogan seit Monaten per Ausnahmezustand regiert und in dem er Richter, Staatsanwälte, Journalisten, Beamte sowie Oppositionelle nach Belieben und zu Zehntausenden wegsperrt?
Nein, nach dieser Entwicklung hin zu einer Diktatur in der Türkei, die schon vor Jahren erkennbar geworden ist und durch den gescheiterten Putschversuch noch einmal massiv und rücksichtslos beschleunigt wurde (1), kann niemand mehr ernsthaft behaupten, das wäre alles gar nicht so schlimm und immer noch – natürlich mit Hilfe der Diplomatie – zu ändern. Gleichwohl kommen von der EU und aus Deutschland nach wie vor dieselben Beschwichtigungsformeln.
Es wurde zugelassen, dass Herr Erdogan die EU und die Bundesregierung für seinen Referendumswahlkampf instrumentalisierte, indem er sie fortlaufend beschimpfte, mit nicht haltbaren Vorwürfen überhäufte und dreist einforderte, diese (seine) Art von Wahlkampf in den Mitgliedstaaten der EU, nicht zuletzt in Deutschland, führen zu dürfen.
Kanzleramtsminister Peter Altmaier will sich nach der Verkündung von Erdogans Wahlsieg nicht festlegen. Man müsse das endgültige Ergebnis abwarten und die Berichte der Wahlbeobachter. (2) Doch wer glaubt, dass das noch irgendetwas ändert? Bundesaußenminister Sigmar Gabriel ruft dazu auf, kühlen Kopf zu bewahren und besonnen zu reagieren. (3) Doch das tut die Bundesregierung das nicht schon seit dem EU-Flüchtlingsdeal und dem Putschversuch in der Türkei? Hat es etwas geändert? Hat Herr Erdogan dies in irgendeiner Weise honoriert oder sich sogar davon beeinflussen lassen?
Der SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz wiederum twitterte in Reaktion auf den knappen Ausgang des Referendums trotzig, dies zeige, dass Erdogan nicht die Türkei sei. (4) Doch selbstverständlich ist er das. Für etwas anderes lässt er nachweislich überhaupt keinen Raum mehr, nicht für unliebsame Richter und Staatsanwälte, nicht für kritische Journalisten, Zeitungen und Oppositionelle, nicht für die Kurden im eigenen Land, gegen die er Krieg führt und ebenso wenig für jeden, den der als Anhänger seines politischen Erzfeindes Fetullah Gülen abstempelt. Amnesty International hat im Übrigen im Zusammenhang mit Erdogans „Säuberungswellen“ schon vor Monaten von „glaubwürdigen Hinweisen“ auf Folter und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gesprochen. (5)
Kann man vor diesem Hintergrund noch ernsthaft die Erwartung hegen, Erdogan würde nun Dialogbereitschaft erkennen lassen?
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundeaußenminister Sigmar Gabriel tun es. In einer gemeinsamen Erklärung nach dem Verfassungsreferendum in der Türkei hieß es, angesichts der tiefen Spaltung der türkischen Gesellschaft erwarte die Bundesregierung, dass die türkische Regierung „einen respektvollen Dialog mit allen politischen und gesellschaftlichen Kräften des Landes sucht“. (6)
Eigentlich weiß man angesichts dieser Erklärung nicht mehr so genau, ob man das Ausmaß an Geduld und Realitätsverleugnung, das aufgebracht wird, um „die Türen der Diplomatie“ weiter offen zu halten, bewundern oder ob es einen schlicht fassungslos machen soll.
Seit dem Putschversuch hat Präsident Erdogan sich daran gemacht, die Demokratie in der Türkei in großen Schritten und gründlich auszuradieren. Es bedarf deswegen eines großen Wohlwollens, um die Umstände, unter denen das Verfassungsreferendum in der Türkei abgehalten wurde, überhaupt noch als „demokratisch“ zu bezeichnen. Es spricht sehr viel mehr dafür, dass Herr Erdogan die Voraussetzungen für seine Alleinherrschaft schon vor dem Referendum weitestgehend geschaffen hat und die Abstimmung für ihn nur noch ein formaler Akt war, den es, um seiner Machtergreifung einen Anstrich von Legitimität zu geben, irgendwie hinter sich zu bringen galt. Hat irgendjemand ein anderes Resultat als ein „Ja“ erwartet? Und selbst wenn es ein knappes „Nein“ geworden wäre, hätte man erwarten können, dass das irgendetwas ändert, dass Erdogan aus Achtung vor diesem Ausweis der Demokratie zurückstecken würde?
Die Türkei ist unaufhaltsam auf dem Wege zu einer Diktatur. Das war die Realität lange vor dem Referendum und nun ist die Türe für eine Rückkehr zur Demokratie nachhaltig geschlossen worden. Denn, so kann und wird Herr Erdogan argumentieren, die Türken haben es so gewollt.
Vor diesem Hintergrund muss sich die EU ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, ob ihre Beschwichtigungspolitik überhaupt noch zu irgendetwas führen kann und ganz besonders auch, ob sie damit den vielen Türken, die die Demokratie erhalten wollen und sich nach Europa orientieren, hilft. Wovon lässt sich Erdogan beeindrucken, was kann ihn zum Einlenken, zu Zugeständnissen und vor allem zu Mäßigung gegenüber seinen Gegnern bringen?
Eins ist klar, mit ihrer bisherigen Vorgehensweise gegenüber Recep Tayyip Erdogan haben die Bundesregierung und die EU wenig bis nichts erreicht. (7) Und dass „Appeasement“-Politik bei machthungrigen, eine Diktatur anstrebenden Politikern nicht funktioniert, dafür gibt es in der Geschichte in Europa ein sehr prominentes Beispiel.

7 Kommentare:

  1. Sie haben völlig Recht, falls es der Bundesregierung um die Wahrung der Demokratie, dem Schutz von Minderheiten und die Erhaltung des Friedens ginge, dann hätte Sie schon vor Jahren mit Erdogan gebrochen.

    Ich fürchte abder weder die Union noch die SPD, werden die generelle Strategie gegenüber der Türkei verändern, denn die geopolitischen und "wirtschaftlichen" interessen bestimmen das Verhältnis zu Erdogan. In erster Linie stehen die großen Volksparteien geopolitisch dabei für eine Kontinuität der Bündnispolitik, das heisst für Nato und USA, ohne wenn und aber. Trump hat Erdogan zum Abstimmungsergebnis gratuliert. Viel mehr muss man vielleicht nicht wissen wenn man die Pläne der Regierungsparteien gegenüber Erdogan erraten will.

    Wie in Ägypten, Saudi Arabien (und anderswo) setzt Westen darauf, dass militärischer Faschismus den Unwägbarkeiten einer Demokratie vorzuziehen ist, wenn die alternative möglicherweise Islamismus oder (Gott bewahre) Sozialismus ist.

    Incirlik Air Base ist im Moment der wichtigste Natostützpunkt in der Region. Die Türkei ist auf Platz 8 der größten Abnehmer für deutsche Rüstungsgüter und auf Platz 14 der wichtigsten Handelspartner Deutschlands. 6 Millionen Flüchtlinge warten in der Türkei darauf von Erdogan in die EU entlassen zu werden. Egal wer Erdogan ablöst, diese "Interessen Deutschlands" stehen auf dem Spiel.

    Die Regierung wird also weiter alles tun was ihrer Meinung nach die transatlantischen Beziehungen und die Profite der Wirtschaft nicht gefährdet.

    Erdogan hätte sich daher keinen besseren Zeitpunkt für sein Referendum aussuchen können. Die Situation in Syrien, die angespannte Lage mit Russland, der wahnsinnige US Präsident, die Entwicklungen im Südchinesischen Meer ....

    Erdogan spielt aber ein gefährliches Spiel wenn er die USA, Europa und Russland gegeneinander ausspielt und Erpresst um seine regionalen Machtinteressen zu verfolgen. Die Situation kann für ihn sehr plötzlich kippen.

    Ich frage mich wie lange die anderen Nato Mitglieder sich Erdogans gebaren in Syrien noch gefallen lassen, wie lange Putin Erdogans Pläne in Syrien duldet, ob die USA bereit sind ihre Verbündeten in Rojava Erdogan in den Rachen zu werfen, wie lange der Erdogan-Hypernationalimus in der Türkei zu halten ist wenn die Wirtschaftskrise kommt und wie lange Erdogan noch lebt wenn er Trump und Putin zu sehr auf die Nerven gehen sollte.

    Deutschland könnte natürlich auch die Nato-Mitgliedschaft überdenken, die Bziehungen zu den USA und Russland neu strukturieren und eine eher neutrale Rolle einnehmen, die wirklich demokratischen Kräfte in der Türkei und Syrien unterstützen (HDP, PKK, Rojava), alle deutschen Truppen aus Incirlik abziehen, Waffenexporte in die Türkei stoppen, Erdogans Krieg gegen die Kurden als Völkermord ächten, für eine diplomatische Lösung des Syrien Konfliktes eintreten und Erdogan Isolieren.

    Unter den zur Wahl stehenden Parteien in DE traue ich dieses Gesamtpaket (und das ist nur als Paket zu haben) nur der Linken zu. Alle anderen werden brav weiter den (selbsternannten) Führer Erdogan mehr oder weniger unfreiwillig unterstützen.

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    1. Ach ja ich vergaß, ins Paket gehört natürlich noch: "Die 6 Millionen in der Türkei befindlichen Flüchtlinge in Deutschland/Europa aufnehmen".

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  2. Nachtrag:
    Im Moment kann der IS/Daesh in Syrien nur durch Erdogans Unterstützung überleben. Der Erdogan Clan profitiert dabei massiv am Öl-Schmuggel mit dem IS. Der Nachschub von Waffen und IS-Kämpfern nach Syrien wird von Erdogan "nicht verhindert". Darüber wird auch in den US Mainstream Medien Medien gesprochen. Sobald Donald Trump der Meinung ist, dass seine eigene Basis ihn im Kampf gegen den IS für unglaubwürdig hält, weil er Erdogan nicht für die Unterstützung von Terroristen zur Rechenschaft zieht, könnte das für Erdogan ein Problem werden.

    Trump überlässt die militärischen Entscheidungen in Syrien offenbar völlig dem Militär. Das Militär (im Gegensatz zum State Department) steht zu 100% hinter der YPG und den Kurden in Nordsyrien. Trump hat das State Department zusammengestrichen und das Militär mit 50 Milliarden beschenkt.

    Ich denke, dass das US Militär wirklich daran interessiert ist den IS zu besiegen. Wenn ich US General wäre, würde ich mich fragen was man gegen den finanziellen und militärischen Nachschub der Islamisten tun könnte. Der Konflikt zwischen Erdogan und dem US Militär ist daher vorprogrammiert.

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    1. Hier ein FOX News Beitrag über die Unterstützung des IS durch die Türkei:
      http://www.foxnews.com/world/2016/12/14/report-says-isis-is-manufacturing-arms-on-industrial-scale.html

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  3. Zwei interessante Artikel der US Presse über die Syrien/Türkei/Rojava Situaton
    https://www.thenation.com/article/turkey-is-supporting-the-syrian-jihadis-washington-says-it-wants-to-fight/
    https://www.washingtonpost.com/world/middle_east/us-military-aid-is-fueling-big-ambitions-for-syrias-leftist-kurdish-militia/2017/01/07/6e457866-c79f-11e6-acda-59924caa2450_story.html?utm_term=.4bf6db3aa4bf

    der beste Satz:
    “We have taken prisoners who were trained by the United States, and the Turks have prisoners of ours who were also trained by the United States” (SDF Kämpfer)

    Das KANN nicht auf dauer gut gehen.

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  4. Vielleicht sollte ich darauf eingehen warum ich nach ihrem Artikel über das referendum so auf den Konflikt in syrien eingehe.

    Was ich sagen will ist, dass Deutschland/Europa sich erst dann gegen Erdogan wenden wird, wenn die USA ihn fallen lassen. Erdogans politische Zukunft hängt möglicherweise allein davon ab ob Trump den Militärs, den Bankern (und den Waffenherstellern) oder den Diplomaten gehör schenkt, die sich in der Syrien/Türkei Frage auf völlig unterschiedlichen Positionen befinden.

    Die Banker/Waffenhersteller werden einen endlosen Konflikt bevorzugen.
    Das Militär wird sich sicher einen echten militärischen Sieg gegen den IS Wünschen.
    Das State Department will so viel US - Einfluss wie möglich und so wenig Einfluss von Putin wie möglich, Militärische Ziele sind dem untergeordnet.

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  5. IMHO ist das Problem der EU, dass sie nur vorgibt eine Wertegemeinschaft zu sein. In der Realität kann ich das nicht erkennen. Polen und Ungarn sind für mich keine demokratischen Staaten mehr, da auch hier die Gewaltenteilung und freie Presse ausgehebelt wurden.

    In Spanien werden andersdenlenkende mittlwereile per Gesetz ruhig gestellt.

    https://www.heise.de/tp/news/Spanien-immer-repressiver-3677292.html
    http://www.fr.de/politik/justiz-in-spanien-die-spinne-im-netz-a-1260941

    Kurz: Auch ohne den "Beitrittskanditaten" Türkei ist die Demokratie in der EU am abblättern.

    Solidarisch ist diese EU auch nur noch zu Banken, welche selbstredend gerettet werden. Die griechischen Rentner hingegen werden dafür zur Schlachtbank geführt.

    Die EU hat nur die zwei Werte freier Kapital- und Güterverkehr. Diese Werte werden konsequent gegen andere Werte verteidigt, so zum Beispiel gegen die Mitbestimmung in Deutschland, in der die EU-Komission ein Wettbewerbshindernis sieht und vor dem EUGH dagen klagt!

    Ich glaube am Ende passt die Türkei doch ganz gut in die EU, weil gegen freien Kapital- und Warenverkehr hat Erdogan doch nix und mit Mitbestimmung hat Erdogan ganz bestimmt nix am Hut.

    Passt doch!

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