Dienstag, 2. September 2014

USA, NATO, Russland – das Bermuda-Dreieck der EU im Ukraine-Konflikt




Lassen wir einmal für einen Moment das Verhalten der russischen Regierung und der russischen Staatsmedien außer Betracht, die ihre eigene Sicht und Interpretation der Ukraine-Krise haben und verbreiten, die, wie zu betonen ist, ganz sicher keineswegs immer objektiv ist. Denn bisher sind sowohl die außenpolitische „Ausein-andersetzung“ – diese Begriffswahl erscheint angemessen – zwischen dem Westen und der Ukraine auf der einen sowie Russland und den Separatisten auf der andere Seite als auch die Schlacht in den Medien zugunsten der westlichen Allianz verlaufen.

Eine wahre Flut von Berichten und Meldungen, aber wenig Information

Dabei spielte eine wesentliche Rolle, dass es auch oder vielleicht sogar ganz besonders auch der Westen mit der vorherigen Prüfung und Verifizierung von Informationen keineswegs sehr genau genommen hat. Daran hat sich im Übrigen im Wesentlichen nichts geändert. Verlautbarungen von offiziellen Stellen, der Nato und von Politikern werden uns auch ohne Belege nach wie vor als unerschütterliche Tatsachen verkauft.
Der Westen führt, wenn man so will, nach Punkten in der Beeinflussung des Bildes, das die Weltöffentlichkeit von den Motiven und Antrieben der Ukraine-Krise sowie vor allem auch in der Schuldfrage hat. Russland und die Separatisten, die von Beginn an als verlängerter Arm Moskaus bezeichnet wurden – gerade so, als hätten sie überhaupt keine eigenständigen Interessen –, sind die Schuldigen. Nur sie allein können die Krise deeskalieren. Der Westen und vor allem die Regierung in Kiew, brauchen und können dafür praktisch so gut wie nichts tun.
Das mag man so akzeptieren. Tatsache ist jedoch, dass viele Menschen – ganz besonders in Russland, aber beispielsweise auch in China und selbst im Westen – Probleme haben, das so zu schlucken, wie es ihnen über die Medien angeboten wird.
Das ist vereinfacht zusammengefasst die Situation.

Die essentielle Botschaft des Westens im Ukraine-Konflikt

Wenn es so etwas wie einen roten Faden gibt, der sich als westliche Botschaft über die gesamte Zeitspanne der Ukraine-Krise hinweg durch die Berichterstattung im Westen zieht, dann ist es das in den westlichen Medien transportierte Bild vom aggressiven, expansionistischen und unaufrichtigen Russland.
Wer zu dieser Schlussfolgerung gelangt, der kommt in der Bewertung und Einordnung der Botschaft nicht daran vorbei festzustellen, dass dies ein grobschlächtiges, plakatives und emotionalisierendes Bild von einem Gegner ist, mit dem man sich kurz vor oder bereits in einem Krieg oder einer Art von Krieg befindet. Es dient der Legiti-mation von „Vergeltungs-“Maßnahmen und zielt darauf ab, in der Bevölkerung und vor allem auch unter den Parla-mentariern den erforderlichen Rückhalt dafür zu bekommen.
Wer ein solches Bild in der breiten Öffentlichkeit prägt, auch und gerade durch fortlaufende Wiederholungen, dem geht es nicht um Deeskalation, nicht um eine nüchterne und objektive Bewertung einer Konfliktsituation.
Man kann es auch anders sagen: Es handelt sich um Stimmungsmache, um Propaganda.
Das gilt im Grundsatz selbstverständlich für Russland und den Westen gleichermaßen.

Das personifizierte Feindbild im Ukraine-Konflikt

Es ist dabei absolut zweckmäßig, ein personalisiertes Feindbild zu prägen, weil so der Zorn und mithin auch der Hass der Menschen viel effektiver geschürt werden kann. George Orwell hat das in seinem Buch „1984“ mit den „Hass-Sendungen“, die regelmäßig und in kurzen Abständen erfolgten und an denen alle Parteimitglieder teilzunehmen hatten, sehr treffend und genau beschrieben. Die sogenannten Hass-Sendungen begannen stets mit der Einblendung des Gesichts des Staatsfeindes Nummer 1, Emmanuel Goldstein. Im Irak war, wie sich gewiss jeder erinnern wird, Saddam Hussein das von Politikern und in den Medien kommunizierte Feindbild. In Libyen war es Muammar Gaddafi. Im Ukraine-Konflikt, der in den westlichen Medien inzwischen immer öfter als Russland-Ukraine-Konflikt bezeichnet wird, ist der russische Präsident Putin das personifizierte Feindbild.
Dass es so ist und wie sehr dabei ein spezifisches, keineswegs objektives Bild von Putin gezeichnet wird, kann jeder einmal selbst anhand eines exemplarischen Vergleichs von zwei Skizzen Putins und seiner Absichten nachvollziehen, in denen jeweils sogenannte Russland-Experten, nämlich der Journalist und Buchautor Boris Reitschuster (1) und Sharon Tennison, Präsidentin der in Russland tätigenNicht-Regierungs-Organisation „Center for Citizen Initiatives“ (CCI) (2), ihre Sicht und ihr Verständnis dieses Mannes darlegen.
Von mir dazu nur so viel: Wenn man beides gelesen hat, dann fragt man sich unweigerlich, ob die beiden Experten von derselben Person sprechen.

Die Initiatoren der westlichen Medien-Botschaft

Bezogen auf den Ukraine-Konflikt gibt es keinen Zweifel darüber, wer dieses Bild vom aggressiv expandierenden und unaufrichtigen Russland/Putin in die westlichen Medien forciert und immer wieder neu auffrischt. Insbe-sondere die Regierung in Kiew, aber vor allem auch die Nato sowie die US-Regierung sind immer wieder zuerst mit nicht oder nicht ausreichend belegten schweren Vorwürfen gegenüber Russland an die Öffentlichkeit gegangen.
Auf diese Weise wurden die Europäer, die der „Informationsfront“ im Ukraine-Konflikt stets hinterherhechelten und sich zudem eher halbherzig darum bemühten, eine unabhängige und den eigenen Interessen angemessene Position einzunehmen, regelmäßig unter Zugzwang gesetzt. Es scheint so, als sei am Ende der Debatte auch immer nur die Position der USA in Europa mehrheitsfähig gewesen. Denn letztlich folgten die europäischen Staats- und Regierungschefs stets dem Drängen der USA.

Die gesendete Botschaft hat die politische Ausgangslage in Europa verändert

Damit hat sich Europa auf einen Ukraine-Krisenkurs begeben, der sukzessive die politische Ausgangslage in Europa verändert hat und zwar durchaus im Sinne der USA.
Das wird für Europa auf dem anstehenden NATO-Gipfel in Wales nicht ohne Konsequenzen bleiben. Denn bedingt dadurch muss jetzt dort über Maßnahmen entschieden werden, die vor allem außen- und verteidigungspolitischen Kerninteressen der USA entsprechen, aber bisher von der US-Regierung in der EU nicht erfolgreich vorangebracht werden konnten.
Es geht konkret darum, die Aktivitäten der NATO in Osteuropa auszuweiten, was als Politik der Eindämmung (Containment) Russlands interpretiert werden kann. Ferner sollen die Mitgliedstaaten der Europäischen Union dafür auch ihre Verteidigungsausgaben erhöhen.

NATO-Gipfel: Die USA ernten die Früchte ihrer Arbeit im Ukraine-Konflikt

Die USA würden davon erheblich profitieren. Denn die außen- und verteidigungspolitischen Ziele der USA mit Blick auf Russland würden dann mit mehr Nachdruck verfolgt als bisher. Gleichzeitig würden den USA dadurch keine oder zumindest kaum zusätzliche finanziellen Belastungen entstehen.
China ergeht es im asiatisch-pazifischen Raum mit den USA schon seit längerem nicht anders als Russland seit kurzem in Europa. Das darf bei der Bewertung des Ukraine-Konflikts nicht außer Acht gelassen werden. Präsident Obama hatte auf seiner jüngsten Asien-Reise den Nachbarländern Chinas vor dem Hintergrund der Insel- sowie zahlreicher Grenzstreitigkeiten versprochen, dass die USA im asiatisch-pazifischen Raum weiterhin ihre Rolle als Schutzmacht aktiv wahrnehmen werden. (3) Das hat er jetzt vor dem Hintergrund des Ukraine-Konflikts und kurz vor dem NATO-Gipfel auch den Ländern des Baltikums versichert. (4)
Hier ist es das übermächtige, expansionslüsterne und aggressive Russland, dem sich die USA entgegenstellen. Dort ist es das übermächtige, aggressive und expansionistische China.

Die USA hatten China, aber nicht Russland auf ihrer geopolitischen Rechnung

Geopolitisch betrachtet ist Russland aus der Perspektive der USA jedoch ein offensichtlich unerwartetes, neues Problem. Denn eigentlich hatte Präsident Obama den wirtschafts-, außen- und verteidigungspolitischen Schwerpunkt bereits Ende 2011 von Europa in den asiatisch-pazifischen Raum verlegt. (5)
Allerdings fährt er trotzdem die Kosten für den US-Verteidigungshaushalt deutlich zurück. In Anbetracht der rasant gestiegenen Staatsverschuldung der USA und der Notwendigkeit, die Staatsfinanzen in den Griff zu bekommen, ohne bei den innenpolitischen Zielen Abstriche machen zu müssen, bleibt ihm auch kaum eine andere Wahl. Gerade erst hat das überparteiliche Congressional Budget Office (CBO) seine Prognose für das Wachstum der US-Wirtschaft in diesem Jahr nach unten und die für das US-Haushaltsdefizit nach oben korrigiert. Die US-Wirtschaft soll demnach 2014 nur um 1,5 Prozent wachsen. Die Defizitprognose wurde von 492 auf 506 Milliarden Dollar erhöht. (6)

Kosten für internationale Sicherheit abwälzen, strategische Verantwortung behalten

Deswegen sollen sich die Partnerstaaten stärker als bisher engagieren oder besser gesagt einbinden lassen und damit auch einen größeren Teil der Kosten für die internationale Sicherheit übernehmen, für die die USA jedoch strategisch die Gesamtverantwortung behalten wollen. Das dürfte auch das Ziel der USA für den Nato-Gipfel in Wales sein.
Im asiatisch-pazifischen Raum ist die Regierung von Shinzo Abe bereits auf diese neue außen- und verteidigungs-politische Linie der USA eingeschwenkt. Japan rüstet nicht nur massiv auf, wofür 230 Milliarden Dollar für die nächsten fünf Jahre eingeplant sind. (7) Vielmehr hat die Regierung jüngst – nach langen und zähen Verhand-lungen mit dem zuvor ablehnend eingestellten Koalitionspartner (8) – auch den pazifistischen Artikel 9 der Verfassung zwar nicht aufgehoben, aber eine neue Auslegung desselben beschlossen (9), die den verteidigungs-politischen Aktionsspielraum deutlich erhöht hat und Japan eine aktivere Rolle in der regionalen Sicherheitsarchi-tektur ermöglicht (10).

Game Over: Europa kann nicht mehr zurück

Der NATO-Gipfel in Wales strebt jetzt für Europa offensichtlich ebenfalls eine aktivere Rolle in der regionalen Sicherheitsarchitektur an. Weil die ewig uneinigen, streitenden und zaudernden Europäer das von den USA, der Ukraine und der NATO selbst über die westlichen Medien erfolgreich geprägte neue Feindbild vom aggressivem, expansionistischen Russland nicht nur akzeptiert, sondern mitgetragen haben, werden sie sich einer aktiveren Rolle für die regionale Sicherheit unter der Führung der USA kaum mehr verschließen können.
Aus Sicht Washingtons wäre das die denkbar beste Lösung. Europa zahlt für die Ukraine und für die Eindämmung Russlands und trägt obendrein auch noch die Hauptlast der negativen wirtschaftlichen Folgen der forcierten Sanktionsspirale, die Teil der Eindämmungspolitik ist. Mehr noch wird Europa, wenn es so läuft, politisch und wirtschaftlich geschwächt aus der Ukraine-Krise hervorgehen. Zu einer anderen, unabhängigen und den eigenen Interessen dienlichen Politik ist es scheinbar aber auch gar nicht in der Lage.
In einer alten Regionalstudie für das Bergische Städtedreieck Wuppertal, Solingen und Remscheid, in dem es bekanntermaßen sehr oft regnet, findet sich eine wunderbare Metapher als Erklärung dafür, warum seinerzeit für eine ökonomisch sinnvolle und nutzbringende politische Kooperation die Einsicht nicht vorhanden war, nämlich, dass dort die Menschen schon mit dem vielleicht blickverstellenden Regenschirm zur Welt kommen.
Auch in Europa insgesamt scheint es sehr oft zu regnen.
Politisch betrachtet mutiert der Ukraine-Konflikt für die Europäische Union immer mehr zu einer Art Bermuda-Dreieck: Sie verschwindet im politischen Powerplay des Kräfte-Dreiecks USA – NATO – Russland. Eigentlich ist es so betrachtet kein Wunder, dass auch der Euro schwächelt.

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