Mittwoch, 29. Februar 2012

In der Wachstumsfalle – Griechenland & Co. (Teil 2): Das Wachstumsmodell und die Krise

Wettbewerbsfähigkeit und Innovation
In Teil 1 ging es um die Gegenüberstellung von „Wachstum“ und „Entwicklung“. Dabei wurde erklärt, dass die Begriffe „Bruttoinlandsprodukt“ (BIP) und „Wettbewerbsfähigkeit“ im Sinne der neoklassischen Wachstumstheorie definiert und verwendet werden – auch und gerade in der Debatte um die Bewältigung der Krise von Griechenland & Co. –, nicht aber im Sinne einer Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, etwa der von Joseph A. Schumpeter. Dasselbe gilt für den Begriff der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. Das heißt, der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ ist auf der Vorstellung einer wirtschaftlichen Situation aufgebaut, in der Innovationen stetiges Wachstum bewirken, aber keine Umbrüche und Rücksetzer.
Dementsprechend geht es dabei um „Effizienz-„ und „Produktivitätssteigerungen“ sowie um Kostensenkung innerhalb eines bestehenden technologischen Regimes. Es geht darum, etwas Bestehendes (Produkte und Prozesse) besser zu machen – wie oft auch an Produktbezeichnungen zu erkennen ist, z. B. VW „Golf VI“ oder SAP ERP 6.0 –, ein besseres, aber vor allem auch kostengünstigeres Input-Output-Verhältnis (Produktivität) zu realisieren. Insofern entspricht der Innovationsbegriff der neoklassischen Wachstumstheorie einem ganz spezifischen Typus von Innovation, nämlich der Verbesserungsinnovation. Innovationen, die neue, andersartige Produkte und Produktionsprozesse repräsentieren und die dazu führen, dass etablierte Produkte oder, im Extrem, etablierte Industrien verschwinden, was Schumpeter als „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ bezeichnete, sind dabei ausgeschlossen.
Wie sehr unsere Wirtschaftsrealität von dieser aus der neoklassischen Wachstums-theorie abgeleiteten Vorstellung davon, wie fortlaufendes Wachstum realisiert werden kann, geprägt ist und wie problematisch es ist, sich daran zu orientieren, verdeutlichen die folgenden, exemplarisch herausgegriffenen Informationen aus aktuellen Presseberichten:
Nach heftigen Auseinandersetzungen in der Frage über die künftige, auf die Erfolgsspur zurückführende strategische Ausrichtung von Hewlett Packard, dem weltgrößten PC-Hersteller, war vor wenigen Monaten Leo Apotheker als Konzernchef von Meg Whitman abgelöst worden. An den Problemen hat sich dadurch bisher nichts geändert. Im ersten Geschäftsquartal (November bis Januar) ist der Gewinn um 44 Prozent eingebrochen, der Gesamtumsatz um 7 Prozent und die Verkäufe von PC sind um 18 Prozent zurückgegangen. (1)
PSA Peugeot Citroën und General Motors loten eine strategische Allianz in der Absicht aus, durch gemeinsame Modell-Plattformen Skalenerträge zu erzielen und die Herstellungskosten zu senken. (2) Durch Zusammenarbeit bei der Entwicklung von Autos und Antriebssystemen könnten sich beide Seiten die hohen Kosten teilen und gegenseitig von ihrem Know How profitieren. Hintergrund der Pläne sind die Probleme von Peugeot Citroën und der GM-Tochter Opel beziehungsweise deren britischer Schwestermarke Vauxhall. Die Autobauer kämpfen mit rückläufigen Verkäufen, hohen Kosten und Überkapazitäten. (3)
Laut Presseberichten plant der Computerkonzern IBM einen Strategiewechsel, dem weltweit 20.000 Stellen zum Opfer fallen könnten. Aufgaben, die bisher von festangestellten IBM-Mitarbeitern erledigt werden, sollen künftig von Externen erledigt werden. (4)
Solche und ähnliche Nachrichten aus der Konzernwelt gibt es oft. Dabei geht es immer um Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum und natürlich auch um Innovation. Prüfen Sie selbst: Lässt sich darin irgendein Zusammenhang mit der Vorstellung vom „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ beziehungsweise mit jenem Typus von Innovation erkennen, der Umbrüche bei Produkten, auf Märkten, in Industrien oder gar Volkswirtschaften bewirkt?
Nein, gewiss nicht.
Wir leben in einer Welt des Wachstums, in der zwar oft von Entwicklung die Rede, aber ausschließlich Weiterentwicklung des Status Quo gemeint ist.
Wenn man das will, wenn man diesen Weg der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit beschreitet, dann sind angesichts der gegebenen Verhältnisse auf den globalen Märkten Produktivitätssteigerungen und niedrige Personalkosten ebenso entscheidend wie auch niedrige Leit- und Kapitalmarktzinsen.

Das Wachstumsmodell
Dafür wird alles getan – in der Wirtschaft, bei den Notenbanken und auch in der Politik. Das folgende Schaubild „Erwarteter Nutzen industrieller Innovation“ verdeutlicht, wie – seit vielen Jahren - das Wachstumsmodell der Industriestaaten funktioniert. Die entsprechenden Zusammenhänge wurden von mir farblich gekennzeichnet.
Die Frage ist dann nur, warum es heute offensichtlich nicht mehr funktioniert?
Doch zunächst zum Schaubild. Darin kommen alle Begriffe vor, die in der Diskussion über die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und vor allem auch in der aktuellen Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit von Griechenland & Co. immer wieder fallen.
Industrielle Innovation bewirkt danach Produktivitätssteigerungen, die negative Beschäftigungseffekte haben (Rationalisierung). Auf der anderen Seite verbessert diese jedoch die internationale Wettbewerbsfähigkeit, was volkswirtschaftlich gesehen zu höheren Weltmarktanteilen führt, was wiederum positive Beschäftigungseffekte nach sich zieht und sich vor allem auch in einer verbesserten Zahlungsbilanz niederschlägt (Anmerkung: Zahlungsbilanz = Leistungsbilanz + Kapitalbilanz + Vermögensüber-tragungen + Restposten (Bereinigung um statistische Ungenauigkeiten)).
Dieser Zusammenhang ist der Kern des Wachstumsmodells. Insofern könnte man, wenn es nur darum ginge, darstellerisch das Feld „Neue/bessere Produkte“ auch in das Feld „Industrielle Innovation“ in der Mitte integrieren und alles andere, nicht farblich gekennzeichnete, wegfallen lassen. Die These dieses Wachstumsmodells ist, dass die positiven Beschäftigungseffekte infolge steigender Weltmarktanteile die negativen Beschäftigungseffekte infolge von Produktivitätssteigerungen überwiegen. Es ist eine empirisch kaum belegbare und deswegen höchst problematische These.
Was hat das jetzt mit dem Wachstumsproblem Griechenlands & Co. und den Problemen von Hewlett Packard, PSA Peugeot Citroën, General Motors, IBM & Co. zu tun?
Eine Menge.
Denn sowohl die Politik als auch sehr viele Unternehmenslenker glauben daran, dass dieses Wachstumsmodell funktioniert. Mehr noch hat die Politik die Unternehmen in ihren Bestrebungen zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit im Sinne dieses Wachstumsmodells gezielt unterstützt, weil sie sich davon Wachstum und positive Beschäftigungseffekte verspricht. Die Politik, die genau das tut, heißt: „Industriepolitik“.

Industriepolitik für internationale Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum
Die klassische Form der Industriepolitik zielt auf die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung. Weil wir im Zeitalter einer fortgeschrittenen Globalisierung leben und in Wachstumskategorien zu denken gewohnt sind, bedeutet dies, dass auf den wichtigsten globalen Märkten nur die größten und effizientesten Unternehmen eine Chance haben, Weltmarktanteile hinzuzugewinnen und auf dieses Weise die Zahlungsbilanz verbessert werden kann. Das heißt, in der gegenwärtigen Form zielt die Industriepolitik auf die Formung und Förderung von „National Champions“, die Größenvorteile bzw. Skalenerträge realisieren und besonders effizient und kostengünstig produzieren können.
Besonders deutlich konnte man das beispielsweise an der Politik der Bundesregierung unter Gerhard Schröder nachvollziehen. Die „Agenda 2010“ – einschließlich der Hartz-Reformen – ist klassische Industriepolitik gewesen. Es ging dabei vor allem darum, die heimischen „National Champions“ – etwa in der Automobilindustrie, im Energiesektor oder auch im Banken- und Versicherungssektor - bei ihren Bestrebungen, effizient und kostengünstig zu produzieren bzw. ihre Dienste anzubieten, zu unterstützten. Auch die Verschmelzung der Dresdner Bank mit der Commerzbank verdankt sich der industriepolitischen Intention, neben der Deutschen Bank einen weiteren „National Champion“ im Bankensektor zu formen, um auf dem globalen Markt besser mitspielen und – aus volkswirtschaftlicher Sicht - Marktanteile hinzugewinnen zu können. Auch Nicolas Sarkozy betreibt systematisch klassische Industriepolitik für Frankreich und dasselbe gilt etwa auch für die USA und Japan.
Die Kehrseite davon ist, dass Nationen, denen es nicht gelingt National Champions aufzubauen, die sich im globalen von Skalenerträgen, Effizienz und Kosten abhängigen Wettbewerb behaupten können oder wettbewerbsfähige multinationale Konzerne zu attrahieren (so geschehen z. B. in Irland, Portugal, Ungarn), im Hinblick auf Wachstum und Beschäftigung zu den Verlieren gehören. Sofern sie von Importen abhängig sind und so lange andere Staaten das beschriebene Wachstumsmodell erfolgreich anwenden, haben sie keine Chance, ihre Zahlungsbilanzen in Ordnung zu bringen.
Tatsächlich haben aber mittlerweile auch bisher erfolgreiche Anwender des Wachstums-modells ernst Wachstumsprobleme. Das gilt für Volkswirtschaften – etwa die USA, Großbritannien, Japan, Frankreich und Italien – und es gilt auch für viele am Wachstumskonzept ausgerichtete und damit bisher auf globalen Märkten erfolgreich operierende Konzerne, worauf die eingangs genannten Beispiele hinweisen.
Woran liegt das?

Intention und tatsächliche Wirkungsweise des Wachstumsmodells
Die Gründe dafür werden erkennbar, wenn man zwischen der Intention des Wachstums-modells und der tatsächlichen Wirkungsweise seiner Anwendung differenziert. Das ist insofern geboten, weil bisher schlicht unterstellt wird, dass seine Anwendung immer genau die intentionierten Wirkungen (Wachstum und Beschäftigung) erzeugt (TINA - There is no alternative) – nicht zuletzt weil es in der Vergangenheit stets so war. Genau das macht ein Paradigma aus. In diesem Fall gründet es auf der neoklassischen Wachstumstheorie, auf der das Wachstumsmodell aufbaut und deren Richtigkeit nicht infrage gestellt wird.
Was die tatsächliche Wirkungsweise der Anwendung des Wachstumsmodells ist, lässt sich verdeutlichen, wenn man einmal auf das Innovationsverhalten im Lebenszyklus eines erfolgreichen, wachsenden Unternehmens blickt. Das folgende Schaubild zeigt, welche Rolle signifikante bzw. herausragende Innovationen (major innovations) – die mit der Wachstumstheorie kompatiblen „Verbesserungsinnovationen“ - bei erfolgreichen, wachsenden Unternehmen im Zeitablauf spielen. Zur Erinnerung: In der Wachstumstheorie und im Wachstumsmodell werden – anders als das obige Schaubild „Erwarteter Nutzen industrieller Innovation“ von Rothwell/Zegveld suggeriert - Innovationen nicht nach ihrer Wirkung differenziert und sie sind lediglich mit dem Typus „Verbesserungsinnovation“ kompatibel (Stichwort: gleichgewichtiger Wachstumspfad).
Unterschieden wird im Schaubild „Three stages in the evolution of a successful enterprise“ zwischen signifikanten Produkt- und signifikanten Prozessinnovationen für den Fall eines Fertigungsunternehmens, wobei sich die dargestellten Kurven aus empirischen Untersuchungen ableiten.
Die Basis für den Markterfolg legen demnach signifikante Produktinnovationen, die in der Phase der „Flexibilität“ des Unternehmens im Vordergrund stehen. Das gilt für Ford ebenso wie für Daimler, aber auch für Coca Cola, Microsoft und SAP. Mit zunehmendem Markterfolg rücken signifikante Prozessinnovationen in den Vordergrund. Sie sind in der sogenannten Phase des „Übergangs“ für den Unternehmenserfolg und weiteres Wachstum entscheidend, während signifikante Produktinnovationen an Bedeutung verlieren. In der letzten Phase schmilzt sowohl die Rate signifikanter Produkt- als auch jene signifikanter Prozessinnovationen immer weiter zusammen und insgesamt auf ein Niveau, das beträchtlich unterhalb der dynamisch-innovativen Aktivität desselben Unternehmens in seiner Anfangsphase liegt. Prozessinnovationen behalten jedoch in der Phase der „Spezialisierung“ einen höheren Stellenwert als Produktinnovationen.
Schaut man sich nun einmal in der Tabelle an, was für die Phase der Spezialisierung eines erfolgreichen großen Unternehmens wie z. B. Hewlett Packard, General Motors oder IBM kennzeichnend ist, so stellt man fest, dass es genau dieser Typus erfolgreicher Unternehmen in der Phase der „Spezialisierung“, den das Wachstumsmodell und damit auch die klassische Form der Industriepolitik adressiert. Im Umkehrschluss heißt das, dass das Wachstumsmodell und die daran ausgerichtete Wirtschafts- und Industriepolitik dynamisch-innovative Unternehmen, die am Anfang ihrer Entwicklung stehen, nicht nur nicht fördert, sondern sie systematisch behindert.
Weil aber die Rate signifikanter Produkt- und Prozessinnovationen eines erfolgreichen, etablierten Großunternehmens über die Zeit immer weiter zusammenschmilzt, kann das Wachstumsmodell nicht ewig aufgehen. Je mehr Industriezweige (und Dienstleistungsbranchen) auf globalen Märkten von erfolgreichen Unternehmen (und auch Banken) in der Phase der Spezialisierung dominiert werden (Oligopolisierung), desto stärker schlagen volkswirtschaftlich einerseits die Effizienzsteigerungs- und Kostensenkungsbemühungen durch (Stichworte: Reallohnentwicklung, Schere zwischen Arm und Reich, Nachfrageschwäche) und andererseits der „Innovationsstau“, das heißt die geringe, von signifikanten Innovationen getragene Marktdynamik, die die Basis für Wachstum und Beschäftigung legen könnte.
Das ist der Grund dafür,
  1. warum jetzt nicht nur Griechenland & Co. ein ungelöstes Wachstumsproblem haben, sondern auch die führenden Industriestaaten;
  2. warum die Wirtschaftskrise von Griechenland & Co. nicht losgelöst von den führenden Industriestaaten bzw. von den globalwirtschaftlichen Problemen erfolgen kann;
  3. warum der Versuch, Griechenland im Sinne des Wachstumsmodells international wettbewerbsfähig zu machen, völlig abwegig ist und
  4. warum wir die Probleme ohne einen Paradigmenwechsel und ohne eine Abkehr vom bisher erfolgreichen Wachstumsmodell nicht werden lösen können.
Es ist vor diesem Hintergrund nebenbei bemerkt überhaupt kein Wunder, dass die Finanzmärkte sich so sehr auf Luftnummern bzw. nicht mit der Realwirtschaft verbundene Geschäfte verlegen wollten, um hohe Renditen erzielen zu können und dies (politisch) auch zugelassen wurde. Denn auch im Bankensektor greift das Wachstumsmodell im industriepolitischen Sinne der Förderung der „National Champions“.

Ausblick
Im dritten Teil soll es perspektivisch um die Frage der Lösung des Problems von Griechenland & Co. gehen.

Freitag, 24. Februar 2012

In der Wachstumsfalle - Griechenland & Co. (Teil 1): Wachstum und Entwicklung

Vorwort
Griechenland befindet sich auf einer massiven wirtschaftlichen Talfahrt. Die Austeritätspolitik, zu der nicht nur Griechenland, sondern auch alle anderen europäischen Schuldenstaaten verpflichtet worden sind, wird mehr und mehr als krisenverschärfend erkannt. Die Erkenntnis, dass es ohne wirtschaftlichen Aufschwung für diese Schuldenstaaten keinen Ausweg aus der Krise geben wird, andererseits aber ein erfolgversprechendes „Wachstumskonzept“ fehlt, tritt immer mehr in den Vordergrund der Debatte um die Krisenbewältigung.
In mehreren Aufsätzen möchte ich mich mit diesem Thema befassen. Im ersten Teil geht es um Grundsätzliches, nämlich um das Problemverständnis selbst, das heißt, um die Perspektive, aus der die Wirtschaftskrise in den Schuldenstaaten und die Aufgabe der Bewältigung derselben wahrgenommen wird.
Das ist keine Nebensächlichkeit, sondern entscheidend. Denn nach dem Einbruch der Finanzmärkte und der Weltwirtschaft im Jahr 2008 hat sich gezeigt, dass solche grundsätzlichen Fragen völlig vernachlässigt worden sind. Die nicht beseitigten gravierenden Erklärungsdefizite, die nicht gründlich herausgefilterten Ursachen sowie die deswegen nach wie vor ungelösten Probleme haben uns mittlerweile wieder eingeholt. Neue, nämlich insbesondere die Staatsverschuldung, sind hinzugekommen.
Die wirtschaftliche Misere der Schuldenstaaten in Europa muss in diesem Gesamt-zusammenhang gesehen und gelöst werden. Der Fall Griechenland etwa kann nicht mit chirurgischer Präzision herausgeschnitten und isoliert gelöst werden. Im Wege einer euphemistisch als „pragmatisch“ zu bezeichnenden, tatsächlich jedoch schlicht experimentellen Herangehensweise, wird sie diese wirtschaftliche Krise nicht zu lösen sein. Das war der Weg, der nach der Lehman-Pleite beschritten wurde, nicht zuletzt deswegen, weil die Finanzkrise gezeigt hat, dass die Theorien und Modelle der Ökonomen versagt haben.
An dieser Ausgangslage hat sich nichts geändert und darum ist es besonders wichtig, den ökonomischen Rat bezüglich der Handhabung der Wirtschaftskrise von Griechenland & Co. zu hinterfragen. Das soll im Folgenden geschehen.

Wirtschaftswachstum und wirtschaftliche Entwicklung
Wachstum ist ein eindimensionaler Prozess mit quantifizierbaren, messbaren Ergebnissen, die ein positives oder negatives Vorzeichen tragen können. Entwicklung ist ein mehrdimensionaler Prozess. Aufgrund seiner Mehrdimensionalität kann es keine einzelne Messgröße geben, die ihn treffend bewertet.
Beide Begriffe kann man auch auf den Menschen anwenden und, wenn man das zu Verdeutlichungszwecken einmal tut, dann lässt sich leicht nachvollziehen, worin der Unterschied besteht. Die Entwicklung eines Menschen schließt dessen (Größen-) Wachstum mit ein, ist aber ein viel umfassenderer Begriff und meint deswegen auch etwas ganz anderes. Auf die Wirtschaft angewendet, ist es dasselbe. Wachstum darf also definitiv nicht als Synonym für Entwicklung missverstanden werden.
Damit ist der grundsätzliche Unterschied vielleicht am besten auf den Punkt gebracht.
Geht es um die Wirtschaftskrise in den europäischen Schuldenstaaten, so fällt auf, dass seit Beginn der griechischen Schuldenkrise Ende 2009 so gut wie gar nicht über Entwicklung geredet wird, sondern fast ausschließlich über Wachstum – soweit es überhaupt schon darum geht, denn bisher ging es nur um Haushalts- und Finanzierungsfragen.
Das hat natürlich etwas mit der herrschenden wirtschaftstheoretischen Basis zu tun, die die Denk- und Sprachregelung für die Debatte über die Krise und ihre Bewältigung determiniert. Die herrschende neoklassische Gleichgewichtstheorie ist keine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern eine des wirtschaftlichen Wachstums.
Damit wird sogleich deutlich, wie stark verkürzt, um nicht zu sagen „amputiert“, die aktuelle, öffentlich geführte Diskussion der Frage ist, was getan werden muss, um Griechenland & Co. wirtschaftlich wieder auf solide Beine zu stellen.
Das zeigt sich auch an anderer Stelle, abseits dieses konkreten, realen Problemzusammenhangs. So gibt es mittlerweile gerade aufgrund der zunehmend auseinanderklaffenden Schere zwischen Arm und Reich erhebliche Zweifel, ob das Bruttoinlandsprodukt (BIP), so wie es bisher statistisch erfasst bzw. ermittelt wird, der geeignete Wohlstandsmesser ist. „Wirtschaftswachstum“ ist „BIP-Wachstum“. Wie allerdings der Wohlstand oder die Wohlfahrt von Nationen gemessen werden kann, das ist schon seit die Ökonomen begonnen haben, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, ein Problem und zwar ein bis heute ungelöstes. Denkt man dabei an den oben beschriebenen Unterschied zwischen „Wachstum“ und „Entwicklung“, was die Vertreter der herrschenden neoklassischen Theorie nicht tun, dann ist auch verständlich, warum es sich dabei um ein Problem handelt.
Ähnlich verhält es sich mit dem auch in der Debatte um Griechenland & Co. verwendeten Begriff der „Wettbewerbsfähigkeit“, der aus dem neoklassischen Gedankengebäude abgeleitet und darüber auch mit dem Wachstumsbegriff verbunden ist. Wettbewerbsfähigkeit führt zu Wachstum, so lautet die verkürzte Formel. Allerdings wird diese gängige Definition von „Wettbewerbsfähigkeit“ (noch) nicht grundsätzlich infrage gestellt, sondern nur indirekt, weil erstmals wahrgenommen wird, dass dauerhafte Leistungsbilanzdefizite nur die eine Seite des Problems sind, dauerhafte Leistungsbilanz- bzw. im Wesentlichen Export-Überschüsse die andere. Mit anderen Worten wird bisher verkürzt der Exporterfolg einer Volkswirtschaft als Ausdruck der Wettbewerbsfähigkeit und Voraussetzung für Wachstum begriffen, was, wie nun auffällt, die Krisenbewältigung in Griechenland & Co. im gesamteuropäischen Kontext zum Versuch der Quadratur des Kreises werden lässt.
Was ist das Problem? – werden Sie jetzt vermutlich fragen.
Das Problem ist, dass sich Wachstumstheorie und die Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung widersprechen. Anders ausgedrückt sind die Annahmen bezüglich der Voraussetzungen für Wachstum – das ja, wie eingangs erläutert, im Entwicklungsbegriff enthalten und in der Entwicklungstheorie eingeschlossen ist – nicht dieselben. Mehr noch schließt Entwicklung permanentes Wachstum aus.
Wieso das?
Denken Sie an den von Joseph A. Schumpeter für die Beschreibung seines Entwicklungsextrems (Technologische Revolution) geprägten Ausdruck vom „Prozess der schöpferischen Zerstörung“. „Prozess der schöpferischen Zerstörung“ meint, dass „radikale“ Innovationen den Umbruch ganzer Volkswirtschaften auslösen, weil dadurch völlig neue Industrien entstehen, aber eben um den Preis des Nieder- und Untergangs bestehender und bis dahin erfolgreicher Industrien.
Das ist zwar ein theoretischer Extremfall, den Schumpeter hier vorgestellt hat. Er verdeutlicht aber das der Erklärung von wirtschaftlicher Entwicklung zugrundeliegende Prinzip, dass nämlich Innovation nicht gleich Innovation ist und ökonomisch signifikante, umwälzende Innovationen einerseits der Ursprung von Wachstum sind, aber zunächst etwas anderes zerstören oder zumindest wirtschaftlich stark entwerten. Eine unmittelbare, „verlustfreie“ oder „Win-win“-Situation gibt es in einer solchen Umbruchsituation nicht. (Danach wird aber, nebenbei bemerkt, gegenwärtig gesucht.)
Ein gutes Beispiel dafür ist das, was jeder mit der Innovation/dem Innovationsschub verbindet, der „Silicon Valley“ seinen Namen gab und das Computerzeitalter eröffnete. Er leitete nicht nur die explosionsartige Entwicklung einer neuen Industrie und einen massiven Wachstumsschub ein, sondern auch die explosionsartige Entwicklung einer ganzen Region. Die Kehrseite davon war das Verschwinden zahlreicher Produkte und der Niedergang ganzer Industriezweige (z.B. Büromaschinen).
Solche radikalen Innovationen oder Innovationsschübe treten naturgemäß selten auf. Sie sind gefolgt von einer langen Phase der Ausreifung, in der die davon ausgehenden wirtschaftlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, verbreitet und Verbesserungen sowie Weiterentwicklungen realisiert werden. Es ist diese, für die Phase der Ausreifung typische Form der Verbesserungsinnovation, die mit der Innovationsvorstellung der Wachstumstheorie kompatibel ist bzw. mit der Vorstellung, dass die Wirtschaft entlang eines gleichgewichtigen Wachstumspfades immerfort wächst. Umbrüche kommen in der Wachstumstheorie nicht vor.
Es ist aus dieser Perspektive betrachtet jedoch evident, dass sich unternehmerische „Wettbewerbsfähigkeit“ in Phasen von Umbrüchen oder innovativer Turbulenz nicht in derselben Weise definieren lässt wie in Phasen wirtschaftlicher Ausreifung. Das wirtschaftliche Überleben von Unternehmen hängt in diesen sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Umfeldern von unterschiedlichen Faktoren und Fähigkeiten ab.
Wettbewerbsfähigkeit kann und muss folglich im Kontext der Marktsituation definiert werden. Weil sich Märkte/Volkswirtschaften entwickeln, muss es unterschiedliche Definitionen geben – zumindest eine für Phasen hoher und eine für Phasen geringer innovativer Turbulenz.
Und wenn man nun noch einen Schritt weiter geht und nicht nur die vom Innovationsgeschehen abhängigen Unterschiede berücksichtigt, sondern ebenso, dass die Wirtschaft eines Landes auf unterschiedlichen regionalen, nationalen und globalen Märkten sowie auf Märkten in unterschiedlichem Ausreifungsstadium tätig ist, dann ist die Frage der Wettbewerbsfähigkeit von ganzen Volkswirtschaften keineswegs so einfach zu beantworten, wie aktuell in der Debatte um die „Wettbewerbsfähigkeit“ von Griechenland & Co. suggeriert wird.
Geht man des Weiteren davon aus, dass die aus der neoklassischen Wachstumstheorie abgeleitete Vorstellung davon, wie Volkswirtschaften prosperieren können, nicht uneingeschränkt sowie mitunter - situationsabhängig - überhaupt nicht trägt, weil die Theorie gravierende Fehler aufweist, dann verstellt sogar bereits die gewählte Zielsetzung (Wachstum) den Blick auf die tatsächlichen Erfordernisse und Möglichkeiten für prosperierende Volkswirtschaften in Griechenland & Co.

Ausblick
So viel zum Grundsätzlichen. Im nächsten Aufsatz geht es um die Erklärung und Diskussion des bisher verfolgten Wachstumsmodells oder anders ausgedrückt, wie und warum wir in eine Art Wachstumsfalle geraten sind. Damit ist gemeint, dass Wachstum als Lösung angesehen wird, aber nicht erreicht werden kann.

Sonntag, 19. Februar 2012

Die Frage der Wulff-Nachfolge – eine Beinahe-Machtprobe für die Bundeskanzlerin

Das ist eine unerwartete Entwicklung: Die FDP-Spitze hat sich einstimmig für Joachim Gauck als Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ausgesprochen. Die Union hat ihn dagegen abgelehnt und steht nun mit dieser Haltung – im Kreise der von ihr in der Kandidatenfrage konsultierten Parteien, denn die Linke wurde nicht gefragt – plötzlich ganz alleine da.
Die Union hat nach dem Rücktritt von Christian Wulff alles unternommen, um es nicht als Fehlentscheidung erscheinen zu lassen, ihn als Bundespräsidenten durchgeboxt zu haben. Zuerst hatte ihn Bundeskanzlerin Angela Merkel unmittelbar nach seiner Rücktrittserklärung für seine Arbeit gelobt. Dann sah die Unionspitze, anders als einige Staatsrechtler und etwa auch Alt-Bundespräsident Walter Scheel, keinen Grund, warum Christian Wulff der Ehrensold verwehrt werden sollte.
Beides wirkt bizarr, angesichts all der Enthüllungen der vergangenen Wochen, selbst wenn sie juristisch irrelevant sind, vor allem aber vor dem Hintergrund der Tatsache, dass er seinen Rücktritt unmittelbar nach der Ankündigung staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gegen ihn verkündete.
Nun kommt noch ein weiterer Versuch hinzu. Denn Joachim Gauck jetzt als Konsenskandidat abzulehnen, so wie sie es auch vor der letzten Wahl getan hatte, passt exakt in das Bild der bisherigen Bemühungen der Union nach dem Rücktritt von Wulff.
Christian Wulff war seinerzeit erst im dritten Wahlgang zum Bundespräsidenten gewählt worden, weil innerhalb der CDU einige mit der Wunschbesetzung der Bundeskanzlerin nicht zufrieden waren. Damals hat Angela Merkel sich gegen alle Widerstände durchgesetzt.
Nachdem ihr nun aber bereits zwei der von der Union ausgeguckten Kandidaten - der Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) und Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts - abgesagt haben und sich heute auch der Koalitionspartner mit der Befürwortung von Gauck unerwartet gegen die Kanzlerin gestellt hat, ist die Frage der Wulff-Nachfolge für sie unvermittelt zu einer Machtprobe mutiert.
Sowohl in der Opposition als auch in der FDP scheint die Bereitschaft nicht gegeben zu sein, sie mit ihrem Willen einmal mehr durchkommen und auch den Fall Wulff einfach an sich abperlen zu lassen. Es wäre das erste Mal, dass es ihr nicht gelingt.
Am Abend wurde nun gemeldet, auch die Union unterstütze Joachim Gauck als Kandidaten - das nennt man dann wohl Schadensbegrenzung.
Der Rücktritt des Bundespräsidenten hätte sich am Ende als der berühmte Tropfen erweisen können, der das Fass einer vorgeblich heilen, aber schon lange chronisch dissonanten Regierungswelt zum Überlaufen bringt.

Freitag, 17. Februar 2012

Wulff-Rücktritt: Auf der Suche nach einem Bundespräsidenten in Zeiten der europäischen Schuldenkrise

Christian Wulff, der Wunschkandidat der Bundeskanzlerin Angela Merkel für das Amt des Bundespräsidenten geht und nun soll also nach ihrem Wunsch im Konsens mit der Regierungsopposition ein Nachfolger gefunden werden. Das ist eine Gelegenheit, um in der sich zuspitzenden europäischen Schuldenkrise ein Zeichen zu setzen.
Seit Monaten steht die Bundesregierung wegen ihrer herausragenden Rolle und ihrem Krisenkurs in der europäischen Schuldenkrise in der Kritik und unter hohem Druck. Nirgendwo wird das so deutlich wie aktuell in Griechenland. Dort ist der Zorn auf die Kanzlerin und ihren Finanzminister Wolfgang Schäuble groß, wie jüngst auch die kritischen Äußerungen des griechischen Staatspräsidenten Karolos Papoulias gezeigt haben. (1)
Die Nerven liegen vielerorts blank, nicht nur in Griechenland. (2) Der Sparzwang, unter dem eine ganze Reihe von europäischen Mitgliedstaaten seit Monaten steht, wird immer weiter verschärft – etwa in Portugal, Spanien, Italien, Rumänien und Ungarn. Doch zur gewünschten Gesundung hat er nicht geführt. Im Gegenteil hat sich die wirtschaftliche Talfahrt fortgesetzt. Vor allem aber hat sich auch die Lebenssituation weiter Teile der Bevölkerung massiv verschlechtert. Gerade deswegen schwindet innerhalb Europas die Akzeptanz für diesen Krisenkurs und immer weitergehende Einschnitte – bis hin zum Massenprotest, zu Streiks und Gewalttätigkeiten.
Christian Wulff hat nicht spürbar dazu beigetragen, die aufkommenden Wogen des Zorns in der Bevölkerung europäischer Mitgliedstaaten zu glätten. Warum eigentlich nicht? Wenn die Bundesregierung fortlaufend ihre besondere Verantwortung für Europa anerkennt und betont, dieser gerecht werden zu wollen, ist es dann – angesichts der besonderen Krisensituation – nicht auch die Aufgabe des Bundespräsidenten, diese besondere Verantwortung Deutschlands für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt Europas - für die "Kohäsion" also - wahrzunehmen und maßgeblich dazu beizutragen, dass er erhalten bleibt?
Gewiss ist Christian Wulff in diesem Punkt nicht untätig gewesen. Aber maßgebliche Impulse hat er nicht zu geben vermocht. Dass mittlerweile der soziale Frieden in Europa ernstlich bedroht ist, kann nicht als Zeichen dafür gewertet werden, dass er in diesem Punkt für Deutschland wirklich etwas in die Waagschale zu werfen hatte.
Es wäre gut, wenn sich das ändern würde. Mit der Wahl eines Nachfolgers für den zurückgetretenen Bundespräsidenten könnte auch ein Zeichen für unsere europäischen Nachbarn gesetzt werden. Der neue Mann oder die neue Frau im Schloss Bellevue sollte in dieser Krisenzeit vermitteln und nicht nur den Deutschen, sondern auch den Europäern Orientierung in der Krise geben können. Mehr als je zuvor wird dafür eine breite Akzeptanz, diplomatisches Geschick und europäisches Denken erforderlich sein.

Mittwoch, 15. Februar 2012

Wirtschaftswachstum in Griechenland: Prognose und Realität

Wie kann in Griechenland die wirtschaftliche Entwicklung in Gang gebracht und wieder Wirtschaftswachstum erreicht werden?
Diese Frage hat bisher in der europäischen Schuldenkrise gar nicht zur Debatte gestanden und wenn doch, dann wurde sie als Angelegenheit der jeweiligen Regierung in den Schuldenstaaten angesehen – allerdings in einer sehr eindimensionalen Perspektive. Die sogenannte Troika, also das Team aus Fachleuten der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) gebildete Team, das die Bemühungen um die Haushaltssanierung in den europäischen Schuldenstaaten überwacht, aber auch die Euro-Retter, also die Euro-Finanzminister sowie die Staats- und Regierungschefs der europäischen Gläubigerstaaten, gehen offensichtlich davon aus, dass eine Kombination aus drastischen Ausgabenkürzungen, Steuererhöhungen und Veräußerung von Staatseigentum nicht nur zur Sanierung der jeweiligen Staatshaushalte führt. Vielmehr wird dies zugleich als geeignete Voraussetzung dafür angesehen, die Wirtschaft zu beleben – der Anteil des ineffizienten Staates an der volkswirtschaftlichen Aktivität wird zurückgefahren und, so das zentrale Argument, dies schafft Freiräume für effiziente privatwirtschaftliche Aktivitäten. Ob das gelingt, so die zugrundeliegende Haltung, liegt allein an der jeweiligen nationalen Regierung.
Dass dieses Konzept im Einklang steht mit dem auf Schuldenstaaten weltweit insbesondere vom IWF und der Weltbank angewendeten Standards zur Staatssanierung, dem sogenannten Washington Consensus (1) und dass es auf Grundannahmen der liberalen sowie neoklassischen Wirtschaftstheorie aufgebaut ist, ist bekannt und bedarf keiner besonderen Erklärung mehr.
Wie sehr die genannten Kreise von Fachleuten und Politikern davon überzeugt sind, dass dieses Konzept - allen durch die Finanzkrise aufgedeckten Schwächen der zugrundeliegenden wirtschaftsliberalen Lehre und allen Fakten zum Trotz – auf mittlere bis lange Sicht funktioniert, verdeutlichen nicht zuletzt die Wachstumsprognosen der Europäischen Kommission für Griechenland. Und auf diese Wachstumsprognosen baute jüngst auch der griechische Ministerpräsident Loukas Papademos, als er den Griechen versprach, die griechische Wirtschaft werde 2013 wieder wachsen - sofern das neue Sparprogramm beschlossen wird (2).
Wir also alles wieder gut?
Es lohnt ein Blick auf die Wachstumsprognosen der Europäischen Kommission für Griechenland aus den zurückliegenden Jahren. Aus der unten stehenden Tabelle geht hervor, dass sie mit ihren Prognosen regelmäßig deutlich daneben gelegen hat. Gerade in der Vorausschau für die dem jeweiligen Jahr der Prognoseerstellung folgenden zwei Jahre ist sie regelmäßig viel zu optimistisch gewesen.
Quellen: 3), 4), 5), 6), 7), 8) und 9).
Dieser Optimismus speist sich seit Beginn der Zuspitzung der Schuldenkrise Griechenlands im Jahr 2010 aus den anvisierten und bisher umgesetzten austeritätspolitischen Maßnahmen - Senkung der Staatsausgaben (Einsparungen, u.a. Einschnitte bei Beschäftigung, Löhnen, Renten) und Erhöhung der Staatseinnahmen (Steuererhöhungen, Einführung neuer Steuern, Privatisierungen). Und dass in Griechenland in einem für die Industriestaaten beispiellosem Ausmaß gespart wird, hat die OECD im Rahmen einer Analyse festgestellt. (10)
Diese Rechnung ist bisher nicht aufgegangen. Die griechische Wirtschaft befindet sich in einer sich immer noch beschleunigenden Abwärtsspirale. Es ist vor diesem Hintergrund schwer vorstellbar, dass sie 2013 wieder wächst. Mehr noch ist es fraglich, wann und unter welchen Voraussetzungen sie wieder prosperiert.
Welchen Orientierungswert haben also solche Wirtschaftsprognosen? Was taugt deren wirtschaftstheoretisches Fundament - vor allem mit Blick auf die Wachstumsfrage?

Dienstag, 7. Februar 2012

Vergessene Lektion: Die Griechenlandkrise und Heinrich Brüning

Erinnern Sie sich noch? In der Hochphase der Finanzkrise nach der Lehman-Pleite wurde oft betont es sei wichtig, in der Krisenbekämpfung nicht die Fehler aus der Zeit nach dem großen Börsencrash von 1929 zu wiederholen. Als Fehler wurde vor allem angesehen, dass die Notenbanken seinerzeit nicht mit niedrigen Leitzinsen und einer expansiven Geldpolitik auf die Krise reagierten.
Seit Herbst 2008 vermeiden die Notenbanken in den großen Industrienationen nun schon diesen Fehler. Die globale Wirtschaft ist nicht wie damals in eine Depression abgerutscht, das Finanzmarktsystem wurde vor dem Kollaps bewahrt. Die Gefahr, dass dies geschieht, wurde jedoch nicht gebannt. Auch angesichts der sich erneut zuspitzenden Krise in Griechenland gilt die größte Sorge heute eigentlich nicht so sehr der Stabilität des Euro und der Europäischen Währungsunion, obwohl dies das beherrschende Thema in Presse und Medien ist. Die größte Sorge gilt der Finanzmarkt-stabilität.
Mittlerweile werden überall Risiken für die Finanzmärkte gesehen.
Beispielsweise kritisierte jüngst Barack Obama den Iran, er gehe nicht scharf genug gegen Geldwäsche vor und bezeichnete deswegen dessen Verhalten als inakzeptables Risiko für das internationale Finanzsystem. (1) Und der Internationale Währungsfonds forderte China eindringlich dazu auf, sich mit Investitionen in europäischen Schuldenstaaten stärker in die Lösung der Euro-Krise einzuschalten, weil eine Verschärfung derselben unweigerlich auch Chinas Wirtschaft massiv einbrechen lassen würde. (2)
Jeder weiß, dass sich die Finanzmärkte vollgesogen haben mit Liquidität, die die Notenbanken ihnen zu niedrigsten Zinsen zur Verfügung stellen. Das Geld ist größtenteils nicht in die Wirtschaft geflossen, es hat die Wirtschaftstätigkeit nicht belebt. Doch genau das hätte nach der herrschenden ökonomischen Auffassung eigentlich geschehen sollen.
Damit ist klar, dass es ein Irrtum war davon auszugehen, für die Bewältigung der zweiten Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise reiche es aus, geldpolitisch das Gegenteil von dem zu tun, was die Notenbanken in den 30er Jahren taten – den Geldhahn auf-, statt zuzudrehen.
Was dadurch gewonnen wurde, ist bereits gesagt worden. Doch diese Rechnung ist insofern unvollständig, als nicht das daraus neu geschaffene Problem einer Liquiditäts- bzw. Vermögensblase mitberücksichtigt wurde. Denn die Liquidität ist ja im Finanzsektor geblieben und hat quer durch alle Anlageklassen die Vermögens- und Rohstoffpreise nach oben getrieben – was die Wirtschaft zusätzlich belastet. Die Notenbanken haben so gesehen eigentlich nur den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben.
Es ist folglich nicht korrekt, von einer erfolgreichen geldpolitischen Krisenstrategie zu sprechen. Nicht die Fehler aus den 30er Jahren zu wiederholen, kann also durchaus auch heißen, stattdessen andere und möglicherweise ebenso gravierende, weil genauso folgenschwere Fehler zu machen. Diese Möglichkeit hatten die Geldpolitiker entweder nicht auf ihrer Rechnung  oder sie haben schlicht keine Vorstellung von einer anderen, besseren geldpolitischen Lösung. Beides ist vor dem Hintergrund der signifikanten Schwächen der ihrer Arbeit zugrundeliegenden ökonomischen Theorien und Modelle durchaus plausibel.
Ein weiterer gravierender Fehler besteht darin, den geldpolitischen Kurs als ausschlaggebend für die Krisenbewältigung anzusehen, das heißt, Geldpolitik als Lösung zu betrachten. Finanzmarkt- und wirtschaftsstrukturelle Probleme und Verwerfungen, können mit Geldpolitik allein nicht gelöst werden. Die tief verwurzelte monetaristische Überzeugung, dass alles am Geld hängt und damit die Wirtschaft geldpolitisch gesteuert werden kann, hat sich als falsch erwiesen. Die Finanzmarktkrise hat uns die Ohnmacht der Geldpolitik eindrucksvoll vor Augen geführt.
Und auch jetzt, im vierten Jahr nach der Lehman-Pleite zeigt die Tatsache, dass die Liquidität kaum in der Wirtschaft ankommt, wie begrenzt die Möglichkeiten der Notenbanken zur gezielten Beeinflussung der Märkte tatsächlich sind. Zwar bleiben einzelne Maßnahmen nicht ohne Effekt – beispielsweise die im Dezember im Zuge des 3-Jahres-Tenders den europäischen Banken zur Verfügung gestellte Liquidität der Europäischen Zentralbank, die – zumindest vorübergehend - stabilisierend auf das europäische Bankensystem wirkte.
Gleichwohl lösen sie nichts. Die europäischen Banken etwa sind nach wie vor in derselben schwierigen Situation, die durch ein neues Krisenereignis – etwa die Pleite Griechenlands infolge gescheiterter Verhandlungen – jederzeit eskalieren kann. Zugleich vertieft sich aber die Wirtschaftskrise in den europäischen Schuldenstaaten fortlaufend. Darüber hinaus gibt es auch auf den Weltmärkten immer mehr Anzeichen für eine aufziehende Rezession. Und die von der EZB den Banken zusätzlich zur Verfügung gestellte Liquidität fließt nicht nur nicht in die europäischen Wirtschaft. Im Gegenteil schränken die europäischen Banken die Kreditvergabe an die Wirtschaft jetzt sogar immer weiter ein, wie die vierteljährliche Kreditumfrage der EZB für das letzte Quartal 2011 ergab. (3)
Eine geldpolitische Erfolgsbilanz ist das nicht.
Noch schlechter sieht die Bilanz für die Krisenbewältigungsstrategie der Politik aus. In den USA ist die Politik nahezu gelähmt und handlungsunfähig. Fast die gesamte Last der Krisenbekämpfung ruht seit Monaten praktisch auf Ben Bernanke, der sich inzwischen der Grenzen der Lösungsbeiträge der Fed bewusst geworden ist. (4)
Während in den USA nichts entschieden wird, hat sich Großbritanniens Regierung für Austeritätspolitik entschieden, fürs Gesundsparen also. Dasselbe gilt für die Europäische Union als Ganzes. Ob Irland, Griechenland, Portugal, Spanien, Italien, Ungarn oder auch Rumänien – überall dort, wo Regierungen auf finanzielle Unterstützung von außen angewiesen sind, werden – ganz im Sinne des Washington Consensus (5) - als Gegenleistung für Finanzhilfen drastische Sparmaßnahmen gefordert.
Das ist nicht ohne Konsequenzen geblieben, allerdings sind es bisher nicht die gewünschten. Die Staatseinnahmen brechen weg, die Binnenwirtschaft ist auf Talfahrt und die Arbeitslosigkeit steigt rasant. Gleichwohl werden immer neue Sparmaßnahmen und Einschnitte gefordert, was die amtierenden Regierungen infolge von massiven Protesten aus der Bevölkerung reihenweise hat scheitern lassen, so geschehen in Irland, Griechenland, Ungarn, Portugal, Spanien, Italien und zuletzt auch in Rumänien (6). Man braucht kein Hellseher zu sein, um vorhersehen zu können, dass auch die aktuell amtierenden Regierungen in Frankreich, Großbritannien und zuletzt – da bisher wirtschaftlich noch das stabilste Land in der EU – auch in Deutschland dasselbe Schicksal ereilen wird – wenn sich nichts ändert.
Haben die Notenbanken wenigstens versucht, die Fehler, die in den 30er Jahren geldpolitisch gemacht wurden, zu umgehen, so trifft das in keiner Weise auf die Politik zu. Im Gegenteil werden die entscheidenden Fehler wiederholt: Aufgrund der überzogenen Reparationsforderungen der Siegermächte stand in den 30er Jahren das Deutsche Reich ebenso wie heute viele europäische Krisenstaaten vor einem massiven Schuldenproblem. Nach dem Börsencrash von 1929 brach die deutsche Wirtschaft ein, die Arbeitslosigkeit explodierte und erreichte Anfang 1933 die 30-Prozent-Marke. Reichskanzler Heinrich Brüning bekämpfte die Krise mit Austeritätspolitik, das heißt mit all den Maßnahmen, die jetzt auch in Griechenland und in anderen Schuldenstaaten durchgesetzt werden. Die Folge waren Proteste, Streiks, eine Verschärfung der Wirtschaftslage und der Arbeitslosigkeit, eine politische Radikalisierung und letztlich das Scheitern von Brünings Regierung.
Heute geschieht exakt dasselbe – allerdings nicht nur in einer Volkswirtschaft, sondern in einer ganzen Reihe von europäischen Volkswirtschaften. Und anders als damals in der Weimarer Republik kommt der Druck – Großbritannien ausgenommen -, die Krise, die vornehmlich als Schuldenkrise wahrgenommen wird, mit drastischen Sparmaßnahmen, Lohnkürzungen, Einschnitten in das soziale System, Privatisierungen usw. zu bekämpfen, aus dem Ausland und von supranationalen und internationalen Institutionen (EZB und IWF).
Das ist im Vergleich zur Weimarer Zeit eine neue und brandgefährliche Variation in der bekannten Entscheidungs- und Handlungskette. Brandgefährlich ist sie deswegen, weil die eigentlichen Entscheider nicht mehr unmittelbar mit den Folgen ihrer Entscheidungen vor Ort konfrontiert sind. Wann waren Nicolas Sarkozy und Angela Merkel, die den Krisenkurs Europas ganz maßgeblich prägen und für richtig erachten, zum letzten Mal auf Staatsbesuch in Griechenland? Und haben sie sich wohl Gedanken darüber gemacht, wie die Geschichte für sie selbst, aber noch mehr für Europa ausgehen wird, wenn der austeritätspolitische Kurs in seiner gegenwärtigen Form beibehalten wird? Denn das Scheitern von Regierungen in Schuldenstaaten kann heute - anders als in der Weimarer Republik - nicht der Endpunkt sein, an dem es dann zu einem Politik- und damit verbunden zu einem krisenpolitischen Kurswechsel kommt.
Das Vermögen, die Wirtschaft wieder prosperieren zu lassen und gleichzeitig Beschäftigung mit für den Lebensunterhalt hinreichendem Einkommen auf- und auszubauen, wird ebenso wie in den 30er Jahren in der Weimarer Republik und im Deutschland der Nachkriegszeit ausschlaggebend sein für wirtschaftliche und politische Stabilität – diesmal für die von ganz Europa! Wenn die Bürger in den gemäßigten Parteien jedoch niemanden finden können, dem sie dies zutrauen, werden sie bei Wahlen zunehmend zu anderen, möglicherweise auch neuen, aber vor allem am rechten und linken Rand des politischen Spektrums liegenden Parteien abwandern (siehe auch Tabelle „Reichstagswahlergebnisse“).
Die Parteienlandschaft wird zunächst „bunter“, was man begrüßen kann. Aber in Krisenzeiten und bei mangelnder Orientierung führt das zunehmend auch zur Lähmung der Entscheidungsfindung in den Parlamenten, weil es schwierig wird, überhaupt noch Mehrheiten zu finden. In diesem Klima gedeihen Populisten mit scheinbar einfachen, aber eben auch radikalen Lösungsvorschlägen. So gesehen tragen die Regierungsparteien zur politischen Radikalisierung - wenn auch ungewollt - maßgeblich bei, je länger sie nicht in der Lage sind, die Krise mit dem oben genannten Resultat in den Griff zu bekommen.
Es gibt für die europäischen Staats- und Regierungschefs in Europa angesichts der bisherigen und mehr noch vor dem Hintergrund des Ausblicks auf die weitere Entwicklung keinen Grund, auf den Krisenkurs stolz zu sein. Das gilt aber ebenso für die USA und Großbritannien. Deutschlands Wirtschaftsmodell ist derzeit aus deutscher Sicht zwar (noch) erfolgreich. Ein Lösung für Europa ist es jedoch nicht, weil sein Erfolg ja gerade auf der Schwäche der Wirtschaft anderer Staaten beruht.
Es unterscheidet sich im Grunde auch nicht so sehr von dem anderer großer Industriestaaten. Sie alle unterstützen die heimische Wirtschaft (und ihre Banken) dabei, Anteile im Welthandel bzw. auf den Weltmärkten hinzuzugewinnen. Aber dieser Wettbewerb wird mittlerweile hauptsächlich zwischen Konzernen entschieden, zwischen den sogenannten „National Champions“, die die umsatz- und gewinnträchtigsten globalen Märkte abdecken.
Staaten, in deren Wirtschaft keine „National Champions“ existieren, geraten jedoch unter diesen Bedingungen im Welthandel ins Hintertreffen und tendenziell in wirtschaftliche Abhängigkeit. Letzteres zeigt sich insbesondere in Krisenzeiten. Griechenland, Portugal und andere können ein Lied davon singen. Wollte man sie mithilfe des deutschen Wirtschaftsmodells wirtschaftlich wieder in die Spur bringen, müsste man ihren Volkswirtschaften eine Handvoll „National Champions“ implantieren – was natürlich eine absurde, aber dennoch vielleicht hilfreiche Vorstellung ist. Hilfreich insofern, weil sie zumindest einmal den Blick auf die Frage richtet, inwieweit National Champions nicht die Lösung, sondern vielleicht gerade ein Problem bei der Krisenbewältigung (Stichwort: Abbau von Leistungsbilanzdefiziten) darstellen.
Wie auch immer, auf europäischer Ebene haben sich die mit der Krisenbewältigung befassten Kreise noch nicht ernsthaft mit dem Problem befasst, wie die Volkswirtschaften in Griechenland & Co. den Turnaround schaffen können. Ein historischer Rückblick und die Realisierung der empirischen Fakten zur aktuellen Entwicklung in den Krisenstaaten müssten dort längst alle Alarmglocken schrillen lassen.