Die Flüchtlingskrise, der Kampf gegen den
Islamischen Staat (IS) und die geopolitischen Spannungen zwischen dem Westen
und Russland einerseits sowie aktuell zwischen Russland und der Türkei wegen
des Abschusses eines russischen Kampfbombers im syrisch-türkischen Grenzgebiet andererseits
(1) dominieren die Schlagzeilen in der europäischen Presse. Dabei zeigt sich
immer mehr, dass es sich nicht um isolierte, sondern miteinander verbundene
Probleme handelt. In deren Mittelpunkt steht neuerdings die Türkei oder besser
gesagt deren Präsident Recep Tayyip Erdogan, den die Europäer immer noch wie
einen Demokraten behandeln obwohl er das genau genommen längst nicht mehr ist.
Verhandelt die EU die Flüchtlingsfrage mit einem neuen türkischen Sultan?
Mit der jüngst erlangten absoluten Mehrheit
seiner Partei im türkischen Parlament unternimmt Erdogan einen neuen Versuch die
Verfassung zu ändern, um seine Macht zu vergrößern. Sein Ziel ist dabei eine
Präsidialherrschaft. (2) (3) Sein Schwiegersohn wird Minister im neuen
Kabinett. (4) Auch das ist ein Zeichen, wohin die Reise in der Türkei geht.
Ob Oppositionelle, Demonstranten, Journalisten,
Juristen oder Richter, nichts und niemand in der Türkei ist inzwischen mehr sicher
vor Präsident Erdogans Zugriff. Die Türkei, das ist Erdogan. Das von ihm als
Ministerpräsident veranlasste brutale Vorgehen gegen die Proteste im Gezi-Park ist
unvergessen. (5) Unvergessen ist auch, wie er Youtube und Twitter sperren,
unliebsame Akteure bei der Polizei und in der Justiz verhaften oder versetzen ließ
(6), als seine Regierungspartei AK aufgrund von massiven Korruptionsvorwürfen
in eine schwere Krise geriet, für die er dann „ausländische Kräfte“
verantwortlich machte. (7) Er führt Krieg gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei
PKK (und im Grunde auf andere Weise auch gegen die politische Opposition), der die
türkische Regierung – inzwischen nur noch eine Art verlängerter Arm Erdogans – anfangs
neben dem IS eine Mitschuld am Terroranschlag auf eine pro-kurdische
Friedensdemonstration in Ankara gab. (8) Das war eine groteske Behauptung.
Das jüngste Beispiel für die Ausübung
seiner Macht: Er selbst beantragte bei der Staatsanwaltschaft die Verhaftung
zweier prominenter türkischer Journalisten wegen angeblicher Spionage und Geheimnisverrats.
Der Grund: Sie wollen laut von ihnen veröffentlichten Berichten in Recherchen
herausgefunden haben, dass der türkische Geheimdienst im Januar für den IS
bestimmte Waffen über die türkisch-syrische Grenze schmuggelte. (9) (10) Das
wird von ihm inzwischen kaum mehr ernsthaft dementiert. (11)
All das hält die Vertreter der
Europäischen Union nicht davon ab, Erdogan Geld und eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen
anzubieten und zwar schlicht deswegen, weil sie auf diese Weise das ihnen über
den Kopf wachsende Flüchtlingsproblem zu lösen hoffen. (12) So viel zu den
Werten und Prinzipien Europas.
Erdogans Türkei: Neue Regionalmacht oder zwischen den Stühlen?
Die Ukraine, in den Augen der EU trotz des
nach wie vor starken politischen Einflusses von Oligarchen und rechtsextremen
Kräften eine Demokratie, ist hingegen nahezu gänzlich aus den Schlagzeilen
verschwunden. Dennoch ist sie nach wie vor Teil des geopolitischen
Problemgefüges, das anhaltend Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten
verursacht, wobei im „Osten“ Russland und China in den grundlegenden geopolitischen
Fragen an einem Strang ziehen. Der Iran ist Teil dieser östlichen politischen Allianz
und Syrien steht neben der Ukraine im Zentrum der Spannungen zwischen Ost und
West. Die Türkei hingegen steht genau zwischen den Fronten.
Das ist ein Ergebnis von Erdogans Politik,
aber nicht wirklich ein Erfolg, weil er sich mithin abwechselnd sowohl mit dem
Westen als auch mit dem Osten anlegt. Mal unterstellt er den USA indirekt, sie
steuerten Demonstrationen in der Türkei, um das Land zu destabilisieren. Dann
wieder schießt er einen russischen Kampfbomber ab und erwartet Rückendeckung
und Schutz der amerikanisch dominierten NATO. Dasselbe Spiel betreibt er mit
Russland. Er schließt einerseits Wirtschaftsabkommen mit Russland und konterkariert
damit die wegen des Ukrainekonflikts gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen.
(13) Jetzt schießt er einen russischen Jet ab, weil dieser den türkischen Luftraum
verletzt haben soll, was Russland vehement bestreitet.
Erdogan scheint auf diese Weise die Türkei
als von Ost und West unabhängigen, neuen politischen Machtfaktor, als Regionalmacht
etablieren zu wollen. (14) Bleibt er jedoch seiner provokanten,
widersprüchlichen außenpolitischen Linie treu, dann könnte die Türkei am Ende politisch
leicht zwischen den Stühlen landen. Denn weder die USA noch Russland werden
sich von Erdogan vorführen lassen. Der russische Präsident Putin gibt ihm mit
seiner Absage für ein persönliches Gespräch wegen des Abschusses der russische
Su-24 an der türkisch-syrischen Grenze gerade genau das zu verstehen. (15)
Lässt sich die EU von Erdogan vorführen?
Die Europäische Union hingegen scheint
bisher der einzige große politische Spieler zu sein, der alle Launen eines neuen türkischen
Sultans Erdogan (16) mitmacht und über seine zunehmend autokratischen Züge und
deren Folgen geflissentlich hinwegsieht. Einmal mehr beweist sie damit, dass
sie keine klare, eigenständige außenpolitische Linie hat und dass sie vor allem
nicht in der Lage ist, das Flüchtlingsproblem alleine und klug zu lösen. Wir
erinnern uns: Auch die europäische Schuldenkrise konnte oder wollte die EU
nicht alleine lösen. Deswegen holte sie den Internationalen Währungsfonds (IWF)
mit ins Boot.
Doch beides, die Flüchtlingskrise und die
schwache EU-Außenpolitik, hängt zusammen. Denn das Flüchtlingsproblem ist im
Kern eine Folge der Konturlosigkeit und der schwachen Performance der
europäischen Außenpolitik in Syrien und im ganzen Nahen Osten. Dass Deutschland
Frankreich im Kampf gegen den IS zur Seite springt, ist dabei im Grunde lediglich
die Simulation eines einigen, vor allem außenpolitisch einigen und starken Europas.
Die Türkei ist damit anders als von
führenden europäischen Politikern behauptet nur bedingt Schlüssel zur
Bewältigung der Flüchtlingskrise. Sich in der Flüchtlingsfrage primär auf die
Türkei zu fokussieren, kann deswegen durchaus auch als ein Ausweichen vor der eigenen
geopolitischen Verantwortung für die Lösung der Krise in Syrien und im Irak interpretiert
werden. Das Bild eines selbstbewussten Europas ist es in jedem Fall nicht. Mehr
noch beschädigt die EU ihre politische Glaubwürdigkeit, wenn sie mit einem
Regime, das immer mehr autokratische Züge aufweist, verhandelt und ihm weitreichende
Angebote macht, ja, das so regierte Land sogar in die EU aufzunehmen anbietet.
Löst Putin das Flüchtlingsproblem für die EU?
Es wäre eine Ironie, aber es ist durchaus denkbar,
dass das von der EU mit Sanktionen belegte Russland mit seiner Syrienpolitik am
Ende entscheidend zur Lösung des europäischen Flüchtlingsproblems beiträgt. Die
Symbolik wäre ebenso unverkennbar wie beschämend: Europa ist schwach, es ist
von den Launen und politischen Schritten der USA, Russlands und sogar der
Türkei abhängig.
Wann wachen die politischen Führer Europas
endlich aus ihrem Traum von der eigenen Stärke und Entschlossenheit auf? Erst
dann, wenn sie ihre außenpolitische Glaubwürdigkeit verspielt haben oder die EU
als Ergebnis ihrer inkonsistenten, richtungslosen Politik zerfällt?
Das sind Fragen, die reichlich Stoff zum
Nachdenken bieten sollten. Die EU tuat sich in der Schuldenkrise schwer, in der
Ukrainekrise und jetzt auch in der Flüchtlingskrise. Doch noch immer scheint
sich in Brüssel und in den großen Hauptstädten der EU niemand erkennbar und
ernsthaft mit der politischen und wirtschaftlichen Realität zu befassen. Es
müsste, wie Bundespräsident Herzog einst formulierte, endlich „ein Ruck“ nicht
durch Deutschland, sondern durch Europas politische Führung gehen. Doch davon
sind wir, wie es scheint, noch Lichtjahre entfernt. Das verheißt für die
Zukunft der EU nichts Gutes.
"Es wäre eine Ironie, aber es ist durchaus denkbar, dass das von der EU mit Sanktionen belegte Russland mit seiner Syrienpolitik am Ende entscheidend zur Lösung des europäischen Flüchtlingsproblems beiträgt." Wie das?
AntwortenLöschenAnsonsten: "Erdogan mach' uns den Gaddafi oder: ist der Ruf erst runiert, lebt es sich ganz ungeniert!"