Sonntag, 6. Dezember 2015

Konsequenzen der europäischen Krisenpolitik: Aufstieg oder Zerfall der Europäischen Union?



Ist die Europäische Union mit ihrer Krisenpolitik auf dem richtigen Weg?
Glaubt man führenden Politikern, dann ist das der Fall. Die Fakten und eine Reihe von Veränderungen und vor allem immer wieder auftretende sowie anhaltende Streitigkeiten über den krisenpolitischen Kurs strafen sie indes Lügen. Das wirft eine wichtig Frage auf: Was macht diese Krisenpolitik eigentlich aus der Europäischen Union? Oder anders ausgedrückt: Fördert oder schadet sie unter dem Strich der EU in der mittel- und langfristigen Betrachtung?

Die europäischen Verträge haben sich als „Schön-Wetter“-Verträge erwiesen

Die Europäische Union hat den Krisenmodus genau genommen seit September 2008, als die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers die Welt in die Finanzmarktkrise stürzte, nicht mehr verlassen. Bankenkrise, Weltwirtschaftskrise, Schuldenkrise und Euro-Krise wurden abgelöst von einer außenpolitischen Krise, nämlich der Ukraine-Krise, die anhaltende Spannungen mit Russland hervorrief. Seit Monaten nun steckt die Europäische Union in der Flüchtlingskrise fest. Eine klare und von der Gemeinschaft aller Mitgliedstaaten mitgetragene Lösung gibt es noch immer nicht. Doch auch die anderen, zuvor genannten Krisen scheinen nur vorläufig, nicht jedoch nachhaltig behoben worden zu sein. Die anhaltende Nervosität an den Börsen zeigt ebenso wie die gestiegene Volatilität, dass mit einem Wiederaufflammen alter Krisenherde gerechnet wird.
Es ist kein Zufall, dass die Europäische Union den Krisenmodus seit Ende 2008 nicht mehr verlassen hat. Denn erstens zeigt sich seitdem immer wieder aufs Neue, das die Europäischen Verträge auf die Bewältigung schwerwiegender Herausforderungen nicht ausgelegt worden sind. Es sind, wie sich längst gezeigt hat, bildlich gesprochen „Schön-Wetter“-Verträge. Die Konsequenz: Zähe, lähmende Verhandlungen und fortwährende Streitigkeiten in Krisensituationen, die entweder lediglich Lösungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner hervorbringen oder, wie zuletzt scheinbar immer häufiger, mit der Brechstange durchgesetzte Lösungen, die von einigen Regierungen nur mit der Faust in der Tasche akzeptiert werden. Zweitens ist der Erfolg der „Krisenlösungen“ allenfalls bescheiden gewesen, wird aber in größeren Teilen der Bevölkerung besonders betroffener Mitgliedstaaten klar als Misserfolg bewertet. Das schwindende Vertrauen in Europa ist ein Beleg dafür.

Die Flüchtlingskrise verschärft noch einmal die ohnehin schon großen innereuropäischen Spannungen

Die Flüchtlingskrise hat die Europäischen Union zuletzt eine neue Eskalationsstufe erklimmen lassen: Die Slowakei und Ungarn klagen vor dem EuGH gegen die per Mehrheitsbeschluss durchgesetzte Flüchtlingsquote (1); die dänische Bevölkerung hat sich vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingspolitik in einem Referendum gegen eine vertiefte Zusammenarbeit Dänemarks mit der EU im Bereich der Justiz- und Innenpolitik entschieden (2).
Es sieht deswegen eher nach Realitätsverweigerung aus, wenn beispielsweise deutsche Politiker Donald Tusk, dem Präsidenten des Europäischen Rates, jetzt vorwerfen, er würde mit seiner Kritik an der Flüchtlingspolitik der EU und an der Bundeskanzlerin sowie mit seiner Forderung nach einer politischen Kehrtwende (3) zur Spaltung Europas beitragen. (4) Offensichtlich trifft das Gegenteil zu. Tusk hat erkannt, dass der aktuelle Kurs in der Flüchtlingspolitik in der Gemeinschaft der Staaten auf große Widerstände stößt und die Union Schaden zu nehmen droht, wenn er mit der Brechstange durchgesetzt wird.
Man mag trefflich darüber streiten, wer nun wirklich recht hat – jedenfalls so lange die aktuelle Flüchtlingspolitik noch keine für den Zusammenhalt der EU unbestreitbar negativen Folgen zeitigt.

Was hat die europäische Krisenpolitik aus Europa gemacht?

Gleichwohl gibt es, wie oben angesprochen, durchaus ernstzunehmende Entwicklungen, die als Alarmsignal für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Europäischen Union gewertet werden müssen.
Was an dieser Stelle hervorgehoben werden muss, ist, dass Europa keineswegs allein durch die Flüchtlingskrise in eine solche schwierige Lage geraten ist. Im Gegenteil hat sich die Europäische Union im Zuge der oben genannten Krisen mit ihrer Krisenpolitik und vor allem auch mit der Art wie sie durchgesetzt wurde sukzessive in diese Lage gebracht. Dazu beigetragen hat die Tatsache, dass die von ihren Befürwortern immer als erfolgreich verkaufte Krisenpolitik faktisch regelmäßig allenfalls mäßig erfolgreich gewesen ist und auf der anderen Seite von großen Teilen der Bevölkerung betroffener Mitgliedstaaten negativ beurteilt wird.
Das gilt etwa für den gewählten austeritätspolitischen Kurs zur Sanierung der Staatsfinanzen von – infolge der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise – in die Verschuldung abgerutschte Mitgliedstaaten.

Schuldenkrise und Austeritätspolitik als Lösung: Politische Nebenwirkungen

Griechenland ist, anders als von führenden Vertretern der Euro-Gruppe 2010 behauptet, kein Einzelfall geblieben. Es folgten Portugal, Spanien und Italien. Und anders als behauptet, hat auch das erste Hilfspaket für Griechenland nicht ausgereicht, um das Land wieder auf Kurs zu bringen – finanziell und wirtschaftlich. Im Gegenteil ist die Staatsverschuldung Griechenlands immer weiter gestiegen. Mehr noch hat auch der Schuldenschnitt im Jahr 2012 an der negativen Entwicklung nichts geändert. Jetzt wird von vielen ein weiterer Schuldenerlass für unausweichlich gehalten. Griechenlands Wirtschaft wurde in eine Abwärtsspirale versetzt. Die Lage ist ebenso wie auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor katastrophal. Dasselbe gilt mit Blick auf das Ausmaß an Armut und sozialer Ausgrenzung.
Die von der Linkspartei SYRIZA und ihrem Vorsitzenden Alexis Tsipras geführte griechische Regierung, die im Januar 2015 an die Macht gewählt worden war, hatte sich deswegen monatelang gegen die Fortsetzung des von der Euro-Gruppe geforderten krisenpolitischen Kurses gewehrt. Allerdings hatte sie keine überzeugende Alternative vorlegen können. Die Euro-Gruppe nutzte dann die prekäre finanzielle Lage des Landes dazu, einmal mehr nicht nur die Fortsetzung des austeritätspolitischen Kurses in Griechenland durchzusetzen. Vielmehr wurde dieser nochmals verschärft. Tsipras selbst sprach vor dem griechischen Parlament davon, von der Gläubigergruppe erpresst worden zu sein und dass er die Bedingungen gegen seine eigene Überzeugung erfülle, weil er keine Wahl habe.
Seinerzeit wurde angesichts dessen hier im Blog warnend darauf hingewiesen, dass der Preis für die Durchsetzung eines verschärften austeritätspolitischen Kurses in Griechenland ein Kollaps des dortigen politischen Systems sein könnte (5) oder anders ausgedrückt: Weimarer Verhältnisse. Zwei Monate später, am 20. September, wurden in Griechenland Neuwahlen abgehalten, die die Regierungskoalition von Alexis Tsipras zwar bestätigten, aber deren Mehrheit im Parlament von zwölf auf fünf Sitze zusammenschmelzen ließ. (6)
Die gemäß Vorgaben der Gläubiger durchs Parlament zu bringenden Reformschritte haben jedoch bereits bei der zweiten Abstimmung über entsprechende Maßnahmen Anfang November zu Abweichlern geführt. Zwei der insgesamt 155 Abgeordneten der Regierung verweigerten ihre Zustimmung. (7) Es wird deswegen für die Abstimmung über die nächsten Reformmaßnahmen, die noch im Dezember erfolgen soll, durchaus für möglich gehalten, dass Tsipras dafür keine Mehrheit mehr bekommt. (8) Das dürfte faktisch das Ende der Regierung und Neuwahlen bedeuten. Angesichts neuer, massiver Proteste und Streiks gegen den austeritätspolitischen Kurs in Griechenland ist der Ausgang einer erneuten Wahl höchst ungewiss. Möglicherweise stehen Griechenland dann endgültig Weimarer Verhältnisse bevor, das heißt politisch gesehen ein zersplittertes Parteiensystem mit unklaren Mehrheitsverhältnissen im Parlament, die das Regieren im Land nahezu unmöglich machen.
Griechenland ist auch in dieser Hinsicht kein Einzelfall. In Portugal hat sich das politische System infolge der letzten Wahl in dieselbe Richtung entwickelt. Das liberal-konservative Parteienbündnis (liberal-konservative PSD und konservative Volkspartei PP) von Ex-Premier Passos Coelho hatte die Wahl Anfang Oktober zwar gewonnen, aber die Mehrheit verfehlt. (9) Dennoch hatte ihn Präsident Aníbal Cavaco Silva mit der Regierung beauftragt. (10) Die scheiterte jedoch bei der ersten Abstimmung im Parlament. Ein Misstrauensvotum der Opposition brachte sie nach nur elf Tagen zu Fall. (11)
Seit wenigen Tagen nun hat Portugal eine neue, sozialistische Regierung, die aber nur eine von Kommunisten und Grünen (CDU) sowie vom marxistischen Linksblock (BE) tolerierte Minderheitsregierung ist. Zusammen verfügen sie über 122 der insgesamt 230 Sitze im Parlament. (12) Das entspricht einer Mehrheit von sieben Stimmen. Allerdings sind die pro-europäischen Sozialisten und die portugiesischen Kommunisten eigentlich traditionell tief verfeindet. Die Gegensätze sind nicht ausgeräumt. Was sie eint, ist lediglich die Ablehnung des bisherigen austeritätspolitischen Kurses der konservativen Vorgänger-Regierung. Insofern ist die neue Regierung sehr fragil und es ist fraglich, wie lange sie sich überhaupt halten kann. Es ist folglich nicht auszuschließen, dass es in Portugal in absehbarer Zeit ebenfalls zu Neuwahlen kommt.
Auch in Spanien stehen bei den Parlamentswahlen am 20. Dezember umwälzende Veränderungen im politischen System an und das ist eine Folge des austeritätspolitischen Kurses, aber auch politischer Skandale der Regierungspartei.
Die konservative Partido Popular (PP) von Premier Mariano Rajoy wird allen Umfragen zufolge ihre absolute Mehrheit klar verlieren und es steht das Ende bisherigen des Zwei-Parteien-Systems bevor, denn auch die Sozialisten (PSOE) werden keine Mehrheit erhalten. Zwei neue Parteien werden stattdessen ins Parlament einziehen: Die mit SYRIZA in Griechenland vergleichbare Linkspartei „Podemos“, die in den Umfragen der letzten Wochen bei 10-17 Prozent der Stimmen liegt; die sozialliberale Partei Ciudadanos (C´s) (Bürger), die in Umfragen auf 17-22 Prozent der Stimmen kommt.
Die regierende PP liegt in den Umfragen bei nur noch 23-29 Prozent. Das ist gegenüber dem Wahlergebnis von 2011 ein Minus von 15-21 Prozentpunkten. Die PSOE kommt in den letzten Umfragen auf 18-24 Prozent der Stimmen und liegt damit aktuell 5-11 Prozentpunkte unter ihrem Ergebnis bei der letzten Parlamentswahl im Jahr 2011.
Damit ist klar, dass die nächste Regierung in Spanien entweder eine Koalitionsregierung oder eine Minderheitsregierung sein wird. Zwar könnte die regierende PP wieder stärkste Kraft im Parlament werden, aber zum Regieren wird es nicht reichen. Ob sie einen Koalitionspartner findet, ist unklar. Die POSE will den austeritätspolitischen Kurs der Regierung beenden. Auch Podemos hat sich klar dagegen positioniert. Allein die Partei Ciudadanos hat sich nicht klar festgelegt. Im Mai hatte deren Parteichef, Albert Rivera, jedoch noch gesagt, dass er zur Bildung fester Koalitionen nicht bereit sei, sich aber eine Duldung einer PP- oder POSE-Minderheitsregierung vorstellen könnte. (13) Ob diese Aussage Bestand hat, ist fraglich.
Im neuen Parlament könnten den Umfragen zufolge bis zu 16 Parteien vertreten sein. Gegenwärtig sind es dreizehn. Die Proteste auf den Straßen fordern ihren Tribut. Das Regieren in Spanien wird damit komplizierter. Eine zumindest partielle Abkehr von der Austeritätspolitik ist wahrscheinlich.

Konsequenzen der Flüchtlings- und Ukrainepolitik der EU

Aus den jüngst abgehaltenen Parlamentswahlen in Polen ist die erzkonservative PiS (Recht und Gerechtigkeit) von Jaroslaw Kaczynski als klarer Sieger hervorgegangen und regiert das Land alleine. Was das Stimmgewicht auf europäischer Ebene anbelangt, steht Polen auf einer Stufe mit Spanien. Polen ist mit der neuen konservativen Regierung eindeutig europakritischer geworden und das wird sich bei künftigen Entscheidungen auf europäischer bemerkbar machen.
Generell lässt sich festhalten, dass die Haltung osteuropäischer Staaten zur EU im Zuge der Schulden- und zuletzt auch der Flüchtlingskrise kritischer geworden ist. Polen, die Slowakei, Ungarn, aber auch Tschechien sind Beispiele dafür.
Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Außenpolitik der EU in der Ukrainekrise, die sich sehr stark gegen Russland richtete, der Spaltung der Bevölkerung in den osteuropäischen Staaten Vorschub geleistet oder anders ausgedrückt die kritische Haltung gegenüber der EU verstärkt haben dürfte. Denn es wurde bei dieser krisenpolitischen Linie offensichtlich zu wenig berücksichtigt, dass in den osteuropäischen Staaten immer noch ein nicht geringer Anteil der Bevölkerung pro-russisch eingestellt ist und infolgedessen der europäischen Ukraine- und Russlandpolitik kritisch gegenüber stehen würde. Daneben schaden die Sanktionen gegen Russland Europa aber auch wirtschaftlich.
Auf der anderen Seite gibt es aber auch im Westen der EU Widerstände gegen die europäische Urkraine-Politik. So hat sich eine europakritische Bürgerinitiative in den Niederlanden das Recht eines Referendums über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine erkämpft. (14) Die Initiative lehnt das Abkommen ab.

Europaskepsis in Großbritannien und Frankreich

In Großbritannien ist die Europaskepsis ohnehin groß. In einem Referendum werden die Briten möglicherweise schon in 2016 über den Verbleib in der Europäischen Union entscheiden. (15) Und in Frankreich ist der Front National von Marine Le Pen auf dem Vormarsch, der ebenfalls nationalistisch und europakritisch eingestellt ist.
Selbst in den großen Mitgliedstaaten ist der Rückhalt für die Europäische Union und ihre Krisenpolitik nicht mehr sicher.

Europäische Krisenpolitik: Konsequenzen für Europa als Wirtschafts- und Währungsraum

Mehr noch dümpelt die Europäische Union nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich vor sich hin. Daran hat die lockere Geldpolitik der EZB bisher nichts ändern können. Im Gegenteil haben sich die wirtschaftlichen Ungleichgewichte über die Jahre sogar weiter verstärkt. (16)
Unter dem Strich sind die vielleicht einfachsten, zugleich aber auch überzeugendsten Indikatoren dafür, was die europäische Krisenpolitik bewirkt und wohin sie die EU wirtschaftlich in den letzten Jahren geführt hat, die Entwicklung des Wechselkurses des Euro zum Dollar – sofern man davon ausgeht, dass sich darin vor allem auch die relative Wirtschaftskraft und die Wirtschaftsperspektiven eines Währungsraumes widerspiegeln – und die Entwicklung der Bedeutung des Euro im internationalen Zahlungsverkehr:

  • Im Mai 2011 stand der Euro bei 1,50 Dollar, Anfang Dezember 2015 notierte er nur noch bei 1,06 Dollar und die Deutsche Bank rechnet in einer aktuellen Prognose (17) damit, dass er 2016 auf 0,85 Dollar fallen könnte.
  • Hatte der Euro im internationalen Zahlungsverkehr im Januar 2012 laut Swift noch einen Anteil von 44,04 Prozent (18), so lag dieser im September 2015 bei nur noch 28,63 Prozent (19).

Vor diesem Hintergrund ist es keine Überraschung, dass sich die Gewichte der Leitwährungen bei der durch die Aufnahme des chinesischen Yuan bedingten Neuordnung des Währungskorbes des Internationalen Währungsfonds hauptsächlich zu Lasten des Euro verschoben haben:

  • Das Gewicht des Euro sinkt von 37,4 auf nur noch 30,93 Prozent. Damit gibt der Euro den Löwenanteil dessen ab, was der Yuan künftig im Währungskorb (bestehend aus Dollar, Euro, Pfund, Yen und Yuan) repräsentiert (10,92 Prozent).
  • Der US-Dollar hingegen behält sein Gewicht nahezu unverändert bei (41,73 Prozent gegenüber 41,9 Prozent zuvor). (20)


Die EU hat sich mit ihrer Krisenpolitik sukzessive der wichtigsten Grundlage ihres Zusammenhalts beraubt

Um dies richtig einordnen und bewerten zu können, ist es wichtig daran zu erinnern, was die Europäischen Gemeinschaften seit dem ersten großen Integrationsschub Mitte der 80er Jahre und die Europäische Union seit Anfang der 90er Jahre bis heute im Kern tatsächlich gewesen sind: Eine Gemeinschaft bzw. Union, bei der es hauptsächlich um wirtschaftliche und finanzielle Vorteile ging.
Das gilt im Übrigen ebenso für die Währungsunion und die Erweiterung der Europäischen Union. Die treibende Kraft aller wichtigen Integrationsschritte waren an erster Stelle stets die daraus zu generierenden und zu verteilenden wirtschaftlichen und finanziellen Vorteile. Das war der Kitt, der die Europäische Union bisher zusammengehalten hat. Das vertraglich festgelegte Ziel der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Kohäsionsziel) sowie das „Europa der Bürger“ sind dagegen Makulatur geblieben. Auch um dieses Ziel steht es heute allerdings schlechter als je zuvor.
Die politischen Antworten, die die europäischen Staats- und Regierungschefs und die EZB für die sich in den letzten Jahren aneinander reihenden Krisen fanden und implementierten, haben, wenn man die vorangegangenen Betrachtungen zugrunde legt, der Europäischen Union wirtschaftlich und politisch eindeutig mehr geschadet als genutzt. Die auf die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit und die Verteilung von Vorteilen fokussierte Europäische Union von einst hat sich seit der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise infolge ihrer Krisenpolitik immer mehr zu einer Gemeinschaft gewandelt, in der es nur noch darum geht, Kosten und Lasten zu verteilen. Und die Art wie diese verteilt werden, stößt auf große Widerstände. Denn dabei gibt es im Unterschied zur Politik vor 2008 – wie etwa der Fall Griechenland, aber auch die Flüchtlingskrise verdeutlichen – nicht mehr nur Gewinner, sondern echte Verlierer. Die sich verstärkenden wirtschaftlichen Ungleichgewichte sind Ausdruck dessen und die sich verstärkenden nationalistischen bzw. europakritischen Tendenzen in den Mitgliedstaaten sind es auch.
Genau das oder anders ausgedrückt die Unfähigkeit, wirtschaftliche Vorteile für alle zu generieren, ist es, was die Europäische Union zunehmend auseinanderdividiert. Vor diesem Hintergrund ist die Bilanz der europäischen Krisenpolitik seit 2008 eindeutig viel schlechter als von führenden Politikern behauptet und es ist nicht überzogen, die Lage und Perspektive der Europäischen Union mit folgender Frage auf den Punkt zu bringen:
Wann kommt der Zeitpunkt, an dem sich nach Großbritannien weitere Mitgliedstaaten die Frage stellen, ob sie nicht besser dran sind ohne Mitgliedschaft in der Europäischen Union?
Was sie aus der Europäischen Union zu machen im Begriff sind, das scheint jedoch noch nicht ins Bewusstsein der führenden politischen Entscheider im Europäischen Rat eingedrungen zu sein. Kein Wunder eigentlich. Sie erleben die Konsequenzen ihre Entscheidungen ja auch nicht selbst vor Ort mit.

4 Kommentare:

  1. Eine Perspektive, hat der Autor trotz der vielen Worte nicht zu bieten. Wenn Sie ein Problem haben, dann bringen Sie einen Lösungsvorschlag mit, sonst sind Sie Teil des Problem.

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    1. Hallo Herr Schulze,

      und Sie haben kein Problem?

      Viele Grüße
      Lothar

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    2. "Wenn Sie ein Problem haben, dann bringen Sie einen Lösungsvorschlag mit, sonst sind Sie Teil des Problem."

      Autsch, solche Sprüche tun ja weh. Man wird also zum Teil des Problems, wenn man es diagnostiziert, aber keine Lösung parat hat?

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  2. Hallo Herr Schulze,

    selbstverständlich habe ich Lösungsvorschläge. Wenn Sie einmal in das Archiv dieses Blogs schauen, werden sie sicher einer ganze Reihe von Aufsätzen finden, die Lösungsansätze thematisieren.

    Im Übrigen muss ich Sie dann doch auch fragen, ob es nicht so ist, dass die genaue Analyse und ein gute Diagnose der Schlüssel zur Lösung sind?

    Die europäischen Entscheider haben offensichtlich Schwierigkeiten, ihr Problem zu erkennen. So lange das Problembewusstsein nicht oder nur in unzureichendem Maße existiert, ist jeder Lösungsvorschlag vergebens.

    Doch wie gesagt, schauen Sie mal in mein Archiv.

    Viele Grüße
    SLE

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