Jetzt ist in Großbritannien alles klar –
nun ja, eigentlich nicht alles, sondern lediglich die Frage der politischen
Führung: Theresa May wird David Cameron als Premierminister ablösen und zwar
nicht erst irgendwann im September, sondern wahrscheinlich schon am morgigen Mittwoch.
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Politischer Stillstand bis September wäre ein Unding gewesen
Bei den Konservativen hat sich offenbar letztlich
doch noch irgendwie die Erkenntnis Bahn gebrochen, dass man die Finanzmärkte
und die britische Wirtschaft wohl kaum bis September vor sich hin reagieren
lassen kann, sondern dass es rasch Entscheidungen zu treffen und vor allem zu
handeln gilt.
George Osborne, der britische
Schatzkanzler und Mark Carney, der britische Notenbankchef, haben nicht ohne
Grund eindringlich vor den Konsequenzen eines Votums zugunsten des Ausstiegs
aus der EU für die britische Wirtschaft gewarnt. Sie müssen es wissen. Osborne
hat errechnen lassen, dass die britische Wirtschaftsleistung in den kommenden
beiden Jahren um bis zu sechs Prozent zurückgehen könnte. Er sprach von einer
hausgemachten Rezession. Mark Carney hat kein ganz so düsteres Bild zeichnen
wollen, aber eine Rezession hält auch er für möglich, eine wirtschaftlichen
Abschwung für sicher. (2)
Die Hütte brennt
Eines muss allerdings angesichts der
Klärung der Frage, wer die politische Verantwortung von David Cameron übernimmt,
jedem klar sein: Die Ungewissheit über die politische Führung war ohnehin nicht
Großbritanniens größtes, aus dem Brexit-Votum abgeleitetes Problem, sondern die
Unsicherheit darüber wie schwer es die britische Wirtschaft und Finanzindustrie
letztlich treffen wird. Den wirtschaftlichen Schaden kann die Politik aber nur
zum Teil beeinflussen.
Die Kurse von Bankaktien sind seit dem
Brexit-Votum in Großbritannien und ganz Europa ohnedies auf Talfahrt. Kursverluste
von 30, 40 Prozent sind keine Seltenheit. Die großen Ratingagenturen haben zudem
begonnen, den Daumen über die Kreditwürdigkeit britischer Großbanken zu senken.
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Das alles lässt sich nicht mehr im
Handumdrehen beheben oder rückgängig machen und nicht zu vergessen: Das
britische Pfund hat seit dem Tag vor dem britischen Referendum von 1,51 Dollar
auf 1,30 Dollar bzw. um 14 Prozent abgewertet.Griechische Verhältnisse auf der Insel?
Ex-Pimco-Chef Mohamed El-Erian hat jüngst
davor gewarnt, es könne sogar bis auf Parität zum Dollar abstürzen, sollten die
britischen Politiker nicht bald einen Plan B, wie es nun außerhalb der EU weitergehen
soll, zusammenbekommen. (7) Für ein Land wie Großbritannien, das weitgehend
deindustrialisiert ist und dessen Wirtschaft in hohem Maße vom Finanz- und
Immobiliensektor getragen wird, das eine hohe Abhängigkeit von Importen und ein
längst chronisch gewordenes Leistungsbilanzdefizit aufweist, entstehen aber
auch schon durch die bisherige Abwertung des Pfunds um 14-Prozent und durch den
massiven Abzug von Kapital ernste Probleme. (8)
Denn nicht nur das Leben auf der Insel
wird teurer, sondern auch die Staatsfinanzierung gerät ins Schleudern. Wenn die
Regierung in London den Kapitalabfluss nicht stoppen und umkehren kann, wird
sie das Leistungsbilanzdefizit nicht mehr ausgleichen können. Dann wird es
drastische Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen geben müssen – ähnlich wie
beispielsweise in Griechenland. Finanzminister Osborne hat das bereits in
Aussicht gestellt.
Das Warten auf „Plan B“ geht weiter
Ein „Plan B“ ist allerdings auch jetzt
noch nicht in Sicht. Die Tories haben nur wenigstens schon einmal die
Cameron-Nachfolge geklärt und den politischen Stillstand beendet. In
Großbritanniens Krisenküche brodelt derweil der Problemcocktail aber kräftig weiter.
Theresa May, die künftige Premierministerin, übt sich dennoch in Zuversicht:
Als Premierministerin, so sagte sie gestern am Nachmittag, werde sie aus dem
Austritt aus der EU eine Erfolg machen. (9) Sicher, das ist das, was die Briten
gerne hören wollen, vor allem jene, die für den Brexit votierten. Nüchtern
betrachtet wirft ihr Versprechen jedoch die Frage auf, ob sie das Ausmaß des
Umbruchs und der Brexit-Krise wirklich erfasst hat.
Es scheint im Moment jedenfalls nicht allzu
viele zu geben, die sich vorstellen können wie der Brexit für Großbritannien zu
einem Erfolg werden könnte. Selbst wenn sie noch so hart mit der EU verhandelt
– unter dem Strich kann dabei nichts herauskommen, was den innerhalb der EU
erreichten wirtschaftlichen Status Quo Großbritanniens zu erhalten vermag. Das
ist ein Ding der Unmöglichkeit. Es geht bei den Verhandlungen mit der EU also
von vornherein nur um Schadensbegrenzung.
Das ist zudem lediglich die EU-Seite des
Brexit-Problems. Hinzu kommt, dass Großbritannien auseinander zu brechen droht,
weil Schottland und vielleicht ebenso Nordirland die EU und deswegen die
Unabhängigkeit wählen.
Wie reagieren Wirtschaft, Finanzmärkte und andere Länder?
Doch das sind politische Fragen, die in
den nächsten Wochen und Monaten noch gar keine Brisanz entfalten werden. Ganz
anders verhält es sich mit der Unsicherheit über die tatsächlichen Entwicklungen
auf dem britischen Immobilien- und Finanzmarkt sowie in der britischen
Wirtschaft. Denn jeder weiß, dass die Regierung zwar alles menschenmögliche
unternehmen wird. Aber wie die Akteure in der Wirtschaft, an den Finanzmärkten
und Regierungen in Ländern außerhalb der EU, z.B. China, die Aussichten
bewerten und wie sie auf die politischen Schritte Londons und auf die veränderte
Lage reagieren, lässt sich schwer abschätzen und noch schlechter kontrollieren.
Was daraus entstehen kann, wenn einen
Immobilienpreisblase platzt, wissen wir spätestens seit der US-Hypothekenkrise
von 2007, die Bankpleiten (u.a. Bear Sterns) und später die globale Finanzmarkt
und Weltwirtschaftskrise auslöste. Was das Brexit-Votum wirklich alles in Gang
gesetzt hat oder noch in Gang setzen wird, das wissen wir nicht. Denn das ist
ohne historisches Beispiel. Einen Austritt aus der EU hat es noch nicht gegeben.
Und Großbritannien ist nicht Griechenland, sondern bisher wie Deutschland und
Frankreich eine der tragenden wirtschaftlichen Säulen der EU und die tragende
Säule des europäischen Finanzsektors schlechthin.
Das Brexit-Votum als Katalysator für eine neue europäische Bankenkrise?
Es muss klar sein, dass eine neue
Bankenkrise in Europa nicht mehr ausgeschlossen werden kann. Besonders heikel:
die italienischen Banken. Sie sind mit faulen Krediten im Wert von insgesamt
360 Milliarden Euro schon länger das Sorgenkind Nr. 1 in Europa. Jetzt wird
über eine Bankenrettung debattiert und nicht nur der Chefvolkswirt der
Deutschen Bank (10) sieht durch Italiens Problembanken und wegen des
Brexit-Votums inzwischen die Stabilität des europäischen Finanzmarktes ernsthaft
bedroht. (11) Er fordert ein neues Bankenrettungsprogramm im Volumen von 150
Mrd. Euro zur Rekapitalisierung von Wackelkandidaten. (12)
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hingegen
sieht gegenwärtig noch keine unmittelbare Notwendigkeit für EU-Hilfen für
Italiens Banken. Vor dem Euro-Finanzminister-Treffen sagte er, erst einmal
müssten die Ergebnisse des Banken-Stresstests abgewartet werden, die in der
zweiten Juli-Hälfte vorliegen sollen. (13) Ähnlich entspannt sieht das auch
Euro-Gruppenchef Jeroen Dijsselbloem. Er erläuterte, die Probleme der
italienischen Banken seien nicht neu, das Thema stelle keine akute Krise dar. (14)
Unabhängig davon pochten beide Finanzminister darauf, dass Italien die neuen EU-Bankenregeln
einhalten muss, das heißt, dass für die Rettung der Banken zuerst die Gläubiger
und Aktionäre zur Kasse gebeten werden bevor es staatliche Hilfen geben kann.
(15)
Alles halb so wild, also? Kein Grund,
mühsam auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande gekommene EU-Regeln über
Bord zu werfen?
Wird die Brexit-Krise von der Politik unterschätzt?
Irgendjemand irrt sich hier. Europas
Chef-Politiker, auch die in Großbritannien, sind offenbar überzeugt davon, dass
sie die Folgen des Brexit-Votums nicht unterschätzen. Die Folgen der
US-Hypothekenkrise wurden von den Politikern unterschätzt, die der
Lehman-Pleite ebenso und das Management der Euro- bzw. europäischen
Schuldenkrise hat das Vertrauen in Europas Politik nicht gerade gefestigt. Ist
also bei der Brexit-Krise alles anders?
Die EU und der europäischen Bankensektor
schleppen immer noch ungelöste Probleme mit sich. Die lockere Geldpolitik hatte
der Euro-Krise die Schärfe genommen, aber damit auch den Druck aufgehoben,
richtig aufzuräumen, sagt auch der ehemalige Chef der Schweizerischen
Nationalbank, Philipp Hildebrand. (16) Das ist ein wesentlicher Grund für die
fragil gebliebene Finanzmarktstabilität. Die Brexit-Probleme kommen nun noch
oben drauf. Dass die Politiker jenseits und diesseits des Kanals auf den
Brexit-Fall nicht vorbereitet waren und es auch jetzt noch keinen Plan dafür gibt,
festigt nur die ohnehin bestehende negative Einschätzung des europäischen Krisenmanagements.
„Kurs halten“ ist die falsche politische Devise – nicht nur für die EU
Vor diesem Hintergrund wirkt die
selbstbewusste Politik des „Drauf ankommen lassen“ und des „Wir schaffen das
schon“ höchst unglaubwürdig. Neun Jahre nach der Lehman-Pleite und nach einer
Reihe von Krisen in Europa ist das kein ermutigendes Zeichen, zumal klar ist
wer dafür bezahlen muss, wenn diese Art von Krisenpolitik (wieder einmal) schief
geht.
Genau das ist es ja, was zum Brexit-Votum
geführt hat. Die britische Bevölkerung wollte mehrheitlich offenbar lieber ein EU-Ende
mit Schrecken als einen EU-Schrecken ohne Ende. Wer kann ihnen das verdenken,
wenn sie regelmäßig für diese Politik zahlen müssen, die nur ein mäßiges wirtschaftliches
Wachstum hervorbringt, aber die Börsen befeuert, wovon allerdings immer nur
wenige profitieren?
Von China lernen
Großbritannien hat allerdings dasselbe
grundlegende Problem wie die EU und der Austritt ist keine Lösung dafür.
Über China wird zutreffend gesagt, dass
die Wirtschaft des Landes das Ende einer Entwicklungsstufe erreicht hat und die
nächst höhere nur mit einer anderen Politik, einem neuen Wachstumsmodell erreicht
werden kann. Die chinesische Regierung hat das erkannt und versucht dies
gerade. Die mit der Umstellung verbundenen Friktionen sind ein wesentlicher
Grund für das sich abschwächende Wirtschaftswachstum dort. Ob der Umbau ohne
wirtschaftlichen Bruch sprich ohne „harte Landung“ abgehen wird, ist noch nicht
klar.
In den Industrienationen und vor allem
auch in der Europäischen Union dümpelt die Wirtschaft jedoch seit der
Finanzmarktkrise nur noch vor sich hin. Die Ungleichgewichte vergrößern sich,
die Gesellschaft ist tief gespalten und die Krise hat längst die Politik erreicht,
was sich nicht zuletzt bei Wahlen und Referenden zeigt.
Doch der Gedanke, dass der Westen und die
EU ebenso wie China und womöglich sogar schon früher als das aufstrebende Reich
der Mitte das Ende einer Entwicklungsstufe erreicht haben, scheint dort bisher noch
nicht aufgekommen zu sein.
EU am Scheideweg: Nächste wirtschaftliche Entwicklungsstufe oder Zerfall
Sozialen Frieden gibt es nur bei
wirtschaftlichem Erfolg, der die enormen Ungleichgewichte wieder abbauen hilft.
Mit schlichter Umverteilung ist das nicht zu erreichen. Auch bisher gab es –
aus Sicht der Politik – zwar (immer noch) wirtschaftlichen Erfolg. Doch der
wurde zum Preis sich vergrößernder wirtschaftlicher Ungleichgewichte sowie sich
vergrößernder Einkommens- und Vermögensungleichgewichte erkauft. So kann es also
nicht mehr weiter gehen.
Großbritannien steht deswegen nach dem
Ausstieg ebenso wie die EU als Ganzes vor der Herausforderung, eine anderes wirtschaftspolitisches
Konzept, ein anderes Entwicklungs- und Wachstumsmodell als das bisher verfolgte
zu entwickeln und umzusetzen, damit sich die Wirtschaftsentwicklung wieder
beschleunigt und Ungleichgewichte dadurch bedingt sukzessive wieder abgebaut
werden können. Ob das ohne Bruch zu schaffen ist, ist ebenso wie im Falle
Chinas unklar. In Großbritannien könnte es bedingt durch das Brexit-Votum allerdings
bereits jetzt zu einem wirtschaftlichen Bruch kommen.
Wenn dies den Staats- und Regierungschefs auf
europäischer Ebene nicht bald aufgeht und sie sich der Aufgabe nicht rasch und konsequent
annehmen, dann wird der Zerfall der EU schwerlich aufzuhalten sein. Auch die
EZB kann das nicht für die Politik leisten. Wenn das Schiff einmal Schlagseite
bekommen hat, ist die Verlockung der Rettungsboote groß.
Es könnte also durchaus sein, dass die
Briten trotz aller zu erwartenden Nachteile eines Tages noch einmal froh sein
werden, den Schritt aus der EU zeitig getan zu haben.
Die neue Premierministerin Theresa May muss
nun allerdings beweisen, dass sie es alleine wirklich besser kann als David
Cameron im Verbund mit den Staats- und Regierungschefs der EU. Gelingen kann
ihr das jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach nur dann, wenn ihre sich munter
streitenden europäischen Kollegen die EU vor die Wand steuern. Vor dem
Hintergrund der bisherigen Erfahrungen mit dem Krisenmanagement der EU stehen die
Chancen dafür – zumindest auf längere Sicht – nicht einmal schlecht.
"Genau das ist es ja, was zum Brexit-Votum geführt hat. Die britische Bevölkerung wollte mehrheitlich offenbar lieber ein EU-Ende mit Schrecken als einen EU-Schrecken ohne Ende. Wer kann ihnen das verdenken, wenn sie regelmäßig für diese Politik zahlen müssen, die nur ein mäßiges wirtschaftliches Wachstum hervorbringt, aber die Börsen befeuert, wovon allerdings immer nur wenige profitieren?" Einspruch Euer Ehren - für den aufkommenden Schrecken der Briten (betreffend des Schreckens bin ich mit Ihnen d'accord) gibt's zwei Namen: Thatcher und Blair!
AntwortenLöschenDer Vollständigkeit halber: Für den Rest (den europäischen Schrecken) gibt's viele Namen: Schröder, Steinmeier, Merkel, Schäuble, Dijsselbloem, Renzi, Rajoy, ... die gewählte Politniki halt. Wie war das noch? "Jedes Volk bekommt die Regierung die es verdient!" Kein Pardon mit niemanden. Sapere aude?? Pah! Nie!!
Hallo Vogel,
Löschendas scheint leider wahr zu sein. Gerade erst haben die Japaner Shinzo Abes Koalition auch im Oberhaus mit unumschränkter Macht ausgestattet. Jetzt kann er die Bürgerrechte einschränken, die pazifistische Verfassung endlich ändern (allerdings ist dann auch noch ein Referendum nötig) und nach Herzenslust mit Milliarden um sich werfen, die zwar die Wirtschaft bisher schon nicht in Schwung brachten, dafür aber den Staatsschuldenberg in schwindelerregende Höhen treiben.
Viele Grüße
SLE