Mittwoch, 14. September 2016

Rede zur 'Lage der Europäischen Union': Jean-Claude Juncker ist nicht der Mann, der die EU aus der Krise führen kann



Wen glaubt Jean-Claude Juncker mit dieser Rede erreichen zu können? Diese rhetorisch gemeinte Frage muss sich der 61-jährige Präsident der Europäischen Kommission schon stellen lassen. Denn es kann als sicher gelten, dass er selbst davon überzeugt ist, sie für Europa und die Europäer zu halten. Nur werden sich die Europäer für seine Rede, deren Bezeichnung wohl nicht zufällig bedeutungsschwer an die traditionelle Rede des US-Präsidenten erinnern soll (1), am allerwenigsten interessieren und das aus gutem Grund. Denn wer trägt die Verantwortung für den beklagenswerten Zustand der Union, die mit dem Brexit-Votum bereits auseinanderzubrechen begonnen hat?
Gewiss ist Herr Juncker nicht alleine dafür verantwortlich. Er, sein Amtsvorgänger José Manuel Barroso, der neuerdings als Berater und Lobbyist für Goldman Sachs tätig ist sowie vor allem die Staats- und Regierungschefs haben die Europäische Union in den letzten Jahren mit ihrem Handeln abgewirtschaftet. Nennen wir das Kind also ruhig beim Namen: Sie sind die Verantwortlichen für den desolaten Zustand der "Gemeinschaft" oder für das, was davon noch übrig geblieben ist. Von einem „Mea culpa“ sind sie jedoch weit entfernt. Es ist, als lebten sie in einer Parallelwelt, die ihr Handeln wirksam von den Folgen ihres Handels abkoppelt.

Die Krise der Europäischen Union begann bereits 2005

Begonnen hat die Talfahrt des Europäischen Projekts jedoch nicht erst seit die politischen Akteure 2008 durch die Finanzkrise in die europäische Schuldenkrise und zuletzt durch die Flüchtlingskrise stolperten. Vielmehr war bereits im Frühjahr 2005, als die von den Staats- und Regierungschefs im Oktober 2004 feierlich unterzeichnete Europäische Verfassung bei Referenden in Frankreich und Niederlanden scheiterte, klar zu erkennen gewesen, dass die EU politisch in eine Richtung entwickelt wurde, die nicht im Einklang mit den Vorstellungen sehr vieler europäischen Bürger stand.
Die Europäische Union umfasst heute (Eurostat, Stand 2016) rund 510 Millionen Menschen. 2014 waren es knapp 507 Millionen. Fast ein Viertel davon (Eurostat, Stand 2014), das heißt rund 122 Millionen, sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren nicht gesunken. Doch es sind bei weitem nicht nur die sozial Abgehängten, die Verlierer der europäischen Integrations- und Krisenpolitik, die mit dem politischen Kurs der EU unzufrieden sind.
Die Widerstände gegen den für den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt fatalen austeritätspolitischen Sanierungskurs in den Schuldenstaaten, gegen die Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) und den USA (TTIP), gegen die Flüchtlingspolitik, gegen den Euro und etwa auch – wie der Ausgang eines Referendums in den Niederlanden belegt – gegen das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine sind allesamt Zeichen dafür, dass sich die Staats- und Regierungschefs mit ihrem politischen Kurs für Europa in den Augen sehr vieler auf dem Holzweg befinden.

Die Flüchtlingspolitik ist nur die jüngste Stufe der Eskalation der Krise der EU

Trotzdem gibt es keine Kurskorrekturen. Nicht einmal das Brexit-Votum der Briten hat bisher dazu geführt, dass sich die Euro- und nunmehr unfreiwillig auch EU-Retter ernsthaft und glaubwürdig für die europäischen Bürger und ihre Vorstellungen von Europa interessieren und sich politisch wirksam auf sie zu bewegen.
Was also haben Herr Juncker und die Staats- und Regierungschefs seit 2005 eigentlich dazu gelernt über Europa?
Niemand unter den Unzufriedenen verspricht sich infolgedessen wirklich etwas von Junckers Rede zur 'Lage der Europäischen Union'. Die anderen werden sich schlicht gar nicht dafür interessieren. Er war schon in seiner Zeit als Regierungschef von Luxemburg einer derjenigen, die den Kurs der Europäischen Union maßgeblich mitbestimmt haben. Mehr noch identifiziert er sich mit diesem wie kaum ein anderer – abgesehen vielleicht vom Spardiktat, dass die Bundesregierung durchzusetzen verstand.
Darüber hinaus muss sich der Kommissionspräsident den Vorwurf gefallen lassen, in seiner Zeit als Ministerpräsident in Luxemburg Steuerschlupflöcher für Konzerne geschaffen zu haben, deren Aufdeckung durch Whistleblower zur sogenannten LuxLeaks-Affäre führten. Von für den Zustand der Europäischen Union geradezu symbolischer Strahlkraft ist der Ausgang dieser Affäre: Die Whistleblower wurden bestraft, Jean-Claude Juncker wurde Kommissionspräsident und darf es auch bleiben.
Was will und kann man von einem solchen Vertreter des politischen Establishments und der Interessen des Big Business in Europa erwarten? Dass er all das, wofür er steht und jahrzehntelang gekämpft hat auf einmal ernsthaft zur Disposition stellt? Denn das müsste er schon tun, wenn er nach alle den Jahren und den vielen umstrittenen Entscheidungen auf europäischer Ebene den Zusammenhalt der EU zu retten beabsichtigte. Kann er das überhaupt?
Nein. Sehr wahrscheinlich kann er es nicht. Denn wie es in dem alten Sprichwort so schön heißt, bringt man einem alten Hund keine neuen Kunststücke mehr bei.

Jean-Claude Juncker sollte vom Amt des Kommissionspräsidenten zurücktreten

Seine Rede zur 'Lage der Europäischen Union' und die erwartbaren Lösungsvorschläge (mehr Zusammenarbeit für die innere und äußere Sicherheit Europas, bei der Verteidigung, für Wachstum und Beschäftigung) werden diejenigen, die mit seiner Vorstellung von Europa längst gebrochen haben und auf die es so wie beim Referendum in Großbritannien letztlich ankommt, nur in ihrer Auffassung bestätigen. Es wird in seiner Rede und danach ein „Weiter wie bisher“ geben, getarnt mit schönen, verheißungsvollen Worten, aber mit neuen Bausteinen, die lediglich weiter jene Mauer zwischen Politik und Konzernen auf der einen und den Menschen auf der anderen Seite hochziehen helfen, die das eigentliche Problem der Europäischen Union kennzeichnet und die für deren Niedergang verantwortlich ist. Denn es ist ein Niedergang, nicht bloß eine Krise, wenn es so weiter geht.
So betrachtet wäre zu hoffen, Herr Juncker würde nun endlich erkennen und einsehen, dass er nicht der Mann an der Spitze der Europäischen Kommission ist, der Europa eint und in eine wieder verheißungsvolle Zukunft zu führen vermag. Schon gar nicht mit einer einzige Rede zur 'Lage der Europäischen Union', die ihn von der gewählten Bezeichnung her auf eine Stufe mit dem US-Präsidenten stellt und in der er so tut, als ginge es eigentlich nur um das Sicherheitsbedürfnis der Bürger in Europa. Das wirkt allenfalls peinlich und orientierungslos.
Jean-Claude Juncker hat sich in der Vergangenheit für die Europäische Union verdient gemacht. Das steht außer Frage und verdient Lob und Anerkennung. Doch seine Zeit ist lange vorbei. Seine Beförderung zum Kommissionschef lässt dieses Amt unglücklicherweise mehr und mehr wie einen gut dotierten Ruheposten für altgediente, aber eben auch ausgediente Politiker erscheinen.
Statt sich also in seiner Rede weiterhin Illusionen hinzugeben und kraft- sowie letztlich erfolglos das Lied des politischen und wirtschaftlichen Establishments zu singen, sollte er sie deswegen besser dafür nutzen, Klartext zu reden, um dann am Ende seinen Rücktritt vom Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission zu erklären. Das wäre ein Anfang. … Doch das hat er nicht getan. (2) Er hat gesagt, was zu erwarten war und damit natürlich keine Begeisterung im Europäischen Parlament ausgelöst. Jetzt ist er selbst zum Symbol des Niedergangs der europäischen Idee geworden.

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