Kommt es Ihnen auch so vor? – Nahezu im
Tagesrhythmus schwappen aus den unterschiedlichsten Richtungen eindringliche
Warnungen an die Politik durch Presse und Medien, bestimmte Maßnahmen zu
ergreifen oder nicht zu ergreifen, würde sich massiv krisenverschärfend
auswirken. Praktisch für alle Maßnahmen, über die seit Monaten im Zusammenhang
mit der weltweiten Schuldenkrise diskutiert wird, gibt es jeweils ein Lager eindring-licher
Befürworter und Gegner. Ob ESM-Aufstockung, Euro-Bonds, Schuldenschnitt, Strukturreformen,
Liquiditäts-schwemme, Niedrigzins oder Finanztransaktionssteuer usw. – so gut
wie jede einzelne Anti-Krisenmaßnahme ist höchst umstritten. Was unter dem
Strich bleibt, ist Konfusion über die möglichen und die wahrscheinlichen Konsequenzen,
die das Ergreifen oder Unterlassen jeder dieser Maßnahmen haben würde.
Ein wirklich klarer Krisenkurs existiert
nicht. Nicht in Europa, nicht in den Vereinigten Staaten, nicht in Japan oder –
so scheint es – wo auch immer sonst. Und, wenige Wochen vor der Neubesetzung
eines großen Teils des obersten Organs der kommunistischen Partei, nicht einmal
in China. Gleichwohl existiert aufgrund der unbefriedi-genden Resultate der
bisherigen Krisenpolitik der immer stärker werdende Wunsch, Änderungen an derselben
vorzunehmen.
Dass es nicht dazu kommt, ist vor dem
zuvor beschriebenen Hintergrund kein Wunder.
Zwecks besserer Orientierung für die
Beobachter mag es hilfreich sein, sich an ein paar einfache Erkenntnisse aus
der im Prinzip seit 2007 anhaltenden Krise zu erinnern.
Zunächst einmal ist daran zu erinnern, was
uns die Krise über den Wert der Theorien, Modelle, Erklärungen und letztlich
vor allem auch des Rates führender Ökonomen liberal-neoklassischer sowie
monetaristischer Prägung, aber auch keynesianischer Ausrichtung, gelehrt hat. Er
ist weitaus geringer bis dahin angenommen. Theorien, Modelle und Erklärungen haben
sich als mangelhaft erwiesen und zwar in einer Weise, die letztlich kaum eine
andere Folgerung als die der Notwendigkeit einer grundlegenden Neuorientierung
der Wirtschaftswissenschaften zulässt. Gleichwohl sind diese beiden, die
Wirtschaftswissenschaften dominierenden ökonomischen Lehren nach wie vor der
Kompass in der Debatte über Krisenmaßnahmen.
War es im Nachhinein betrachtet ein
Fehler, vor Ausbruch der Krise auf die herrschenden ökonomischen Lehren zu
vertrauen, nach deren Lehren es die Krise eigentlich gar nicht hätte geben
dürfen, so gilt selbiges auch jetzt bei der Suche nach Wegen aus der Krise. Was
Ökonomen dieser beiden Schulen uns über die Krise, die Krisenbewältigung, aber
auch über die möglichen und wahrscheinlichen Konsequenzen des Ergreifens bzw. Unterlassens
verschiedener Maßnahmen sagen, kann – sofern sie sich dabei auf ihre theoretischen
Grundlagen abstützen – nicht mehr als geeignete Orientierungshilfe angesehen
werden.
Es ist ein besonderes Problem und Hemmnis
bei der Überwindung der Krise, dass sich die führenden linken und
rechts-Konservativen Parteien in den Industrienationen traditionell und dogmatisch
an jeweils eine dieser beiden führenden ökonomischen Schulen gebunden haben. So
lange sich nicht zumindest daran etwas ändert oder diese Parteien von einer
anderen, nicht einer dieser beiden Lehrmeinungen verhafteten Partei bei Wahlen
überflügelt werden, steckt die Krisenbewältigung fest.
Was für die Krisenbewältigung nottut und
zwar nicht nur in Europa, sondern in den Industriestaaten, ist ein Paradigmenwechsel
in den Wirtschaftswissenschaften wie auch in der Wirtschaftspolitik. Genau das
ist in der ersten Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren geschehen.
Es gab einen Paradigmenwechsel hin zur Lehre von John M. Keynes. Keynes hilft
uns in der aktuellen Krise jedoch nicht weiter. Was wir heute brauchen, ist ein
neuer „Keynes“, eine neue, treffende Erklärung der Krise einer ökonomischen und
Finanz-Welt, die mir der der 30er Jahre kaum mehr etwas gemein hat.
Was wir des Weiteren aus der Krise gelernt
haben, ist, dass die Probleme, die die Krise hat zutage treten lassen, nach wie
vor existieren und mehr noch, dass weitere hinzugekommen sind – insbesondere die
hohe Staatsverschuldung.
Nun kann niemand behaupten, es habe keine Krisenpolitik
gegeben. Viele werden indes darauf hinweisen, dass die drastisch gestiegene
Staatsverschuldung und die erneute Verschärfung der Wirtschaftskrise –
insbesondere in den Schuldenstaaten – Folgen dieser Krisenpolitik sind. Doch
selbst wenn man dies nicht in dieser Schärfe sagen mag bleibt es bei einem zutiefst
frustrierenden Fazit: Die bisherige Krisenpolitik hat nichts anderes getan, als
den Status Quo zu stabilisieren. Das heißt, sie hat das – finanzielle aufwendig
– gestützt und zu erhalten versucht, was offensichtlich systemische
Instabilität und Dauerkrise produziert. Die Profiteure der Krisenpolitik sind
in mehr oder minder großem Umfang auch die Krisenverursacher. Nur so lässt sich
letztlich die katastrophale Bilanz der bisherigen Krisenpolitik erklären.
Und weil das so ist, beteiligen sie – die
Krisenverursacher und Profiteure – sich natürlich an der Diskussion über
Krisenmaßnahmen. Man nennt es auch Lobbyismus. Es ist auch klar, was sie nicht
wollen: Eine Abkehr von der bisher auf den Status-Quo-Erhalt gerichteten
Krisenpolitik, die gerade deswegen ihren Namen – „Krisen“-Politik – nicht verdient
hat.
Niemand mag Veränderung, wenn sie den
eigenen Status Quo gefährdet. Alle Veränderungen, bei denen dies für die
Profiteure und zugleich Säulen des bestehenden, aber instabil gewordenen Systems
nicht der Fall war, wurden im Zuge der Krise ergriffen. Jetzt geht es mehr und
mehr ans Eingemachte, um mögliche Status-Quo-Verluste für all jene in Politik, Finanzwelt,
Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften, die sich zu den Säulen des Systems
zählen.
Dies muss man bei den kontrovers geführten
Debatten um Krisenmaßnahmen berücksichtigen. Maßnahmen mit weitreichenden
Konsequenzen sind nicht um jeden Preis zu verhindern, sondern im Sinne der
Gesellschaft notwendig. Wir zahlen für die aktuelle Krisenpolitik einen hohen
Preis und dennoch werden die Aussichten für uns alle nicht besser. Dieser Preis
steigt mit jedem Tag, um den Maßnahmen mit weitreichenden Konsequenzen für das
bestehende System herausgezögert werden.
Wir werden auch einen Preis für
weitreichende Veränderungen bezahlen. Die entscheidende Frage ist, ob sich
dadurch unsere Perspektiven verbessern. Wen würden Sie dazu befragen wollen,
eingedenk des hier zuvor Geschriebenen?
Dass so große Unsicherheit bei der
Beantwortung dieser Frage existiert, nutzen die Profiteure des Systems gerne und
aktuell sehr gründlich aus, indem sie laut und in teils schrillen Tönen vor den
schlimmen Konse-quenzen des Ergreifens oder Unterlassens von bestimmten
Maßnahmen warnen.
Niemand sollte sich davon beirren lassen.
Die Frage, auf die es unter den gegebenen
Umständen und unter Berücksichtigung des Erklärungsstandes in den
Wirtschaftswissenschaften mit Blick auf die Debatte über Krisenmaßnahmen im
Kern ankommt, ist folgende:
Dient eine vorgeschlagene Maßnahme der Stabilisierung
des bestehenden Systems und seiner – oben angesprochenen – Säulen oder folgt
sie der Einsicht in die Notwendigkeit eines weitgehenden Umbaus desselben, im
Sinne einer effektiv funktionierenden und prosperierenden Markt- und Finanzwirtschaft?
Denn wer im sechsten Jahr der Krise und
der erfolglosen Stabilisierungsmaßnahmen sprich Krisenbewältigung noch immer ernsthaft
reklamiert, das bestehende globale Finanzmarkt- und Wirtschaftssystem sei in seiner gegenwärtigen Form und Struktur
prinzipiell funktionstüchtig und deswegen auch irgendwie wieder stabili-sierbar,
der ignoriert, dass es die Ungleichgewichte, die es an den Rande des Kollapses geführt
haben, nicht auflöst, sondern selbst produziert hat. Das ist nicht das, was es
nach Auffassung der führenden ökonomischen Lehren überhaupt hätte tun können
oder gar sollen. Das war im historischen Rückblick auch nicht immer so. Aber
heute ist es so und es ist das zentrale Problem, dem nur mit Veränderung der Form
und Struktur der globalen Markt- und Finanzwirtschaft begegnet werden kann. Wie
man das erreichen kann, dazu gibt es gewiss unter-schiedliche Möglichkeiten und
Wege. Darüber zu diskutieren, ist sinnvoll und zielführend. Über die
Möglichkeiten des Erhalts der bestehenden Form und Struktur des Systems zu
streiten, ist sinnlos.
Wenn wir nicht die Kraft aufbringen, selbst
Veränderungen einzuleiten, wird die weitere Entwicklung aus sich heraus Veränderungen
hervorbringen, an denen niemandem gelegen sein kann – auch nicht diejenigen,
die bisher auf der Gewinnerseite standen.
Es ist, um es einmal bildlich
auszudrücken, in jedem Fall weise das Schwimmen zu lernen, bevor man durch die
Umstände dazu gezwungen ist.
Kompliment zu diesem fulminanten Aufsatz, dem inhaltlich nichts hinzuzufügen ist.
AntwortenLöschenWas mir besonders auffällt ist die zunehmende Panikmache unserer Qualitätsmedien hinsichtlich einer immer deutlicher vernehmbaren Forderung der Menschen, aus dem Euro auszutreten.
Ein diesbezügliches Traktak aus der Welt am Sonntag mit dem reisserischen Titel "Die gigantischen Verluste bei der Rückkehr zur D-Mark" habe ich in meinem Aufsatz
"Semantische Abenteuer - WELTen" gebührend bewertet:
http://www.fortunanetz.de
Hallo oeconomicus,
Löschendanke für den Hinweis. Das schaue ich mir mal an.
Grüße
SLE
Schade ... mein Vorkommentator hat bereits den einzig möglichen Kommentar schon abgegeben ;-)
AntwortenLöschenSelten so einen guten Text zum Versagen aller - Politniki und WiWi - gelesen. Danke!