Donnerstag, 23. Juni 2016

Das Lehman-Moment des Brexit-Referendums: Abrechnung mit der EU, Härtetest für die Notenbanken?



Die letzten Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. In den britischen Wettbüros hingegen sieht es eindeutig nach einem Sieg der Befürworter für einen Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union aus. Psychologisch gesehen neigen die Menschen eindeutig dazu, den Spatzen in der Hand der Taube auf dem Dach vorzuziehen oder anders ausgedrückt spricht die dem Menschen typische Risikoaversion gegen die mit einem Austritt verbundenen hohen Unsicherheiten.
Außerdem betreten wir beim Referendum in Großbritannien ja auch gar kein Neuland. Im September 2014 stimmten die Schotten über dem Verbleib im Vereinigten Königreich ab. Ebenso wie heute deutete sich damals in den Umfragen übereinstimmend ein Kopf-an-Kopf-Rennen ab. Doch es gab einen klaren Sieg der Befürworter für einen Verbleib im Königreich. Sie kamen auf 55 Prozent, die Unabhängigkeitsbefürworter dementsprechend lediglich auf 45 Prozent der abgegebenen Stimmen.

„Remain“ or „Leave“ - Nichts Genaues weiß man nicht!

Nüchtern betrachtet taugen also die Umfrageergebnisse der Meinungsforscher im Falle des britischen Referendums als Orientierungshilfe höchst wahrscheinlich recht wenig, als Motivationsstütze für die Briten, abstimmen zu gehen, indes schon.
Allerdings haben sich die Zeiten seit dem Schottland-Referendum im Herbst 2014 gravierend verändert. Die EU ist seither ebenso wie die politische Elite und das heißt, die großen Volksparteien in den Mitgliedstaaten – sowie eigentlich rund um den Globus (siehe USA bzw. den bisherigen Mobilisierungserfolg von Donald Trump) –, bei den Wählern immer stärker in Misskredit geraten. Das hat vor allem auch mit dem schlechten Krisenmanagement zu tun, speziell in der Flüchtlingskrise. Andererseits gibt es in Schottland sicher viele, die im Brexit-Referendum auch eine Chance für ein neues Unabhängigkeitsreferendum sehen. Insofern ist schwer abzuschätzen, inwieweit die allgemein als EU-Befürworter geltenden Schotten nicht taktisch für die Option „Leave“ entscheiden.
Dass das politische Establishment innerhalbe der EU allgemein angeschlagen ist, zeigt sich in Meinungsumfragen und ganz konkret am Ausgang von Parlamentswahlen in EU-Mitgliedstaaten in den letzten beiden Jahren (z.B. in Irland und Spanien) sowie jüngst etwa auch bei der Präsidentenwahl in Österreich. Letztere hatte der Kandidat der rechtspopulistischen FPÖ nur äußerst knapp verloren. Deswegen sowie wegen bekannt gewordener Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung von Briefwahlkarten hat die FPö die Wahl angefochten. Die Chancen für einen Erfolg der Klage der FPÖ, die aktuell vor Gericht verhandelt wird, stehen nicht schlecht. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Wahl wiederholt werden muss.

Ein Misstrauensvotum für das politische und wirtschaftliche Establishment

Auf der Abschussliste vieler Wähler steht das politische Establishment wegen des kaum mehr unterscheidbaren politischen Kurses, der im Kern immer wieder primär das wirtschaftliche und gesellschaftliche Establishment begünstigt, während der Großteil der Bevölkerung am Ende die Rechnung für diese Politik bezahlen und die dadurch bedingten Nachteile in Kauf nehmen muss. Die geplanten Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und Kanada (Ceta) sind Beispiele dafür und ebenso die den europäischen Schuldenstaaten aufoktroyierte Austeritätspolitik, die immer noch allzu zaghafte Regulierung der Großbanken oder auch der Schutz der Interessen etwa der Automobilkonzerne, dem Abgasskandal und Verbrauchswertmanipulationen zum Trotz.
Wir leben heute in einer hochkonzentrierten Welt. Die Märkte werden jeweils dominiert von lediglich ein paar sehr großen, global aufgestellten Konzernen. Die allzu einseitig auf diese ausgerichtete Politik jeweils beider großer Volksparteien in den Industriestaaten trifft angesichts anhaltend schwachen Wirtschaftswachstums, der sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich sowie vielfach deutlich spürbaren Einschnitten, aber auch angesichts zahlreicher Skandale in der Konzernwelt und bei den großen etablierten Parteien auf immer mehr Widerstand bei den Wählern.
Bei allen vordergründigen Ressentiments gegenüber Flüchtlingen, um die es im Wahlkampf in Großbritannien und durchaus auch bei den Wahlentscheidungen heute geht: Flüchtlinge, Immigranten sind ebenso wie die EU lediglich eine Projektionsfläche für die aufgestaute Unzufriedenheit mit und Ohnmacht gegenüber einer Politik und ihrer beim Einzelnen spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Beim Brexit-Referendum geht es so betrachtet unterschwellig um die Ablehnung oder eben weitere Befürwortung des bisherigen politischen Kurses der großen Parteien in Großbritannien und in Europa, der sich aus dem engen Zusammenspiel des wirtschaftlichen und politischen Establishments ergibt, während er die Interessen großer Teile der Wählerschaft ignoriert. Die Brexit-Befürworter setzen nicht anders als Donald Trump in den USA auf diese wachsende Anti-Establishment-Stimmung in der Bevölkerung.

Zahltag für eine Politik der Abwälzung der Verantwortung?

Doch das ist es nicht, was das Brexit-Referendum gefährlich macht. Heikel daran ist vielmehr, dass nicht nur das Vertrauen der Wähler in das politische Establishment erschüttert ist, sondern auch das des wirtschaftlichen Establishments sowie ganz besonders das der Finanzmarktakteure in die Notenbanken. Das ist insofern kritisch, als die Notenbanken erstens seit der Finanzkrise im Wesentlichen den Job der Politik miterledigen müssen und ihre ultralockere Geldpolitik zweitens die von ihnen selbst prognostizierten und angestrebten Ziele nur sehr unvollkommen (Finanzstabilität, Investitionen bzw. Wachstum) oder schlicht gar nicht ( Inflation) erreicht, gleichzeitig jedoch inzwischen möglicherweise Finanzmarktblasen aufgepumpt hat, die platzen könnten. Das Vertrauen in die Notenbanken hat angesichts dessen schwer gelitten.
Das doppelte Versagen des politischen Establishments und der Notenbanken, wirksame Mittel zu finden, um die nach wie vor latente Krisengefahr zuverlässig zu bannen, den Schleuder- und Bremskurs der globalen Wirtschaft zu stoppen und die Wirtschaft wieder auf Wachstumskurs zu bringen, ist die Hypothek, mit der die EU und die etablierten Parteien jetzt in Großbritannien ins Referendum gehen. Und folgerichtig stellt das Votum nicht nur eine Prüfung für die EU und das politische Establishment dar, sondern den seit langem schwersten Test für genau diejenige Instanz, die seit der Finanzkrise ohnehin immer die Hauptverantwortung für die Finanzmarkt- und Wirtschaftsstabilität getragen hat, nämlich die Notenbanken.

Ein Test der Finanzmärkte für die Notenbanken

Das Referendum wird aus den oben angesprochenen Gründen wahrscheinlich eher nicht zum Brexit führen und selbst wenn, es wäre für Großbritannien nicht das Ende der Welt, das heißt, es wäre keineswegs unmöglich, die etablierten Beziehungen mit den EU-Mitgliedstaaten auf anderem Wege als bisher abzusichern. Für die EU wäre es indes ein verheerendes Signal.
Für die Finanzmarktakteure stellt das Referendum hingegen eine große Chance dar. Es ist eine riesige Wette, genauer gesagt die seit langem größte Wette und es gibt deswegen viel zu gewinnen, aber eben auch viel zu verlieren. An den Finanzmärkten wird mit einem turbulenten Handel gerechnet, den die Notenbanken im Ernstfall unter Kontrolle halten müssen. Es könnte für sie zum Härtetest kommen. Wenn sie den nicht bestehen, wäre die neue Finanzkrise da und das inzwischen ohnehin angeknackste Vertrauen in ihre Fähigkeiten schlagartig dahin.
Das wäre fatal. Denn die Notenbanken waren in den Jahren seit 2008 der Damm, der einen Finanzmarktsunami verhinderte. Die Finanzmarktakteure haben sich darauf verlassen. Inzwischen gibt es jedoch viele Zweifler. Denn mit ihrer Geldpolitik sorgten sie zugleich dafür, dass der Druck auf diesen Damm ständig stieg und darin liegt die eigentliche Bedeutung des Referendums: Es ist mit Sicherheit das Ereignis mit dem bisher größten Potenzial, den lange erwarteten Dammbruch auszulösen.
In der kommenden Nacht entscheidet sich folglich nicht nur und nicht in erster Linie, ob Großbritannien Mitglied der EU bleibt, sondern auch, ob die Notenbanken ein Wirtschafts- und Finanzsystem weiter künstlich am Leben erhalten können, dass vom politischen und wirtschaftlichen Establishment seit langem an den Grenzen seiner theoretischen Belastungsfähigkeit gefahren wird.

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