Wen glaubt Jean-Claude Juncker mit dieser
Rede erreichen zu können? Diese rhetorisch gemeinte Frage muss sich der 61-jährige
Präsident der Europäischen Kommission schon stellen lassen. Denn es kann als
sicher gelten, dass er selbst davon überzeugt ist, sie für Europa und die
Europäer zu halten. Nur werden sich die Europäer für seine Rede, deren
Bezeichnung wohl nicht zufällig bedeutungsschwer an die traditionelle Rede des
US-Präsidenten erinnern soll (1), am allerwenigsten interessieren und das aus
gutem Grund. Denn wer trägt die Verantwortung für den beklagenswerten Zustand
der Union, die mit dem Brexit-Votum bereits auseinanderzubrechen begonnen hat?
Gewiss ist Herr Juncker nicht alleine
dafür verantwortlich. Er, sein Amtsvorgänger José Manuel Barroso, der
neuerdings als Berater und Lobbyist für Goldman Sachs tätig ist sowie vor allem
die Staats- und Regierungschefs haben die Europäische Union in den letzten
Jahren mit ihrem Handeln abgewirtschaftet. Nennen wir das Kind also ruhig beim Namen:
Sie sind die Verantwortlichen für den desolaten Zustand der "Gemeinschaft"
oder für das, was davon noch übrig geblieben ist. Von einem „Mea culpa“ sind
sie jedoch weit entfernt. Es ist, als lebten sie in einer Parallelwelt, die ihr
Handeln wirksam von den Folgen ihres Handels abkoppelt.
Die Krise der Europäischen Union begann bereits 2005
Die Europäische Union umfasst heute (Eurostat,
Stand 2016) rund 510 Millionen Menschen. 2014 waren es knapp 507 Millionen. Fast
ein Viertel davon (Eurostat, Stand 2014), das heißt rund 122 Millionen, sind
von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Ihre Zahl ist in den letzten Jahren
nicht gesunken. Doch es sind bei weitem nicht nur die sozial Abgehängten, die
Verlierer der europäischen Integrations- und Krisenpolitik, die mit dem politischen
Kurs der EU unzufrieden sind.
Die Widerstände gegen den für den
wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt fatalen austeritätspolitischen
Sanierungskurs in den Schuldenstaaten, gegen die Freihandelsabkommen mit Kanada
(Ceta) und den USA (TTIP), gegen die Flüchtlingspolitik, gegen den Euro und etwa
auch – wie der Ausgang eines Referendums in den Niederlanden belegt – gegen das
Assoziierungsabkommen mit der Ukraine sind allesamt Zeichen dafür, dass sich die
Staats- und Regierungschefs mit ihrem politischen Kurs für Europa in den Augen sehr
vieler auf dem Holzweg befinden.
Die Flüchtlingspolitik ist nur die jüngste Stufe der Eskalation der Krise der EU
Trotzdem gibt es keine Kurskorrekturen.
Nicht einmal das Brexit-Votum der Briten hat bisher dazu geführt, dass sich die
Euro- und nunmehr unfreiwillig auch EU-Retter ernsthaft und glaubwürdig für die
europäischen Bürger und ihre Vorstellungen von Europa interessieren und sich
politisch wirksam auf sie zu bewegen.
Was also haben Herr Juncker und die
Staats- und Regierungschefs seit 2005 eigentlich dazu gelernt über Europa?
Niemand unter den Unzufriedenen verspricht
sich infolgedessen wirklich etwas von Junckers Rede zur 'Lage der Europäischen
Union'. Die anderen werden sich schlicht gar nicht dafür interessieren. Er war schon
in seiner Zeit als Regierungschef von Luxemburg einer derjenigen, die den Kurs
der Europäischen Union maßgeblich mitbestimmt haben. Mehr noch identifiziert er
sich mit diesem wie kaum ein anderer – abgesehen vielleicht vom Spardiktat,
dass die Bundesregierung durchzusetzen verstand.
Darüber hinaus muss sich der
Kommissionspräsident den Vorwurf gefallen lassen, in seiner Zeit als
Ministerpräsident in Luxemburg Steuerschlupflöcher für Konzerne geschaffen zu
haben, deren Aufdeckung durch Whistleblower zur sogenannten LuxLeaks-Affäre
führten. Von für den Zustand der Europäischen Union geradezu symbolischer
Strahlkraft ist der Ausgang dieser Affäre: Die Whistleblower wurden bestraft,
Jean-Claude Juncker wurde Kommissionspräsident und darf es auch bleiben.
Was will und kann man von einem solchen Vertreter
des politischen Establishments und der Interessen des Big Business in Europa erwarten?
Dass er all das, wofür er steht und jahrzehntelang gekämpft hat auf einmal
ernsthaft zur Disposition stellt? Denn das müsste er schon tun, wenn er nach
alle den Jahren und den vielen umstrittenen Entscheidungen auf europäischer
Ebene den Zusammenhalt der EU zu retten beabsichtigte. Kann er das überhaupt?
Nein. Sehr wahrscheinlich kann er es
nicht. Denn wie es in dem alten Sprichwort so schön heißt, bringt man einem
alten Hund keine neuen Kunststücke mehr bei.
Jean-Claude Juncker sollte vom Amt des Kommissionspräsidenten zurücktreten
Seine Rede zur 'Lage der Europäischen
Union' und die erwartbaren Lösungsvorschläge (mehr Zusammenarbeit für die innere
und äußere Sicherheit Europas, bei der Verteidigung, für Wachstum und Beschäftigung)
werden diejenigen, die mit seiner Vorstellung von Europa längst gebrochen haben
und auf die es so wie beim Referendum in Großbritannien letztlich ankommt, nur
in ihrer Auffassung bestätigen. Es wird in seiner Rede und danach ein „Weiter
wie bisher“ geben, getarnt mit schönen, verheißungsvollen Worten, aber mit
neuen Bausteinen, die lediglich weiter jene Mauer zwischen Politik und
Konzernen auf der einen und den Menschen auf der anderen Seite hochziehen
helfen, die das eigentliche Problem der Europäischen Union kennzeichnet und die
für deren Niedergang verantwortlich ist. Denn es ist ein Niedergang, nicht bloß
eine Krise, wenn es so weiter geht.
So betrachtet wäre zu hoffen, Herr Juncker
würde nun endlich erkennen und einsehen, dass er nicht der Mann an der Spitze
der Europäischen Kommission ist, der Europa eint und in eine wieder verheißungsvolle
Zukunft zu führen vermag. Schon gar nicht mit einer einzige Rede zur 'Lage der
Europäischen Union', die ihn von der gewählten Bezeichnung her auf eine Stufe
mit dem US-Präsidenten stellt und in der er so tut, als ginge es eigentlich nur
um das Sicherheitsbedürfnis der Bürger in Europa. Das wirkt allenfalls peinlich
und orientierungslos.
Jean-Claude Juncker hat sich in der Vergangenheit
für die Europäische Union verdient gemacht. Das steht außer Frage und verdient Lob
und Anerkennung. Doch seine Zeit ist lange vorbei. Seine Beförderung zum
Kommissionschef lässt dieses Amt unglücklicherweise mehr und mehr wie einen gut
dotierten Ruheposten für altgediente, aber eben auch ausgediente Politiker
erscheinen.
Statt sich also in seiner Rede weiterhin Illusionen
hinzugeben und kraft- sowie letztlich erfolglos das Lied des politischen und
wirtschaftlichen Establishments zu singen, sollte er sie deswegen besser dafür
nutzen, Klartext zu reden, um dann am Ende seinen Rücktritt vom Amt des
Präsidenten der Europäischen Kommission zu erklären. Das wäre ein Anfang. …
Doch das hat er nicht getan. (2) Er hat gesagt, was zu erwarten war und damit natürlich
keine Begeisterung im Europäischen Parlament ausgelöst. Jetzt ist er selbst zum
Symbol des Niedergangs der europäischen Idee geworden.
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