Sonntag, 23. August 2009

Industriepolitik in der Krise: Neue Wege?


Als Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg jüngst wegen eines in seinem Ministerium erarbeiteten, streitbaren Vorschlags für ein neues industriepolitisches Konzept in die Kritik geriet, (1) ist einmal mehr klar geworden, dass der Begriff "Industriepolitik" negativ besetzt ist, nicht zuletzt deswegen, weil er in die Nähe des Begriffs "Neoliberalismus" gerückt wird - wie der aktuelle Fall zeigt. Damit ist ebenso erneut deutlich geworden, wie wenig klar den allermeisten ist, was "Industriepolitik" eigentlich ist.

Tatsache ist: Industriepolitik und Neoliberalismus stehen für zwei vollkommen unter-schiedliche wirtschaftspolitische Konzepte.

Industriepolitik und Wirtschaftsstrukturpolitik

Industriepolitik ist eine spezifische, interventionistische Form von sektoraler, also nach Branchen differenzierter, Wirtschaftspolitik. Industriepolitik oder allgemein gesprochen sektorale Strukturpolitik - daneben gibt es auch ein räumlich orientiertes Pendant, nämlich die regionale Strukturpolitik - adressiert keineswegs nur den Industriesektor. Auch das ist etwas, was sehr oft fälschlicherweise angenommen wird.

Zwar ist die Industrie gewiss der Schwerpunkt dieser Form von Wirtschaftsstrukturpolitik, aber sie richtet sich im Grundsatz ebenso auch auf den Dienstleistungssektor. Entscheidend ist eben nur, dass ein nach Branchen differenzierter Ansatz verfolgt wird, wobei die unterschiedlichen sektoralen Gegebenheiten und Zukunftsperspektiven die Grundlage bilden. Dabei kann wiederum nach der Zielsetzung zwischen drei verschiedenen Varianten unterschieden werden, nämlich:
  • die anpassungspolitische Konzeption, deren Ziel es ist, Anpassungs-prozesse in der gesamten Wirtschaft zu erleichtern und zu beschleunigen, insbesondere hervorgerufen durch technischen Fortschritt; hierbei handelt es sich um eine Art Hilfe zur Selbsthilfe für die Wirtschaft und infolgedessen auch um die am wenigsten interventionistische Variante;
  • die erhaltungspolitische Konzeption, welche hart und negativ vom Struktur-wandel betroffene bzw. im Niedergang befindliche Branchen adressiert - in der Vergangenheit waren dies etwa die Kohle- und Stahlindustrie; hier soll der Strukturwandel abgebremst, Anpassungsprozesse verlangsamt und, bezogen auf die damit einhergehende Freisetzung von Arbeitskräften, sozial abgefedert werden, wobei insbesondere mit Subventionen gearbeitet wird;
  • die gestaltungspolitische Konzeption, welche gezielt aufstrebende Branchen unterstützt, bei denen großes Wachstumspotenzial vermutet wird; meistens geht es hier um aufstrebende Technologien, so dass die stark mit finanziellen Fördermitteln operierende Variante der Wirtschaftsstrukturpolitik oft mehrere Branchen betrifft, in denen eine bestimmte Technologie eine große Rolle spielt; bisher ging es dabei etwa um die Informationstechnologie, die Telekommunikation und die Biotechnologie.
Daneben wird oft auch zwischen "horizontaler Strukturpolitik" und "vertikaler Strukturpolitik" unterschieden, wobei erstgenannte Bezeichnung für eine weniger interventionistische und vor allem milde sowie eher allgemein und die gesamte Breite der Wirtschaft fördernde Variante steht (im Kern ist dies dasselbe wie bei der "anpassungs-politischen Konzeption"); letztere steht dagegen für eine stärker interventionistische, sektorspezifische und mitunter tiefgreifende Beeinflussung - was konzeptionell der "Erhaltungspolitik" als auch der "Gestaltungspolitik" sehr ähnlich ist.

"Industriepolitik" ist eine spezifische Form von Wirtschaftsstrukturpolitik, die Elemente der "anpassungspolitischen Konzeption" enthält, vor allem aber der "gestaltungspoli-tischen Konzeption". Denn das Ziel der Industriepolitik ist die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und darüber die Förderung von Wachstum und Beschäftigung. Die Industriepolitik macht dabei nicht an Branchengrenzen Halt, sondern orientiert sich stärker am Anwendungsbereich von Technologien, etwa der Telekommu-nikation und der Biotechnologie. Sie verfügt zudem über keine eigenen Instrumente, sondern ist ihrem Wesen nach eine Querschnittspolitik. (2) Das heißt, für die Verfolgung ihres Ziels werden Instrumente aus unterschiedlichen Politikfeldern, etwa Forschungspolitik, Umweltpolitik, Energiepolitik u. a., entsprechend auf das Ziel "Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit" ausgerichtet.

Das wettbewerbstheoretische Fundament der Industriepolitik

Wie die Industriepolitik ihre Ziele erreicht, das heißt auf welchem Wege, ist nicht nur eine Frage der Auswahl von Branchen und Technologien. Vielmehr geht es an der Ausgangsbasis zunächst um die Frage, wie überhaupt die Ziele internationale Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung in einer Marktwirtschaft zu erreichen sind und damit um das wirtschaftstheoretische Fundament.

Dieses theoretische Fundament bildet in einer marktwirtschaftlich organisierten Volks-wirtschaft immer die Wettbewerbstheorie. Denn Wettbewerb ist der Motor der Wirtschaft und vor allem für Wachstum. Es reicht also beispielsweise nicht aus, eine mutmaßlich aufstrebende Technologie zu identifizieren und zu fördern. Es muss auch eine klare Vorstellung über die für einen dynamischen, innovativen Wettbewerb notwendigen Voraussetzungen bestehen. Denn nur wenn sich ein solcher entfalten kann und zudem auch noch die anvisierte Technologie dabei wirklich im Mittelpunkt steht, kann es zu den gewünschten Effekten kommen.

Industriepolitik, Neoliberalismus und Wettbewerbstheorie

An diesem Punkt treffen die Befürworter der Industriepolitik und einer neoliberalen Wirtschaftspolitik unvereinbar aufeinander.

Der Neoliberalismus, das heißt die liberale Wirtschaftstheorie und ebenso auch die Neoklassik bzw. der ökonomische Mainstream gehen davon aus, dass Industriepolitik für Wachstum und Beschäftigung erstens überhaupt nicht notwendig ist, weil sie vor dem Hintergrund ihres wirtschaftstheoretischen Verständnisses annehmen, dass sich sektorale Entwicklungsunterschiede in einer funktionierenden Marktwirtschaft mit der Zeit von alleine, ganz ohne staatliches Zutun, auflösen. Zweitens argumentieren sie, dass es prinzipiell unmöglich ist vorherzusehen (Stichwort: Anmaßung von Wissen), welche Technologien im Wettbewerb und für Wachstum bedeutsam sein werden. Das, so wird betont, entscheidet sich im Wettbewerb.

Sie lehnen deswegen und wegen angenommener verzerrender Wirkungen drittens Interventionen und insgesamt jegliche sektoral differenzierende Wirtschaftspolitik ab. Ihr liberales Credo lautet, geeignete Rahmenbedingungen für einen "freien", funktionierenden Wettbewerb zu schaffen. Deregulierung ist dabei eine typische Forderung, die auf alle Bereiche der Wirtschaft, aber auch auf den Arbeitsmarkt bezogen wird. Dabei rekurrieren sie zum Teil auf die Wettbewerbstheorie namens "freier Wettbewerb", oft jedoch auch auf die modernere Wettbewerbstheorie "funktionsfähiger Wettbewerb".

Letztere ist, was die Begründbarkeit staatlich steuernder Interventionen anbelangt, ambivalent: die Möglichkeit staatlich steuernder Interventionen wird im Grundsatz nicht ausgeschlossen. Aus diesem Grund basiert auch die Industriepolitik auf der Wettbe-werbstheorie "funktionsfähiger Wettbewerb", denn die Theorie "freier Wettbewerb" bietet keinerlei Rechtfertigung für Interventionen.

Befürworter der Industriepolitik gehen im Grundsatz davon aus, dass eine gezielte, wachstumsfördernde Beeinflussung von Sektoren möglich ist. Die Orientierung an der Theorie "funktionsfähiger Wettbewerb" schlägt sich dabei in der Konzeption der Industriepolitik in fundamental bedeutsamer Weise nieder. Denn die Theorie besagt, dass gerade auf oligopolistischen Märkten, die von einer geringen Zahl großer Unternehmen geprägt sind, optimale Voraussetzungen für einen technischen Fortschritt und Wachstum generierenden Wettbewerb vorliegen. Deswegen wird die Industriepolitik klassischer Weise konzeptionell auf die Bedürfnisse und die Förderung von Großunternehmen ausgerichtet.

Die "klassische" Industriepolitik fokussiert die sogenannten National Champions

Tatsächlich dominieren Großunternehmen bzw. National Champions bereits seit Jahren die meisten volkswirtschaftlich und vor allem global bedeutsamen Märkte. Hinzu kommt, dass durch entsprechende Berichterstattung in der Presse und den Medien Großunter-nehmen auch besonders stark im öffentlichen Bewusstsein präsent sind. Nur diesen beiden Umständen ist es geschuldet, dass die "neoliberale" Wirtschaftspolitik in der öffentlichen Wahrnehmung ausschließlich dieselben großen Unternehmen zu fokussieren scheint wie die Industriepolitik.

Bis zu einem gewissen Grad ist dies, wirtschaftsstrukturell bedingt, sogar zutreffend. Allerdings geschieht dies bei der "neoliberalen" Wirtschaftspolitik nicht mit der gleichen Stringenz - auch kleine und mittelgroße Unternehmen werden berücksichtigt, wenn auch bei weitem nicht im selben Maße - und eben auf grundsätzlich vollkommen andere Weise, nämlich nicht über Interventionen, sondern hauptsächlich über Ordnungspolitik (z. B. Bürokratieabbau), das heißt Rahmensetzung und Deregulierung.

Weist die Industriepolitik den Weg aus der Krise?

Dass sich die Wirtschaft entwickelt und entwickeln muss, ist eine Tatsache. Insofern sind auch Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsprobleme innerhalb als Wirtschaft als Tatsache zu akzeptieren.

Vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, die tiefgreifende strukturelle Probleme in zahlreichen global bedeutsamen Märkten aufgedeckt und insbesondere die größten Unternehmen in diesen Sektoren hart getroffen hat, kann man zu dem Schluss gelangen, dass die seit vielen Jahren betriebene Form der "klassischen Industriepolitik", die gezielt die National Champions fokussiert, nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems ist. Die einseitige Fokussierung auf die größten Unternehmen und fortwährende Effizienz-steigerungen hat die Wirtschaft und das Wirtschaftswachstum nicht stabilisiert, sondern die Wirtschaft in eine strukturell bedingt höchst instabile Lage manövriert.

Die liberale Wirtschaftspolitik hat nahezu ebenso einseitig die größten Unternehmen adressiert, ganz einfach weil sie die wirtschaftliche Realität prägen, wenn auch tendenziell nicht mit derselben Konsequenz wie die "klassische Industriepolitik" und nicht über Interventionismus. Doch diese Politik ist, wie die erste und die aktuelle Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise zeigen, gescheitert. Dass die liberale Wirtschaftspolitik sektorale Entwicklungsunterschiede und Entwicklungsprobleme weitestgehend ausblendet, ist ihr erneut zum Verhängnis geworden: Ordnungspolitik und Deregulierung entfalten eben unter sehr unterschiedlichen wirtschaftsstrukturellen Gegebenheiten nicht dieselben Wirkungen.

Das beste Beispiel dafür ist die Phase der Nachkriegszeit in Deutschland. Alles war damals zerstört, alle und alles musste neu beginnen, es gab auf allen Märkten und für alle Unternehmer enorme Wachstumsmöglichkeiten und Chancengleichheit. Unter diesen Bedingungen war Erhards neoliberale Wirtschaftspolitik sehr erfolgreich. Heute haben wir jedoch vielfach ausgereifte, gesättigte Märkte, die schon seit Jahren stagnieren und eine sehr hohe Unternehmenskonzentration aufweisen (Stichwort: Megafusionen), das heißt Märkte, die von wenigen sehr großen Unternehmen dominiert werden. Es gibt einen gnadenlosen Kostensenkungswettlauf und Preiswettbewerb, signifikante, die Märkte dynamisierende Innovationen treten dagegen praktisch nicht mehr auf. Offensichtlich kann unter solchen Bedingungen Erhards "Medizin", eine neoliberale Politik, das "Freilassen" oder "Laufenlassen" der Wirtschaft, keine Lösung sein, sondern muss im Gegenteil nur zu einer Zuspitzung der Probleme führen.

Es ist deswegen im Grundsatz falsch, Industriepolitik bzw. eine sektoral differenzierende Wirtschaftspolitik in Bausch und Bogen abzulehnen und zu verteufeln. Im Gegenteil: Den sektoralen, wirtschaftsstrukturellen Gegebenheiten wird in Zukunft im Rahmen der Wirtschaftspolitik weitaus mehr Bedeutung beigemessen werden müssen als bislang.

Wenn also Minister zu Guttenberg eine neue industriepolitische Konzeption anstrebt, (3) so ist dies im Grundsatz der richtige Weg, sofern es eine Abkehr vom wirtschafts-strukturell "blinden" neoliberalen Ansatz als Allheilmittel und damit auch von Ideologien bedeutet. Es wäre indes ein schwerwiegender Fehler, dabei trotz allem immer noch an der "klassischen Industriepolitik" festzuhalten und weiterhin ausschließlich oder auch nur primär die "National Champions" zu fokussieren und einseitig auf Effizienzsteigerungen abzustellen. Denn es reicht nicht aus, sondern ist im Gegenteil eher problematisch, einfach nur neue Technologien und Themen zu setzen. Eine weitaus höhere Bedeutung sollte stattdessen der Überprüfung des wettbewerbstheoretischen Fundaments der Industriepolitik eingeräumt werden. (4) Denn spätestens die Krise sollte klar gemacht haben, dass die Orientierung am "funktionsfähigen Wettbewerb" ein schwerer Irrtum war.

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