Donnerstag, 24. Dezember 2009

US-Wirtschaftswachstum: 3,5, 2,8, 2,2 Prozent oder weniger? - Riskantes Spiel mit der Glaubwürdigkeit von offiziellen Wirtschaftsdaten.


Spätestens seit Herbst 2008, als unter den Ökonomen und Wirtschafts-forschungsinstituten das Prognosechaos ausbrach, werden Wirtschafts-prognosen mit großer Skepsis betrachtet. Zu rasch und zu gravierend waren die Prognosen korrigiert worden und zu sehr wichen zeitgleich veröffentlichte Wachstumsprognosen unterschiedlicher Ökonomen voneinander ab, als dass man noch allzu viel auf irgendeine Prognose zu geben bereit gewesen wäre. Klaus Zimmermann, der jüngst wegen eines brisanten Prüfungsberichts des Berliner Landesrechnungshofes bezüglich der Verwendung öffentlicher Gelder unter Druck geratene Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)(1), hatte deswegen seinerzeit quasi als letztes Mittel einen "Prognosestopp" vorgeschlagen und dafür harsche Kritik geerntet.

Die Glaubwürdigkeit der Ökonomen hat unter dem Prognosechaos sehr gelitten, wie eine aktuelle Umfrage zeigt. Das Wirtschaftspsychologische Institut der Universität Köln befragte 930 Bürger, um zu erfahren, wie sie über Ökonomen denken. Ergebnis: Nur 14 Prozent der Befragten halten Wirtschaftsforscher für glaubwürdig, nur 15 Prozent denken, dass Ökonomen ein hohes Ansehen in der Bevölkerung genießen. Viele Bürger glauben, dass Ökonomen eine versteckte Agenda verfolgen und interessengeleitet sind. Wenn der Chefvolkswirt der Deutschen Bank ein Interview gebe, sagt der Kölner Wirtschaftspsychologe Detlef Fetchen-bauer, frage sich der Bürger, was ihm Herr Ackermann vorher ins Ohr geflüstert hat.(2)

Verlässlicher scheinen hingegen Wirtschaftsdaten zu sein, die harten Fakten, Messwerte also, die die Wirtschaftsentwicklung penibel statistisch nachzeichnen und von offiziellen Stellen veröffentlicht werden - sollte man meinen.

Ist das so?

Ein Beispiel:

Am 29. Oktober verkündete das US-Handelsministerium, die US-Wirt-schaft sei - gemäß einer ersten Schätzung - im 3. Quartal um 3,5 Prozent gewachsen. An den Börsen brach Euphorie aus. Die schlimmste Rezession seit den 30er Jahren, so wurde gejubelt, sei nun endgültig vorüber.(3)

Wichtig zu bemerken ist hinsichtlich dieser Zahl, dass es der auf das ganze Jahr hochgerechnete Wert für das BIP-Wachstum der USA  ist, vereinfacht gesagt also der mit vier multiplizierte Wert. So gesehen ergibt sich für die US-Wirtschaft für das 3. Quartal gemäß dieser ersten von insgesamt drei Schätzungen - nach europäischer Lesart - ein Wert von etwa 0,9 Prozent.(4)

Am 24. November teilte das US-Handelsministerium mit, der Wert für das BIP-Wachstum im 3. Quartal sei niedriger als ursprünglich erwartet. Auf das Jahr hochgerechnet ergebe sich nur ein BIP-Wachstum von 2,8 Prozent.(5)

Am 22. Dezember gab das US-Handelsministerium schließlich bekannt, das US-BIP sei im 3. Quartal revidiert um 2,2 Prozent gewachsen.(6)

In Reaktion auf die erste Schätzung des US-BIP für das 3. Quartal hatte Nouriel Roubini, Wirtschaftsprofessor an der Stern School of Business der New York University, in einem Gastbeitrag im Handelsblatt eine Reihe von Gründen aufgeführt, die diese Schätzung stark relativieren. Die offiziellen BIP-Messungen könnten das Wachstum der US-Wirtschaft extrem übertreiben, schrieb er, weil sie die Tatsache außer Acht ließen, dass die Wirtschaftsstimmung in kleinen Firmen katastrophal sei und ihre Produktion immer noch stark sinke. Ordnungsgemäß um diesen Faktor korrigiert, dürfte das US-Wachstum im 3. Quartal nach seiner Auffassung eher 2 Prozent betragen haben. An vielen Stellen zeige sich, dass die Wirtschaftsdaten nur die halbe Wahrheit darstellten, so etwa beim Konsum. Die jüngsten Monatsdaten, so führte er aus, deuteten zwar auf eine Erholung im US-Einzelhandel hin. Weil die offizielle Statistik jedoch vor allem die Umsätze der großen Einzelhändler erfasse und den Umsatzrückgang Hunderttausender kleinerer Geschäfte und Betriebe, die in Konkurs gegangen sind, außer Acht lasse, sähen die Zahlen besser aus, als sie wirklich seien. Sein Fazit ob der zu beobachtenden Zweiteilung der Wirtschaft: Theoretisch könnten die USA am Ende einer schweren Rezession angekommen sein. Aber ein Großteil von Amerikas Wirtschaft stehe vor einer Beinahe-Depression.(7)

Andere, wie etwa Martin Hutchinson von breakingnews.com, legten in Reaktion auf die erste Schätzung für das US-BIP-Wachstum dar, dass es im Wesentlichen von staatlichen Konjunkturmaßnahmen getragen sei und deswegen besser vom "Staatsinlandsprodukt" gesprochen werden sollte. Fast die Hälfte des Wachstums, so Hutchinson, gehe auf den mit Hilfe des "Cash-for Clunkers"-Programm gesteigerten Kraftfahrzeug-absatz zurück. Weitere 18 Prozent stammten aus zusätzlichen Staats-ausgaben. Bereinigt um diese Faktoren sei das BIP im 3. Quartal allenfalls um knapp mehr als 1 Prozent gewachsen. Außerdem seien 28 Prozent des Wachstums dadurch bedingt, dass statt des bisherigen Abbaus von Lagern nun wieder ein Lageraufbau stattfinde.(8)

Nun sind es laut US-Handelsministerium also 2,2 Prozent gewesen. Ist das das letzte Wort?

Wie auch immer, es ließen sich also viele Gründe finden, die die erste offizielle US-BIP-Wachstumsschätzung von vornherein als wenig glaubhaft erscheinen ließen. Dass sich ohne weiteres Abweichungen von zwischen 1,5 bis annähernd 2,5 Prozentpunkten nach unten begründen ließen und sich damit eine Schwankungsbreite der Schätzungen von etwa 1 bis 3,5 Prozent gleich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe der ersten Schätzung ergab, wirft die Frage auf, wie verlässlich die von offiziellen Stellen veröffentlichten Wirtschaftsdaten wirklich sind? Und: Wie zuver-lässig bilden sie die wirtschaftliche Realität ab?

Angesichts der erheblichen nachträglichen Korrekturen (3,5, dann 2,8, zuletzt 2,2 Prozent) erscheint kaum vermittelbar, dass die Ursache dafür schlicht Schätz- oder Rechenfehler sind.

Dieses Phänomen der scheinbar nachlassenden Zuverlässigkeit und Aussagekraft offizieller Wirtschaftsdaten ist keineswegs nur in den USA zu beobachten. Wenig aussagekräftig bezüglich der tatsächlichen Verfassung der Wirtschaft ist beispielsweise auch der von der irischen Regierung für das 3. Quartal veröffentlichte Wert für das BIP-Wachstum - wenn auch aus anderem Grund.

Das irische Statistikamt gab Mitte Dezember bekannt, die irische Wirtschaft sei im 3. Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 0,3 Prozent gewachsen. Allerdings wird Irlands Wirtschaft von Ablegern ausländischer Firmen dominiert. Der wahre Zustand der irischen Wirtschaft spiegelt sich deswegen nach Auffassung von Ökonomen nicht im Bruttoinlandsprodukt wider, sondern im Bruttonationaleinkommen, welches die Gewinne eben dieser ausländischen Unternehmensableger ausklammert. Das Brutto-nationaleinkommen schrumpfte jedoch im dritten Quartal um 1,4 Prozent und noch dazu revidierte das Statistikamt den Rückgang im zweiten Quartal von minus 0,5 auf minus 1,7 Prozent.(9)

Exemplarisch verdeutlichen diese Fälle, wie sehr aktuell mit Wirtschaftsdaten gespielt wird, um - dieser Eindruck kann entstehen - möglicherweise die Wirtschaftslage wunschgemäß rosiger darzustellen als sie in Wirklichkeit ist oder umgekehrt, wenn es erforderlich sein sollte, wie etwa das Beispiel Japan zeigt.

Dort hat die japanische Regierung das BIP-Wachstum für das 3. Quartal drastisch von 1,2 Prozent auf 0,3 Prozent nach unten korrigiert - allerdings haben Fachleute darauf hingewiesen, dass damit die Lage von der Regierung schlechter dargestellt würde als sie tatsächlich ist (10) - eine Übertreibung nach unten also. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die japanische Regierung mit der japanischen Notenbank im Clinch liegt und auch Druck ausübt, damit diese die geldpolitischen Zügel noch weiter lockert. Notenbank und Regierung werfen sich gegenseitig vor, nicht energisch genug die drohende Deflation zu bekämpfen.(11). Je schlechter die Wirtschaftsdaten, desto größer wird der Handlungsdruck für die Notenbank, die geldpolitischen Zügel zu lockern. Schlechtere Wirtschaftsdaten spielen der japanischen Regierung folglich in die Hand.

Die Veröffentlichung von Daten und anderen Wirtschaftsinformationen sowie ihre Verbreitung über die Medien und vor allem auch über das Internet funktioniert heute sehr rasch und effektiv. Zur Zeit der ersten Weltwirtschaftskrise waren solche Information für weite Kreise der Bevölkerung gar nicht zugänglich. Umgekehrt hatte man damals aber auch nicht die Möglichkeit, die Massen mithilfe von Informationen und veröffentlichten Daten zu beeinflussen. Darin liegt aber auch eine große Gefahr. Es spielt letztlich keine Rolle, warum es, wie die Beispiele zeigen, in den letzten Monaten bei Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten von Regierungsstellen nachträglich so oft und zum Teil in durchaus signifi-kantem Ausmaß zu Korrekturen gekommen ist. Es spielt auch keine Rolle, ob dies nur in einzelnen Staaten geschieht. Entscheidend ist, dass es geschieht und welchen Effekt dies aufgrund der heutigen Informa-tionsmöglichkeiten hat: Häufige und zum Teil erhebliche Korrekturen von offiziellen Daten höhlen die Glaubwürdigkeit aller entsprechenden Institutionen und Regierungsstellen aus. Die oben zitierte Umfrage des Wirtschaftspsychologischen Instituts der Universität Köln zeigt, dass die Bürger nicht differenzieren.

Es sollte deswegen im ureigensten Interesse "der Regierungen" liegen, dem Glaubwürdigkeitsverlust von offiziellen Wirtschaftsdaten entgegen-zuwirken. Wenn sie es nicht tun, dann spricht das für sich. Die Glaub-würdigkeit steht auf dem Spiel, sie sollte nicht "verzockt" werden. "Die Ökonomen" haben laut der oben zitierten Umfrage ihre Glaubwürdigkeit bei den Bürgern bereits verloren. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen Regierungen und Ökonomen: Laut der Kölner Umfrage glauben 80 Prozent der Bürger, dass eine Gesellschaft auch ohne Ökonomen funktionieren würde.(12)

Ich wünsche allseits frohe Weihnachten!

Links:

(1)    Skandal in Washington: DIW-Chef Zimmermann gerät in Erklärungsnot (v. 16.12.09);
(2)    Nur wenig besser als die Astrologen (v. 20.12.09);
(3)    Bruttoinlandsprodukt steigt um 3,5 Prozent: US-Wirtschaft wächst wieder (v. 29.10.09);
(4+5) BIP-Enttäuschung: US-Wirtschaft wächst langsamer als erhofft (v. 24.11.09);
(6)    US-Wirtschaft: Wachstum geringer als erwartet (v. 22.12.09);
(7)    Gastkommentar: "US-Wirtschaftsdaten täuschen zu positives Bild vor" (v. 23.11.09);
(8)    US-BIP: Hört auf zu singen! (v. 29.10.09);
(9)    BIP-Wachstum: Das irische Wachstum zeigt nicht die ganze Wahrheit (v. 17.12.09);
(10)  Drittes Quartal: Japans Wachstum kräftig nach unten korrigiert (v. 09.12.09);
(11)  Fallende Preise: Japan erhöht Druck auf eigene Notenbank (v. 24.11.09);
(12)  Nur wenig besser als die Astrologen (v. 20.12.09).

Ergänzend empfohlene Artikel:
- Studie: Wirtschaftskrise zerstört das Demokratievertrauen der Deutschen (v. 26.12.09);
- US-Arbeitsmarkt: Gute US-Arbeitsmarktdaten bedeuten noch keine Trendwende (v. 08.02.10);
- Bestenfalls Stagnation: Japans Wachstum steht auf der Kippe (v. 16.02.10);
- Das Kapital: Hollywood und nichts dahinter (v. 28.02.10).

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