Sonntag, 22. August 2010

Deutsches Aufschwungwunder: Das 2. Quartal und die vergessene Konjunkturprognosen-Blamage


Im zweiten Quartal ist die deutsche Wirtschaft um 2,2 Prozent gewachsen - und Fachleute sowie Regierungsmitglieder überschlagen sich förmlich mit optimistischen Prognosen.

Ob Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle, der bezüglich des zweiten Quartals von "Wachstum XL" sprach und nun für 2010 einen Wert von weit über 2 Prozent für möglich hält (1), ob Wirtschaftsforschungs-institute, die jetzt alle ihre Prognosen deutlich anheben wollen oder Banken - die Commerzbank etwa hat ihre Prognose für 2010 von 2,5 Prozent auf 3,25 Prozent angehoben (2) oder die Bundesbank, die aktuell für dieses Jahr mit 3 Prozent Wachstum rechnet, gegenüber lediglich 1,9 Prozent noch im Juni 
(3) - alle scheinen sich nun mit immer noch günstigeren Wachstumsprognosen gegenseitig überbieten zu wollen. Das aktuellste "Gebot" kommt vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der seine Prognose für 2010 von bisher 2,3 Prozent auf nunmehr 3,4 Prozent anhob. (4)

Im Wochentakt, so scheint es, werden wieder einmal Prognosen verändert. Diesmal jedoch - im Unterschied zur Phase nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers am 15. September 2008 - nach oben.

Die Frage ist, was all diese optimistischen Prognosen wirklich wert sind? Haben die Ökonomen inzwischen gelernt, Finanzmärkte und Wirtschaft besser zu verstehen und zu erklären? Sind ihre Prognosen zuverlässiger geworden?

Skepsis scheint angebracht. Ein ähnliches Prognosechaos gab es nicht zuletzt auch schon in der ersten Weltwirtschaftskrise. (5) Und was sind das für "Wirtschaftsexperten", die, wie zu lesen war, von der wirtschaft-lichen Entwicklung (im zweiten Quartal) "überrascht" und "verblüfft" sein können? (6) Was würden Sie von einem Arzt halten, der Ihnen nach der Behandlung mitteilt, er wäre überrascht, dass sie gesund geworden sind? Ein von der wirtschaftlichen Entwicklung "überraschter Wirtschaftsexperte" - das ist ein Widerspruch in sich.

Was die Skepsis vergrößert, ist, dass die Reaktionen von Fachleuten, Politikern und, ja, auch von Managern auf das vergleichsweise hohe Wachstum im zweiten Quartal wie das spiegelverkehrte Bild des Geschehens in der Hochphase der Krise nach der Lehman-Pleite erscheinen.

Ein Rückblick:

Am 15. Mai 2008 titelte Jörg Krämer, der Chefvolkswirt der Commerzbank, in seinem Konjunktur-Kommentar in der Online-Ausgabe des Handelsblatts: "Deutsches Q1-BIP: Von Krise keine Spur". Im Text führt er dazu - unter dem Eindruck der im Sommer 2007 begonnenen US-Immobilienkrise und ihrer deutschen Ausläufer - Folgendes aus: (7)
"Im ersten Quartal ist die deutsche Wirtschaft gegenüber den letzten drei Monaten des Jahres 2007 überraschend kräftig um 1,5% gewachsen. Der Einstieg in das Jahr 2008 war so gut, dass wir unsere Wachstumsprognose für das gesamte Jahr von 1,8% auf 2,4% erhöhen. Zwar weisen die fallenden Frühindikatoren darauf hin, dass sich das Wachstum in den kommenden Monaten verlangsamen sollte. Aber alles deutet auf eine weiche Landung der deutschen Wirtschaft hin."
Nach dem 15. September 2008, dem Tag der Lehman-Pleite, war diese Prognose nur noch Makulatur - so wie die von allen anderen Ökonomen und Wirtschaftsforschungsinstituten. Beinahe im Wochenrhythmus wurden die Wachstumsprognosen, die für die deutsche Wirtschaft zuvor noch durch die Bank recht optimistisch gewesen waren, nach unten korrigiert - es war ein Überbietungswettlauf nach unten.

So hatte beispielsweise das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) noch Mitte November 2008 für das vierte Quartal 2008 ein Wachstum von 0,2 Prozent im Vergleich zum Vorquartal vorausgesagt. Anfang Dezember korrigierte es den Wert auf Minus 0,3 Prozent nach unten. Ähnlich verhielt es sich mit den Prognosen für 2009. Noch im September 2008 hatte etwa das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) für 2009 mit einem BIP-Wachstum von 0,7 Prozent gerechnet, Anfang Dezember erwartete es ein Minus von 2 Prozent - und war damit pessimistischer als viele andere Konjunktur-forscher. (8) Das Ifo-Institut in München legte mit einem Minus von 2,2 Prozent nach. (9)

Ein ähnlich chaotisches Bild bot sich auch bei den Konjunkturprognosen der Banken: Anfang Dezember 2008 erwartete zum Beispiel die Commerzbank, die deutsche Wirtschaft könne 2009 stärker als die bis dahin prognostizierten 1,2 Prozent schrumpfen, während sich der damalige Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, an die Spitze der Pessimisten setzte und sogar ein Minus beim Bruttoinlands-produkt (BIP) von bis zu 4 Prozent vorhersagte. (10) Im Vergleich dazu beinahe optimistisch war zu diesem Zeitpunkt noch die Wachstums-prognose der Bundesbank, die für 2009 aber immerhin auch mit einem Wachstumseinbruch wie in den 70er Jahren rechnete. In Zahlen ausge-drückt bedeutete dies einen Rückgang des BIP von 0,8 Prozent - noch im Juni 2008 hatte sie für 2009 ein BIP-Wachstum von 1,4 Prozent prophezeit. (11)

Zur selben Zeit wurde in der Presse über ein Regierungsmemo berichtet, demzufolge das Bundeswirtschaftsministerium einen Konjunktureinbruch von 3 Prozent in 2009 für "nicht unrealistisch" halte. (12)

Das Prognosechaos führte schließlich den DIW-Präsidenten Klaus Zimmermann zu dem die Hilflosigkeit der Ökonomen zum Ausdruck bringenden Vorschlag, eine Weile gänzlich auf Konjunkturvorhersagen zu verzichten. (13) Doch auch das löste nur wieder neuen Streit unter den Ökonomen aus. (14)

Nicht nur, dass sich all diese Prognosen im nachhinein als falsch erwiesen - die deutsche Wirtschaft schrumpfte 2009 letztlich um 5 Prozent. Es kam aufgrund der falschen Prognosen, vor allem aber auch infolge der Sprach- und Ratlosigkeit der Ökonomen in Bezug auf die Ursachen und die Bewältigung der Krise, die die Politiker mit den Problemen weitgehend alleine und sie ihr Heil im Experimentieren suchen ließ (15), zu einer Debattein den Medien (16), in Blogs (17) (18), vor allem aber auch in den Wirtschaftswissenschaften selbst (19). Diese Debatte erschütterte die Wirtschaftswissenschaften in ihren Grundfesten und sie hält bis heute an, auch wenn sie in den Medien und Blogs seit Monaten nicht mehr annähernd dieselbe Aufmerksamkeit erhält wie in der bisherigen Hochphase der Krise.

Sicher, es gab einzelne Experten, die vor dem Desaster am amerikanischen Immobilienmarkt gewarnt haben, das im Sommer 2007 begann und als erste deutsche Bank die IKB in Schieflage geraten und später, nach der Lehman-Pleite, die Finanzmärkte und die Wirtschaft an den Rand eines Kollapses geraten ließ. Sie wurden nicht gehört oder schlicht als Untergangspropheten belächelt. Doch die führenden Ökonomen haben all das , was kam, nicht vorausgesehen und was schwerer wiegt: Sie hatten all dem nichts entgegenzusetzen.

Daranhat sich im Grundsatz nichts geändert. Das Problem ist von den Ökonomen keineswegs behoben worden. Es tritt sogar bereits jetzt wieder stärker in den Vordergrund, beim Streit in der Frage, ob neue Konjunkturprogramme oder drastische Sparprogramme der richtige Schritt sind oder alles nur noch schlimmer machen werden. Neoklas-sischer ökonomischer Mainstream contra Keynesianer - der alte Schlag-abtausch wird fortgesetzt und es tritt dabei immer deutlicher hervor, dass hier zwei "Verlierer" auf verlorenem Posten streiten, weil beide noch immer ihre alten Lehren an den Mann zu bringen trachten, aber tatsächlich keine geeigneten Erklärungen für die Krise, keine zutref-fenden Prognosen und keine echte Lösung anzubieten haben. Es ist darum absehbar, dass das Problem der Sprach- und Ratlosigkeit der Ökonomen wieder in den Mittelpunkt rücken wird, sobald sich die Krise erneut signifikant verschärft.


Das kann sehr rasch geschehen - ungeachtet des guten zweiten Quartals in Deutschland, der momentanen Insel der scheinbaren wirtschaftlichen Glückseeligkeit. Der technische Grund dafür liegt in der eng vernetzten globalen Wirtschaft sowie im computerisierten globalen Finanzmarkt. Das eigentliche Problem ist jedoch die dadurch bedingte Anfälligkeit und sogar latente Instabilität des globalen Wirtschaftssystems sowie die Tatsache, dass die stabilitätsgefährdenden Risiken heute zahlreicher sind als je zuvor. Es gibt viele schwelende Problemherde. Jeder einzelne kommt als potenzieller Auslöser für neue, heftige Turbulenzen infrage: Beispielsweisedie die Immobilienmärkte sowohl  in den USA als auch in China, das Problem der faulen Kredite in China, die prekäre Staatsver-schuldung in diversen Staaten, die Gefahr eines Rückfalls der US-Wirt-schaft in die Rezession, soziale Konflikte - etwa in China, aber auch als Folge von drakonischen Sparpaketen, beispielsweise in Griechenland, das Platzen möglicher neuer Blasen an den Finanzmärkten - vor dem Hintergrund des hohen Preisniveaus wäre dabei u. a. an Gold oder andere Rohstoffe zu denken. Für Deutschland stellt die hohe Export-abhängigkeit ein solches Risiko dar.

Vor diesem Hintergrund ist eine Erklärung für den Jubel von Experten, Politikern und, ja, auch Managern über das gute zweite Quartal für die deutsche Wirtschaft naheliegend: Sie sind Weltmeister im Verdrängen.

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