Dienstag, 18. Oktober 2011

Occupy Wall Street und was dann? – Was wird aus der Marktwirtschaft?

Prolog
Vielleicht ist die Zeit reif dafür geworden, nicht mehr nur auf die Schulden- und Finanz-marktkrise zu schauen und sich auf Kritik am Umgang damit zu beschränken. „Occupy Wall Street“ könnte als Zeichen dafür gewertet werden. Vielleicht stehen wir in der breiteren Diskussion jetzt am Beginn einer neuen Phase des Austauschs über die Möglichkeiten der Veränderbarkeit bzw. Formbarkeit der gegenwärtigen Verhältnisse, unter denen sich finanzielle und wirtschaftliche Aktivitäten abspielen.
Es geht also durchaus um Prinzipielles, nämlich um die Systemfrage, wobei es - aus meiner Sicht - wichtig ist, aus dem alten Diskussionsschema "Marktwirtschaft versus Planwirtschaft" auszubrechen, weil es auf der herrschenden wirtschaftsliberalen und neoklassischen Theorie gründet. Deren Marktverständnis und Erklärung der Marktwirt-schaft sind überholt. "Marktwirtschaft" ist nicht, wie suggeriert wird, geprägt von einem sich selbstregulierenden, effizienten und unbeeinflussbaren Markt. Die Finanzmarktkrise belegt, wie falsch diese Vorstellung wirklich ist. Das heißt aber dann nichts anderes, als das die Marktwirtschaft durchaus formbar und die gegenwärtige Ausprägung der Markt-wirtschaft (Raubtierkapitalismus) keineswegs als alternativlos hinzunehmen ist.
Sofern man sich auf eine solche, auf die nächste Stufe gehobene Debatte einlassen will, halte ich es für wichtig zuerst die Möglichkeit der Formbarkeit des bestehenden markt-wirtschaftlichen Systems zu diskutieren. Marktwirtschaft und Neoliberalismus sind nicht zwei Seiten derselben Medaille. Das aber ist immer noch das vorherrschende, auch fest in der Gesellschaft verankerte Bild! Das muss notwendigerweise in der Gesellschaft erst noch erkannt werden und darum lohnt es sich, auf die Frage und Möglichkeiten der Formbarkeit einzugehen.
System-Alternativen zur Marktwirtschaft zu suchen und zu entwickeln, ist sinnvoll. Sie zu diskutieren, ist jedoch nur dann wirklich gewinnbringend, wenn eine solide Vergleichsbasis hinsichtlich der Stärken, Schwächen, Vor- und Nachteile sowie der prinzipiellen Möglichkeiten von Konzepten oder Entwürfen geschaffen worden ist und in der gesellschaftlichen Diskussion verständlich ausgebreitet werden kann.

Stimmungsbild
Die weltweiten Proteste im Rahmen der Initiative „Occupy Wall Street“ zeigen: Kapitalismus, Marktwirtschaft und „die Märkte“ sind in Verruf geraten. Die Menschen erleben, wie eine immer kleiner werdende Elite immer reicher wird, während ein immer größer werdender Teil der Bevölkerung immer ärmer wird. Die Proteste und ihr führendes Motto „Wir sind die 99 Prozent“, das genau darauf verweist, zeigen, dass eine wachsende Zahl von Menschen nicht mehr bereit ist dies unwidersprochen hinzunehmen. Die Menschen erleben, wie sie doppelt und dreifach zur Kasse gebeten werden für unverantwortliche Geschäfte und Wetten auf den Finanzmärkten und für eine erfolglose Krisenpolitik. Und das von jenen Politikern, die diese Geschäfte und Wetten erst möglich gemacht haben und nun seit Jahren nicht die Einsicht, den Willen oder den Mut aufzubringen in der Lage sind, etwas daran zu ändern.
Sie fühlen sich von der Politik verraten und verkauft. Nach der durch die Lehman-Pleite ausgelösten Finanzmarktkrise versprachen die Staats- und Regierungschefs der führenden Industriestaaten alles zu tun, damit sich eine solche Krise nicht wiederholen kann. Jetzt, drei Jahre später, ist klar, dass die Finanzmärkte wieder am Rande eines Kollapses stehen, der noch Schlimmeres erwarten lässt.
Die Politiker haben nicht nur ihr Versprechen nicht gehalten. Sie beabsichtigen offenbar auch erneut, die Verursacher der Krise mit Steuergeldern zu stützen. Es kann kaum mehr ein ernster Zweifel daran bestehen, dass die Finanzmarktakteure unter anderem durch riskante Geschäfte im Zusammenhang mit Schuldenstaaten, die zur Verschärfung der Misere dieser Staaten beitrugen (z. B. Credit Default Swaps (CDS)), in Schwierig-keiten geraten sind. Sie haben daran kräftig verdient und nun, da sich zeigt, dass sie viel zu riskant gespielt haben, geht es wieder um Rettung auf Kosten der Allgemeinheit. Und erneut könnte es eine nahezu bedingungslose Rettung werden. In diesem Fall wird sich wieder nichts oder so gut wie nichts ändern.
Es ist folglich kein Wunder, dass Marktwirtschaft und die Finanzmärkte für viele ein rotes Tuch geworden sind. Nicht wenige zweifeln mittlerweile generell an der Marktwirtschaft und dem Kapitalismus. Planwirtschaft und Sozialismus werden jedoch offenbar nicht als Alternative angesehen.
Was aber dann?

Pathogenese der Marktwirtschaft
Es ist nicht zu übersehen, dass es wachsende Widerstände gegen die Fortsetzung des bisherigen politischen Krisenkurses in der Bevölkerung und auch unter Fachleuten gibt. Zugleich gibt es aber auch eine Orientierungskrise. Es fehlt eine konsensfähige Vor-stellung von der Alternative, die zu verwirklichen angestrebt werden soll und auch der Weg dorthin liegt im Nebel.
Insofern ist es sinnvoll, zunächst eine Art Bestandsaufnahme oder Pathogenese vor-zunehmen, um zu klären, was im Einzelnen zur Krise der Marktwirtschaft beigetragen hat und aus welchen Facetten sie sich zusammensetzt. Das soll im Folgenden versucht werden:
1.  Wirtschaftswissenschaften: Aus der klassischen liberalen wie auch aus der neueren liberalen neoklassischen ökonomischen Theorie stammt die seit Jahrzehnten vertretene Hypothese, Märkte seien effizient, untrüglich, vom Einzelnen unbeein-flussbar und selbstregulierend und kämen von sich aus immer wieder ins Gleich-gewicht bzw. sie bewegten sich entlang eines gleichgewichtigen Wachstumspfades.
Das ist bis heute das herrschende Verständnis von Märkten und damit auch der Marktwirtschaft, obwohl es durch die Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise entkräftet worden ist.

Hinzu kommt, dass sich die führenden Theorien auf die Realwirtschaft beziehen und den Finanzsektor, insbesondere auch die Rolle von Banken und Krediten, in ihren Standardmodellen bisher weitestgehend ausgeklammert haben. Den Finanzmärkten wurde nur eine Dienstleistungsfunktion für die Realwirtschaft eingeräumt. Betrachtet wurden hauptsächlich die Kapitalmärkte (mittel- und langfristige Finanzierung von Investitionen) und der Geldmarkt (kurzfristige Liquiditätssicherung unter Banken und über Notenbanken).

Das ist der Grund, warum die Finanzmarktkrise von den führenden Ökonomen weder vorhergesehen noch erklärt werden konnte und eigentlich, gemäß der Effizienz- und Selbstregulierungsthese, nicht hätte geschehen können.

Seit Jahrzehnten wird darüber hinaus im ökonomischen Mainstream die Hypothese vertreten, Großunternehmen und oligopolistische Märkte seien am besten geeignet, volkswirtschaftliche Effizienz und gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum und mithin Beschäftigung sicherzustellen. Sie wurde über viele Jahre hinweg durch die realwirt-schaftliche Entwicklung bestätigt.

In der letzten Dekade war das jedoch immer weniger der Fall und spätestens mit Beginn der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise nach der Lehman-Pleite ist deutlich geworden, dass die herrschenden ökonomischen Theorien nur sehr unvollkommen erklären, was auf realen Märkten im Zeitablauf geschieht. Und anders als angenommen erweisen sich Großunternehmen heute nicht mehr als Garant für Wachstum und Beschäftigung. Stattdessen sind die Märkte, die sie dominieren, durch Sättigung, Überkapazitäten, Kostendruck und Beschäftigungsabbau gekenn-zeichnet und instabil sowie krisenanfällig geworden. Mehr noch stellen Großbanken und Großunternehmen heute bedingt durch ihre Größe und gesamtwirtschaftliche Bedeutung zunehmend selbst ein Risiko für Volkswirtschaften dar (Too Big to Fail) und erschweren die Rückkehr zu einer gesunden marktwirtschaftlichen Dynamik (Too Big to Defeat).

An diesen Theorien und Vorstellungen von den Bedingungen und Voraussetzungen für eine prosperierende Marktwirtschaft orientiert sich die Politik seit über vier Dekaden. Die Marktwirtschaft, so wie wir sie heute erleben, ist das Ergebnis davon.
2.  Korporatismus: Darüber hinaus ist festzustellen, dass wir auf einer ganzen Reihe von Märkten schon seit längerem keine ausschließlich vom Wettbewerb gesteuerte Marktwirtschaft mehr haben.
Mit dem fortschreitenden Unternehmenskonzentrationsprozess auf den Märkten hat sich über die Jahre auch die politische Praxis verändert. Nicht mehr die gesamte Wirtschaft steht im Fokus der Politik, sondern Großunternehmen und spezifische, einflussreiche Interessengruppen. Wir haben einen ausgeprägten Lobbyismus, der im Resultat auf einer Reihe von Märkten dazu führt, dass Politik, Interessengruppen und Konzerne mehr oder weniger aushandeln, welche Produkte und Leistungen auf den entsprechenden Märkten zu welchen Bedingungen angeboten werden und erfolgreich sein können. Davon sind alle anderen Teile der Wirtschaft ausgeschlossen, vornehmlich kleine und mittelgroße Unternehmen. Sie müssen sich im Wettbewerb in den verbleibenden Marktnischen bewähren.
Das heißt, wir haben in den Industriestaaten heute – mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt - eine partiell gruppenwirtschaftlich gesteuerte bzw. korporatistische Marktwirtschaft. Das gilt auch für den Finanzsektor.
Diese Wirtschaftsform steht zwischen der wettbewerblichen Marktwirtschaft und der Planwirtschaft. Sieht man „Wettbewerbswirtschaft“ und „Planwirtschaft“ als die Endpunkte einer Skala der Wirtschaftsformen an, so bewegen wir uns wirtschafts-systemisch gesehen – wieder einmal – in Richtung Planwirtschaft und zwar bereits seit vielen Jahren.
3.  Finanzmärkte: Es kommt hinzu, dass wir nicht nur eine korporatistische Markt-wirtschaft haben, sondern auch eine gewissermaßen pervertierte.
Letzteres deswegen, weil nicht mehr die Realwirtschaft Schrittmacher der globalen Entwicklung ist, sondern die Finanzwirtschaft. Geld ist selbst zu einem beliebig vermehrbaren Produkt geworden. Es ist nicht mehr fest an irgendwelche physischen Werte gekoppelt und existiert als Buchgeld auch nicht einmal mehr physisch. Von der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) wurde das Volumen des weltweiten Derivatemarktes (Over the Counter (OTC)) Ende Dezember 2010 auf der Basis der verfügbaren Daten auf 601 Billionen Dollar geschätzt. (1) Das globale BIP belief sich hingegen 2010 gemäß IWF-Daten nur auf 62,9 Billionen Dollar. (2) Zudem wurden die Bilanzierungsregeln so weit gelockert, dass mitunter für Wertpapiere, die auf dem Markt im Extrem unverkäuflich sprich wertlos geworden sind, in der Bilanz Phantasie-preise angesetzt werden können. Die Finanzmärkte sind der reinste „Wilde Westen“.
Die auf den Finanzmärkten ermittelten Preise und Kurse dominieren die Preis- und Werteentwicklung in der Realwirtschaft und damit auch die realwirtschaftliche Entwicklung selbst. Aber sie stehen nicht mehr im Einklang mit den realwirtschaft-lichen Fundamentaldaten.
Das heißt, die Finanzmärkte haben sich weitgehend von der Realwirtschaft abgekoppelt. Sie schweben quasi in der Luft und steigen dort immer höher hinauf. Ihre Dienstleistungsfunktion für die Realwirtschaft ist verkümmert. Sie dienen in erster Linie sich selbst, mit oft schädlichen Konsequenzen für die Realwirtschaft.
Das alles hat mit wettbewerblicher Marktwirtschaft nichts mehr zu tun, sondern ist eine sehr spezifische Ausprägung der korporatistischen Wirtschaft.
4.  Systemerhaltung: Unglücklicherweise werden die aktuellen Marktverhältnisse unter Bezugnahme auf die herrschende ökonomische Theorie als wettbewerblich interpre-tiert. Das Testat „funktionsfähige, wettbewerbsgesteuerte Märkte“ wird in Verbindung mit der weiterhin aufrecht erhaltenen Hypothese der vom Einzelnen unbeeinflussbaren, effizienten und selbstregulierenden Märkte von Entscheidern in Politik, Wirtschaft und Finanzwelt missbraucht, um unter dem Etikett der Rettung der wettbewerblichen Marktwirtschaft nahezu alles zu rechtfertigen, um das bestehende korporatistische System am Leben bzw. „funktionsfähig“ zu erhalten.
Das wird nicht möglich sein. So hat etwa schon 1910 der Ökonom Rudolf Hilferding, der Begründer der sogenannten Lehre vom Staatsmonopolkapitalismus (Stamokap) (in: „Das Finanzkapital“) darauf hingewiesen, dass eine zunehmend von wenigen, sehr großen Unternehmen und Banken geprägte korporatistische Wirtschaft instabil ist und der Staat darin quasi zum Reparaturbetrieb der Marktwirtschaft wird. Er vertrat die Auffassung, dass dieses System kollabieren müsse. Lenin pflichtete ihm bei und sah darin sogar eine Chance, den Sozialismus zu verwirklichen. Die herrschende ökono-mische Theorie wiederum erklärt uns seit Jahrzehnten (siehe Punkt 1), dass eine von wenigen großen Unternehmen und Banken geprägte Wirtschaft ideal für Wachstum und Beschäftigung ist. (siehe dazu kritisch: Im Spiegel der Armut)
5.  Presse und Medien unterstützen die Bestrebungen, die korporatistische Wirtschaft unter dem Deckmantel der Rettung der wettbewerblichen Marktwirtschaft funktionsfähig zu erhalten, indem sie entlang dieser Begründungschiene über die Geschehnisse berichten. Das ist keine Überraschung, denn dieser Markt wird ebenfalls von wenigen großen Konzernen – Stichwort: Rupert Murdoch – beherrscht und kontrolliert.
Sehr oft findet sich deswegen die Sprachformel, die Märkte wiesen auf dieses oder jenes Problem hin oder forderten dieses oder jenes, frei nach dem Motto: wenn etwas nur oft genug und überall wiederholt wird, wird es als wahr empfunden. Auch bestätigen sie im Grundtenor regelmäßig die Alternativlosigkeit von Maßnahmen.
Dadurch und durch nicht immer objektiv aufbereitete und oft nur bruchstückhaft bereitgestellte Daten und Fakten, ist es für das Gros der Bevölkerung kaum möglich, sich ein realistisches Bild von der Situation, den Ursachen und den geeigneten Maßnahmen zu machen.
Freilich sind Skepsis und Misstrauen gegenüber Presse und Medien sowie den Aussagen von Politikern und bemühten Experten groß, weil das Bild, das sie zeichnen, an vielen Stellen mit der Realität nicht mehr in Einklang zu bringen ist. Die Protestbewegung „Occupy Wall Street“ zeigt das. Auch wollen sich immer weniger Menschen damit abfinden, den offensichtlichen negativen Folgen dieser – vorgeblich alternativlosen – Form von Marktwirtschaft ausgesetzt und ausgeliefert zu sein. Allerdings werden ihnen in Presse und Medien auch keine Alternativen offeriert, die den Bürgern etwas anderes in Aussicht stellen und über die dann eine Auseinander-setzung erfolgen könnte. Dies lässt den Eindruck entstehen, als existierten auch keine Alternativen, was nicht stimmt.
6.  Nachfrager: Andererseits ist es einfach und bequem, dem Gespann aus Politik, Lobbyisten, Bankern und Konzernen die gesamte Schuld für die marktwirtschaftliche Misere anzulasten. Tatsächlich ziehen sich jedoch viele Bürger immer wieder genauso wie Entscheider in Wirtschafts-und Finanzwelt und Politik auf die bequeme Position der vom Einzelnen unbeeinflussbaren, selbstregulierenden Märkte zurück, um das zu tun und zu rechtfertigen, was für sie einfach oder angenehm, aber nicht richtig ist, weil es zur Entgleisung der Marktwirtschaft beiträgt. Darüber denken viele offensichtlich gar nicht nach.
Beispielsweise tragen sehr viele nach wie vor ihr Geld zu jenen Banken, die zu den Verursachern der Krise gehören, und investieren es in Papiere, die die Krise verur-sachten und zur Verteuerung von Rohstoffen beitragen. Es sind – anders als in der herrschenden Theorie, die die Angebotsseite für allein ausschlaggebend erklärt – nicht allein die Anbieter, die den Takt und die Marschrichtung vorgeben. Es sind auch die Nachfrager, die mit ihren Kaufentscheidungen in der Summe über Takt und Richtung der Entwicklung von Märkten und der Marktwirtschaft mitentscheiden. Wenn die Gesellschaft also beispielsweise keine Casino-Wirtschaft oder keine Atomenergie oder gesunde Lebensmittel will, dann muss sich jeder Einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten auch entsprechend verhalten – auch wenn das allein für eine Änderung der Verhältnisse noch nicht ausreicht. Es ist nicht egal, beim wem und wofür Geld angelegt oder ausgegeben wird und woher beispielsweise Strom und Lebensmittel kommen. Der Preis ist eine Orientierungsgröße, ja. Aber wir zahlen eben nicht nur mit unserem Geld für das, was wir kaufen oder in Anspruch nehmen. Die Marktwirtschaft ist, was wir daraus machen.

Folgerungen
Es gibt also eine ganze Reihe von Ursachen für die Krise der Marktwirtschaft, die zugleich als Ansatzpunkte für Veränderungen anzusehen sind.
Zunächst lässt sich präzisieren, dass das, was heute zunehmend abgelehnt wird, nicht die Marktwirtschaft oder genauer gesagt die wettbewerbliche Marktwirtschaft ist, sondern die korporatistische Marktwirtschaft, die uns als wettbewerbliche Marktwirtschaft verkauft wird.
Es lässt sich des Weiteren festhalten, dass die Erscheinungsform der Marktwirtschaft, so wir sie heute erleben, anders als suggeriert beeinflusst und verändert werden kann. Zu behaupten, wie es vor allem (neo)liberale Politiker und Wirtschaftslobbyisten gerne tun, die Alternative hieße: entweder Marktwirtschaft oder Planwirtschaft, ist unhaltbar, wenn akzeptiert wird, dass Märkte nicht selbstregulierend sind. Sie sind es nicht. Dann aber stellt sich automatisch die Frage nach dem Verhältnis von wettbewerblicher und staat-licher Steuerung, die nicht ohne weiteres und nicht unabhängig von der Entwicklung von Märkten zu beantworten ist. Sie stellt sich immer wieder neu.
Diese Frage lässt sich jedoch aus der herrschenden (liberalen und neoklassischen) Theorie heraus gar nicht und aus der keynsianischen Theorie heraus offensichtlich nur sehr unzureichend beantworten. In diesem Punkt wird also auf neuere wirtschafts-wissenschaftliche Erklärungsansätze und Theorien Bezug zu nehmen sein.
Darüber hinaus ist jedoch zu betonen, dass diese Frage grundsätzlich nicht in einer Weise beantwortet werden kann, die Gesellschaft und Politik von der Entscheidung entbindet. Die Marktwirtschaft ist eben kein Automat, den wir nur zu nehmen und anzuwerfen brauchen, damit es uns allen gut geht. Selbst wenn es möglich ist, sie besser zu verstehen und zu erklären, so ergeben sich dennoch erhebliche Gestaltungs-spielräume. Ob die Marktwirtschaft gewollt ist und wenn ja, welche Form von Marktwirt-schaft als Ziel angesehen werden soll, ist eine gesellschaftliche Entscheidung. Es ist Sache der Ökonomen, Entscheidungsgrundlagen zu schaffen und geeignete neue Handlungsorientierungen zu geben, wie die Marktwirtschaft „repariert“ bzw. in einem positiven Sinne, nämlich im Sinne von Chancengleichheit und Fairness, wieder „wett-bewerblicher“ gemacht werden kann.
Hinter dem „Wie?“ steht indes bisher noch ein Fragezeichen oder genauer gesagt gibt es dort bisher keinen Konsens und viele Lücken. Das ist kein Wunder, weil in den Wirtschaftswissenschaften die Abkehr von der herrschenden Lehre noch immer nicht begonnen hat. Dasselbe gilt aber auch für die Diskussion über die Formbarkeit der Marktwirtschaft außerhalb der Zunft der Ökonomen.
Eines ist jedoch klar: Der ausschlaggebende Impuls zur Abkehr von der korporatistischen Marktwirtschaft wird nicht von den involvierten Interessengruppen, Unternehmen und Banken ausgehen und wohl auch nicht von den Regierungen. Auch das zeigt uns „Occupy Wall Street“.

4 Kommentare:

  1. Hut ab. Besser kann man es wohl nicht formulieren.

    Georg Trappe

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  2. Hallo Herr Eichner,

    tolles Resumee. Ich möchte aber noch auf einen Aspekt unserer Marktwirschaft hinweisen (wieder einmal) der beachtet werden muss.

    So wie es eine Konzentration der Unternehmen hin zu einem Korporatismus gibt, gibt es eine Konzentration der Vermögen hi zu einer neofeudalen Kapitalherrschaft.

    Wenn wir eine neue Form des Güterausstauschs in unserer Gesellschaft entwickeln wollen, müssen wir nicht nur verhindern, dass einzelne Unternehmen zu Groß (und Anti demokratisch) werden und die Marktwirtschaft gefährden, sondern auch, dass Vermögen zu groß werden.

    Meiner Ansicht nach funktioniert Marktwirtschaft als selbstregulierendes System so lange gut, so lange die Vermögen der Marktteilnehmer sich nicht zu sehr unterscheiden. Dies soll kein Aufruf zur Egaltät sein, aber wir müssen eine Übereinkunft in unserer Gesellschaft finden, wie Groß Vermögen sein dürfen um die Demokratie und die Marktwirtschaft nicht zu gefährden.

    Übrigens, auf der Suche nach existierenden Lösungsansätzen, die einen Mittelweg zwischen Martk und Planwirtschaft beschreiten bin ich auf die "economic democracy" von David Schweickart gestossen, der schon viele gute Ansätze entält.

    http://www.youtube.com/watch?v=OT4cNwC-aGQ

    Vielleicht für Sei von Interesse?

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  3. Hallo Alien Observer,

    ich stimme Ihnen absolut zu. Über den Zusammenhang zwischen Unternehmens- und Vermögenskonzentration haben Georg Trappe und ich uns auch schon vor einiger Zeit ausführlich ausgetauscht und auch die Frage erörtert, inwieweit eine steuerliche Lösung hilft. Wir sind aber beide zu der Auffassung gelangt, dass sie nicht reicht, sondern dass man beides - Unternehmens- und Vermögenskonzentration in den Blick nehmen muss. Ich hoffe, ich habe das jetzt auch im Sinne von Herrn Trappe formuliert.)

    Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist dann auch der Aufsatz "Im Spiegel der Armut" (hier gepostet am 2. September) entstanden.

    Viele Grüße
    SLE

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  4. Machtkonzentration ist ein ganz wesentlicher Teil des Problems. Dabei spielt es meiner Meinung nach eine untergeordnete Rolle, ueber welche Wege sich die Macht manifestiert und rechtfertigt. Es spielt keine Rolle ob Gottesgnadentum, geerbte Grossvermoegen oder Monopol- bzw. Oligopolstellung in bestimmten Maerkten herangezogen werden, um die Macht zu begruenden. Entscheidend ist, ob es einen zivilisierten Weg gibt, Macht zu brechen, wenn dies im Sinne des Gemeinwohls geboten erscheint. Im Staatswesen ist das durch Gewaltenteilung und regelmaessige Wahlen vorgesehen. Im Bereich der Wirtschaft, dazu zaehle ich auch die Vermoegensverteilung, durch eine Ueberbetonung der exklusiven Eigentumsrechte leider nicht. Was ganz offensichtlich dazu fuehrt, dass die in den demokratischen Verfassungen angelegten Mechanismen zur Machtbeschraenkung ausgehebelt werden und nicht mehr greifen.

    Viele Gruesse

    Georg Trappe

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