Sonntag, 4. Dezember 2011

Hinter dem Statistik-Schleier: Prekäre Lage der US–Volkswirtschaft und katastrophale Bilanz der US-Krisenpolitik

Die europäische Schuldenkrise, von den Medien zur „Euro-Krise“ gemacht, ist für die Regierungen von David Cameron und insbesondere Barack Obama seit Wochen die ausgemachte größte Gefahr für ihre jeweilige heimische Volkswirtschaft. Die Botschaft ist, dass es die Europäer sind, die die Finanzmärkte und die globale Wirtschaft in ein neues Desaster zu stürzen drohen. Europa ist ein scheinbar willfähriger Sündenbock. Ernsthafte Bemühungen von offizieller Seite, dieses Bild als unrichtig zu entlarven, hat es bisher erstaunlicherweise nicht gegeben.
Das haben jetzt stattdessen einmal die Blogs „Bankhaus Rott & Frank Meyer“ (1) und „Querschuesse“ (2) getan, mit einem genaueren Blick auf und hinter die offiziellen US-Statistiken. Seit Jahren tut das auch John Williams mit seinen „Shadow Government Statistics“ (3).
Die genannten Blogbeiträge möchte ich deswegen ausdrücklich zur genaueren Lektüre all jenen empfehlen, die sich ein ungeschöntes Bild von der Lage der US-Volkswirtschaft machen möchten. Nur als „Appetizer“ hier ein paar Basisinformationen daraus:
Die offizielle US-Arbeitslosenquote gemäß der sogenannten U3-Definition lag im November bei nur noch 8,6 Prozent bzw. 13,03 Millionen Arbeitslosen – sie sank gegenüber dem Vormonat um 0,4 Prozent. Das sieht erfreulich aus.
Daneben gibt es eine weitere, breiter gefasste Arbeitslosenquote (als „U6“ bezeichnet), die aber in den Medien praktisch keine Rolle spielt, weil die US-Regierung sich immer nur auf die „U3“-Arbeitslosigkeit bezieht. Die U6-Arbeitslosigkeit umfasst zusätzlich zu den offiziell Arbeitslosen gemäß der U3-Statistik, marginal und geringfügig Beschäftigte, Teilzeitbeschäftigte, die eine Vollzeitstelle suchen sowie „entmutigte Arbeitslose“, die die Jobsuche aufgegeben haben.
Auch die U6-Arbeitslosenquote weist im November zwar eine Aufhellung am US-Arbeitsmarkt aus. Sie reduzierte sich um 0,6 Prozentpunkte. Allerdings liegt die US-Arbeitslosigkeit gemäß U6-Definition mit 15,6 Prozent auch fast doppelt so hoch wie die an die Öffentlichkeit berichtete US-Arbeitslosigkeit (U3). (4) (5)
Querschuesse weist aber explizit darauf hin, dass weder bei der U3- noch bei der U6-Arbeitslosenquote das ständig größer werdende Heer derjenigen, die als dem Arbeitsmarkt "nicht zur Verfügung stehend" gelten, berücksichtigt wird. Das sind aktuell 86,5 Millionen US-Bürger, davon sind 53,8 Millionen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren. Was das bedeutet, wird in der Relation zur Zahl der dem US-Arbeitsmarkt offiziell "zur Verfügung stehenden" US-Bürger deutlich: Das sind 153,6 Millionen - 140,6 Millionen beschäftigte und 13 Millionen arbeitslose US-Bürger. Querschuesse erläutert in seinem Aufsatz, warum er ernste Zweifel daran hat, dass die Zahlen der dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte tatsächlich so hoch ist wie offiziell ausgewiesen. Darüber hinaus: Wenn man allein schon bedenkt, dass es in den USA bereits seit März 2010 mehr als 40 Millionen Essensmarkenempfänger gibt (6) und aktuell jeder sechste US-Bürger in Armut (also ca. 46 Millionen Menschen) lebt (7), dann kann man sich schwer vorstellen, dass das alles Menschen sein sollen, die nicht arbeiten können oder wollen.
John Williams hält auch die U6-Arbeitslosigkeit für nicht realistisch. Er geht in seinen „Shadow Government Statistics“ aktuell von einer realen US-Arbeitslosigkeit von über 22 Prozent aus. (8) Demnach wäre die tatsächliche Arbeitslosigkeit in den USA beinahe dreimal so hoch wie offiziell bekanntgegeben und es wären folglich tatsächlich nicht 13 Millionen, sondern mehr als 33 Millionen US-Bürger arbeitslos.
Querschuesse verdeutlicht darüber hinaus sehr anschaulich die gravierenden strukturellen Probleme der US-Volkswirtschaft. Auch dazu hier nur Beispiele: (9)
„Das nominale BIP stieg vom Jahr 2000 bis Q3 2011 um +52,5% auf 15,1805 Billionen Dollar, während die saisonbereinigten Beschäftigtenzahlen nur um +2,18% auf 140,025 Millionen in Q3 2011 stiegen.
Während die Beschäftigung nur um +2,18% von 2000 bis Q3 2011 anstieg, explodierten die Unternehmensgewinne um +141,38% auf 1,977 Billionen Dollar in Q3 2011.“
Und weiter:
„Außerhalb der Landwirtschaft (Total Nonfarm Employment) gab es im November 2011 131,708 Millionen Jobs, im breiter gefassten produzierenden Gewerbe (Goods Producing) waren es nur 18,101 Millionen Beschäftigte (blau). …
Im November 2011 waren nur noch 8,93% aller Beschäftigten außerhalb der Landwirt-schaft im Verarbeitenden Gewerbe beschäftigt.“
… „In Q3 2011 betrug der mediane reale Wochenlohn 332 Dollar und damit lag dieser um -7 Dollar unter dem Niveau von Q1 1979.“
Querschuesse sieht dies als klaren Beleg für eine degenerierte Marktwirtschaft und als Folge der von den global agierenden US-Konzernen seit vielen Jahren verfolgten Strategie der Kostensenkung, des Outsourcings und Downsizings sowie der Verlagerung in Niedriglohnländer. Sein Fazit: (10)
„Jahrzehnte an Produktivitätssteigerungen sind an den realen Einkommen der Arbeit-nehmer spurlos vorbeigegangen und Einkommen wurden in einer Vielzahl durch Kredite ersetzt. … Die Job-Recovery war und ist eine Farce. Trotz Billionen Dollar an Stimulus durch Notenbank und Staat hat es in der Relation zum Bevölkerungszuwachs bisher keinen nennenswerten, gar selbsttragenden Aufschwung am Arbeitsmarkt gegeben.“
Es lassen sich viele Belege für die prekäre Lage der US-Volkswirtschaft und damit für die erschütternde Bilanz der US-Krisenpolitik finden. Das alles zeigt einerseits, dass definitiv nicht an den strukturellen Ursachen der Krise angesetzt, sondern im Gegenteil de facto bisher nur der Versuch unternommen wurde, jene Strukturen, die diese, sich in den Daten und Fakten widerspiegelnden Wirkungen erzeugen, zu erhalten. Das aber hat mit Krisenbewältigung nichts zu tun. Andererseits entlarven die entschleierten US-Sta-tistiken die Versuche der US-Regierung, die europäische Schuldenkrise als die eigentliche und größte Gefahr für die Welt- und insbesondere für die US-Wirtschaft erscheinen zu lassen, als das, was sie wirklich sind: Ein Ablenkungsmanöver und die Suche nach einem Sündenbock für das eigene Versagen.
Allerdings ändert auch der unverschleierte Blick auf die Lage der US-Volkswirtschaft nichts daran, dass die europäische Krise ernst und nach wie vor nicht unter Kontrolle gebracht worden ist. Dasselbe gilt für Großbritannien und Japan. Doch anstatt alle Kräfte auf eine effektive Krisenbekämpfung zu richten, liefern sich die Industriestaaten über Presse und Medien einen absurden Streit darüber, wem die rote Laterne für das schlechteste Krisenmanagement gebührt. Das ist absurd, weil es in diesem Streit keine Gewinner geben kann. Die Unfähigkeit zur Krisenbewältigung macht alle zu Verlierern.

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