Dienstag, 12. Juni 2012

Stillstand bei der Krisenbekämpfung: Panikmache mit dem Ziel des Status-Quo-Erhalts


Kommt es Ihnen auch so vor? – Nahezu im Tagesrhythmus schwappen aus den unterschiedlichsten Richtungen eindringliche Warnungen an die Politik durch Presse und Medien, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen oder nicht zu ergreifen, würde sich massiv krisenverschärfend auswirken. Praktisch für alle Maßnahmen, über die seit Monaten im Zusammenhang mit der weltweiten Schuldenkrise diskutiert wird, gibt es jeweils ein Lager eindring-licher Befürworter und Gegner. Ob ESM-Aufstockung, Euro-Bonds, Schuldenschnitt, Strukturreformen, Liquiditäts-schwemme, Niedrigzins oder Finanztransaktionssteuer usw. – so gut wie jede einzelne Anti-Krisenmaßnahme ist höchst umstritten. Was unter dem Strich bleibt, ist Konfusion über die möglichen und die wahrscheinlichen Konsequenzen, die das Ergreifen oder Unterlassen jeder dieser Maßnahmen haben würde.
Ein wirklich klarer Krisenkurs existiert nicht. Nicht in Europa, nicht in den Vereinigten Staaten, nicht in Japan oder – so scheint es – wo auch immer sonst. Und, wenige Wochen vor der Neubesetzung eines großen Teils des obersten Organs der kommunistischen Partei, nicht einmal in China. Gleichwohl existiert aufgrund der unbefriedi-genden Resultate der bisherigen Krisenpolitik der immer stärker werdende Wunsch, Änderungen an derselben vorzunehmen.
Dass es nicht dazu kommt, ist vor dem zuvor beschriebenen Hintergrund kein Wunder.
Zwecks besserer Orientierung für die Beobachter mag es hilfreich sein, sich an ein paar einfache Erkenntnisse aus der im Prinzip seit 2007 anhaltenden Krise zu erinnern.
Zunächst einmal ist daran zu erinnern, was uns die Krise über den Wert der Theorien, Modelle, Erklärungen und letztlich vor allem auch des Rates führender Ökonomen liberal-neoklassischer sowie monetaristischer Prägung, aber auch keynesianischer Ausrichtung, gelehrt hat. Er ist weitaus geringer bis dahin angenommen. Theorien, Modelle und Erklärungen haben sich als mangelhaft erwiesen und zwar in einer Weise, die letztlich kaum eine andere Folgerung als die der Notwendigkeit einer grundlegenden Neuorientierung der Wirtschaftswissenschaften zulässt. Gleichwohl sind diese beiden, die Wirtschaftswissenschaften dominierenden ökonomischen Lehren nach wie vor der Kompass in der Debatte über Krisenmaßnahmen.
War es im Nachhinein betrachtet ein Fehler, vor Ausbruch der Krise auf die herrschenden ökonomischen Lehren zu vertrauen, nach deren Lehren es die Krise eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, so gilt selbiges auch jetzt bei der Suche nach Wegen aus der Krise. Was Ökonomen dieser beiden Schulen uns über die Krise, die Krisenbewältigung, aber auch über die möglichen und wahrscheinlichen Konsequenzen des Ergreifens bzw. Unterlassens verschiedener Maßnahmen sagen, kann – sofern sie sich dabei auf ihre theoretischen Grundlagen abstützen – nicht mehr als geeignete Orientierungshilfe angesehen werden.
Es ist ein besonderes Problem und Hemmnis bei der Überwindung der Krise, dass sich die führenden linken und rechts-Konservativen Parteien in den Industrienationen traditionell und dogmatisch an jeweils eine dieser beiden führenden ökonomischen Schulen gebunden haben. So lange sich nicht zumindest daran etwas ändert oder diese Parteien von einer anderen, nicht einer dieser beiden Lehrmeinungen verhafteten Partei bei Wahlen überflügelt werden, steckt die Krisenbewältigung fest.
Was für die Krisenbewältigung nottut und zwar nicht nur in Europa, sondern in den Industriestaaten, ist ein Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften wie auch in der Wirtschaftspolitik. Genau das ist in der ersten Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren geschehen. Es gab einen Paradigmenwechsel hin zur Lehre von John M. Keynes. Keynes hilft uns in der aktuellen Krise jedoch nicht weiter. Was wir heute brauchen, ist ein neuer „Keynes“, eine neue, treffende Erklärung der Krise einer ökonomischen und Finanz-Welt, die mir der der 30er Jahre kaum mehr etwas gemein hat.
Was wir des Weiteren aus der Krise gelernt haben, ist, dass die Probleme, die die Krise hat zutage treten lassen, nach wie vor existieren und mehr noch, dass weitere hinzugekommen sind – insbesondere die hohe Staatsverschuldung.
Nun kann niemand behaupten, es habe keine Krisenpolitik gegeben. Viele werden indes darauf hinweisen, dass die drastisch gestiegene Staatsverschuldung und die erneute Verschärfung der Wirtschaftskrise – insbesondere in den Schuldenstaaten – Folgen dieser Krisenpolitik sind. Doch selbst wenn man dies nicht in dieser Schärfe sagen mag bleibt es bei einem zutiefst frustrierenden Fazit: Die bisherige Krisenpolitik hat nichts anderes getan, als den Status Quo zu stabilisieren. Das heißt, sie hat das – finanzielle aufwendig – gestützt und zu erhalten versucht, was offensichtlich systemische Instabilität und Dauerkrise produziert. Die Profiteure der Krisenpolitik sind in mehr oder minder großem Umfang auch die Krisenverursacher. Nur so lässt sich letztlich die katastrophale Bilanz der bisherigen Krisenpolitik erklären.
Und weil das so ist, beteiligen sie – die Krisenverursacher und Profiteure – sich natürlich an der Diskussion über Krisenmaßnahmen. Man nennt es auch Lobbyismus. Es ist auch klar, was sie nicht wollen: Eine Abkehr von der bisher auf den Status-Quo-Erhalt gerichteten Krisenpolitik, die gerade deswegen ihren Namen – „Krisen“-Politik – nicht verdient hat.
Niemand mag Veränderung, wenn sie den eigenen Status Quo gefährdet. Alle Veränderungen, bei denen dies für die Profiteure und zugleich Säulen des bestehenden, aber instabil gewordenen Systems nicht der Fall war, wurden im Zuge der Krise ergriffen. Jetzt geht es mehr und mehr ans Eingemachte, um mögliche Status-Quo-Verluste für all jene in Politik, Finanzwelt, Wirtschaft und Wirtschaftswissenschaften, die sich zu den Säulen des Systems zählen.
Dies muss man bei den kontrovers geführten Debatten um Krisenmaßnahmen berücksichtigen. Maßnahmen mit weitreichenden Konsequenzen sind nicht um jeden Preis zu verhindern, sondern im Sinne der Gesellschaft notwendig. Wir zahlen für die aktuelle Krisenpolitik einen hohen Preis und dennoch werden die Aussichten für uns alle nicht besser. Dieser Preis steigt mit jedem Tag, um den Maßnahmen mit weitreichenden Konsequenzen für das bestehende System herausgezögert werden.
Wir werden auch einen Preis für weitreichende Veränderungen bezahlen. Die entscheidende Frage ist, ob sich dadurch unsere Perspektiven verbessern. Wen würden Sie dazu befragen wollen, eingedenk des hier zuvor Geschriebenen?
Dass so große Unsicherheit bei der Beantwortung dieser Frage existiert, nutzen die Profiteure des Systems gerne und aktuell sehr gründlich aus, indem sie laut und in teils schrillen Tönen vor den schlimmen Konse-quenzen des Ergreifens oder Unterlassens von bestimmten Maßnahmen warnen.
Niemand sollte sich davon beirren lassen.
Die Frage, auf die es unter den gegebenen Umständen und unter Berücksichtigung des Erklärungsstandes in den Wirtschaftswissenschaften mit Blick auf die Debatte über Krisenmaßnahmen im Kern ankommt, ist folgende:
Dient eine vorgeschlagene Maßnahme der Stabilisierung des bestehenden Systems und seiner – oben angesprochenen – Säulen oder folgt sie der Einsicht in die Notwendigkeit eines weitgehenden Umbaus desselben, im Sinne einer effektiv funktionierenden und prosperierenden Markt- und Finanzwirtschaft?
Denn wer im sechsten Jahr der Krise und der erfolglosen Stabilisierungsmaßnahmen sprich Krisenbewältigung noch immer ernsthaft reklamiert, das bestehende globale Finanzmarkt- und Wirtschaftssystem sei in seiner gegenwärtigen Form und Struktur prinzipiell funktionstüchtig und deswegen auch irgendwie wieder stabili-sierbar, der ignoriert, dass es die Ungleichgewichte, die es an den Rande des Kollapses geführt haben, nicht auflöst, sondern selbst produziert hat. Das ist nicht das, was es nach Auffassung der führenden ökonomischen Lehren überhaupt hätte tun können oder gar sollen. Das war im historischen Rückblick auch nicht immer so. Aber heute ist es so und es ist das zentrale Problem, dem nur mit Veränderung der Form und Struktur der globalen Markt- und Finanzwirtschaft begegnet werden kann. Wie man das erreichen kann, dazu gibt es gewiss unter-schiedliche Möglichkeiten und Wege. Darüber zu diskutieren, ist sinnvoll und zielführend. Über die Möglichkeiten des Erhalts der bestehenden Form und Struktur des Systems zu streiten, ist sinnlos.
Wenn wir nicht die Kraft aufbringen, selbst Veränderungen einzuleiten, wird die weitere Entwicklung aus sich heraus Veränderungen hervorbringen, an denen niemandem gelegen sein kann – auch nicht diejenigen, die bisher auf der Gewinnerseite standen.
Es ist, um es einmal bildlich auszudrücken, in jedem Fall weise das Schwimmen zu lernen, bevor man durch die Umstände dazu gezwungen ist.

3 Kommentare:

  1. Kompliment zu diesem fulminanten Aufsatz, dem inhaltlich nichts hinzuzufügen ist.

    Was mir besonders auffällt ist die zunehmende Panikmache unserer Qualitätsmedien hinsichtlich einer immer deutlicher vernehmbaren Forderung der Menschen, aus dem Euro auszutreten.

    Ein diesbezügliches Traktak aus der Welt am Sonntag mit dem reisserischen Titel "Die gigantischen Verluste bei der Rückkehr zur D-Mark" habe ich in meinem Aufsatz
    "Semantische Abenteuer - WELTen" gebührend bewertet:
    http://www.fortunanetz.de

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    1. Hallo oeconomicus,

      danke für den Hinweis. Das schaue ich mir mal an.

      Grüße
      SLE

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  2. Schade ... mein Vorkommentator hat bereits den einzig möglichen Kommentar schon abgegeben ;-)

    Selten so einen guten Text zum Versagen aller - Politniki und WiWi - gelesen. Danke!

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