Freitag, 5. Oktober 2012

Spanien macht „bedeutende Fortschritte“ oder: Mario Draghi und das „Pippilotta-Prinzip“


„2 x 3 macht 4
Widdewiddewitt und Drei macht Neune !!
Ich mach' mir die Welt
Widdewidde wie sie mir gefällt ....“
Wer kennt sie nicht, diese Textzeile aus dem Lied von Pippi Langstrumpf, der Kinderroman-Figur Astrid Lindgrens?
Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank hat gestern bewiesen, dass er das Lied nicht nur kennt, sondern es auch in der Praxis anzuwenden weiß. Anders ist es nicht zu erklären, dass er nach der EZB-Ratssitzung in Ljubljana gegenüber der Presse und den Medien Spaniens Reformkurs lobte und der Regierung Mariano Rajoys bescheinigte, es seien „bedeutende Fortschritte gemacht“ worden. (1)
Fortschritte!?
Gerade erst hat der spanische Notenbankpräsident Luis Maria Linde im spanischen Parlament gewarnt, die Wirtschaft werde 2013 voraussichtlich um 1,5 Prozent schrumpfen (2) und nicht, wie von der Regierung im Juli prognostiziert (3), um nur 0,5 Prozent. Noch im April war die Regierung für 2013 übrigens sogar von einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,2 Prozent ausgegangen (4), so sehr war sie von ihrem krisenpolitischen Kurs überzeugt.
Im September war zudem die Arbeitslosigkeit in Spanien weiter gestiegen. Rund 4,7 Millionen Menschen in Spanien sind inzwischen arbeitslos gemeldet (5) – trotz umfassender Arbeitsmarktreformen (6). Das entspricht einer Arbeitslosenquote von über 25 Prozent. Es ist die höchste Quote des Landes seit drei Jahrzehnten und zugleich die höchste in der gesamten Europäischen Union. (7) Die Jugendarbeitslosigkeit (unter 25 Jahren) liegt sogar bei über 50 Prozent.
Aufgrund der bedeutend schlechteren Notenbankprognose für die Entwicklung der Wirtschaft rechnet Linde damit, dass die Steuereinnahmen geringer ausfallen und die Staatsverschuldung stärker steigen könnte als von der Regierung erwartet. (8)
Dabei lag das Defizit der Zentralregierung nach den ersten acht Monaten dieses Jahres bereits bei 50,1 Milliarden Euro bzw. 4,77 Prozent des BIP. Das sind satte 23,8 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum und schon jetzt deutlich mehr als die für das gesamte Jahr 2012 mit der Europäischen Kommission vereinbarten 4,5 Prozent des BIP. (9)
Und dies alles ist vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass die spanische Regierung jetzt bereits das fünfte Paket mit austeritätspolitischen Maßnahmen innerhalb von nur zehn Monaten beschlossen hat (10) und es deswegen immer wieder zu Massenprotesten und zum Teil auch gewaltsamen Ausschreitungen kommt.
Dieses Bild ist kein Einzelfall.
In Griechenland und Portugal geschieht dasselbe und nicht nur dort, sondern überall in der Europäischen Union, wo die Schuldenkrise mit Austeritätspolitik zu bekämpfen versucht wird.
Spanien wird dies nicht mehr lange ohne Finanzhilfen durchstehen können. Jeder weiß das.
Das würde jedoch bedeuten, dass der Sparkurs noch weiter verschärft wird. Denn sobald das Land Hilfen aus dem Europäischen Rettungsfonds (ESM) in Anspruch nimmt, müsste es sich den Sparauflagen der sogenannten Troika (Internationaler Währungsfonds, Europäische Kommission und EZB) unterwerfen. Spanien hat das aus Furcht vor weitreichenden Eingriffen in seine Hoheitsrechte abgelehnt. Dies ist allerdings ebenso die Voraus-setzung dafür, dass die EZB Staatsanleihen des Landes am Sekundärmarkt, das heißt von den Gläubigern, aufkauft, um so die Zinsen zu drücken, die Spanien bieten muss, um seine Anleihen am Markt platzieren zu können.
Spanien hat sich folglich in eine klassische Zwickmühle manövriert, aus der es praktisch kaum mehr einen Ausweg gibt.
Dass die EZB ihre höchst umstrittene Unterstützung von Schuldenstaaten, die unter der hohen Zinslast zusam-menzubrechen drohen, vom Einverständnis zur Unterwerfung unter das Sparkonzept der Troika abhängig macht, ist eine „friss Vogel oder stirb“-Politik und, was noch wichtiger ist, es ist keine Geldpolitik mehr, liegt insofern also jenseits ihres eigentlichen Auftrags. Die EZB ist damit – aus der Not respektive der Entscheidungsunfähigkeit der Euro-Gruppe heraus geboren – faktisch zu einer echten politischen Institution geworden, die über den Regie-rungen der Nationalstaaten steht und ihnen politische Vorgaben macht.
Mario Draghi hat gestern die Sorgen Spaniens vor der „Zusammenarbeit“ mit der Troika zu zerstreuen versucht. Er tat es auf eine Weise, die nichts mehr gemein hat mit der freundlichen Fantasiewelt der Pippi-Langstrumpf, sondern surreal wirkt und einen düsteren Schatten auf die Zukunft ganz Europas wirft:
"Die Bedingungen müssen nicht zwingend eine Strafe darstellen." Viele Auflagen hätten mit Strukturreformen zu tun, die letztlich soziale Vorteile brächten. (11)
Soziale Vorteile!?
Die Austeritätspolitik von Heinrich Brüning führte nicht nur die Wirtschaft Deutschlands in eine Abwärtsspirale und zerstörte den sozialen Frieden. Sie beschleunigte auch den Niedergang der parlamentarischen Demokratie. Die bisherige Entwicklung in den Krisenstaaten Europas war insofern vorhersehbar, die weitere ist absehbar. Bisher ist kein maßgeblicher Entscheider bereit, dies einzugestehen und wenigstens ernsthaft über einen Kurswechsel zu diskutieren. Im Gegenteil hat die Politik diesseits und jenseits des Atlantiks immer wieder Verantwortung für in ihrem Zuständigkeitsbereich liegende aktive Krisenpolitik den Notenbanken zugeschoben, die sich damit mittlerweile arrangiert zu haben scheinen – siehe EZB, einschließlich Troika.
Wird Europa also faktisch nicht schon von einer Technokraten-Regierung gelenkt?
Das kann man so noch nicht eindeutig bejahen, aber es gibt diese Tendenz. Das Selbstbewusstsein, mit dem der EZB-Präsident den von der Troika und damit auch von der EZB ausgehenden Druck auf Regierungen in den immer zahlreicher werdenden europäischen Schuldenstaaten, Austeritätspolitik zu betreiben, in beschönigende, aber realitätsferne Worte kleidete, ist folglich absolut nachvollziehbar.
Wir sollten uns jedoch darüber im Klaren sein, dass der austeritätspolitische Kurs gefährlich ist, weil er die europäische Realität in einer Weise verändern wird, die – wie die Massenproteste in Schuldenstaaten und die Tendenz, die Krisenpolitik Technokraten zu überlassen, erahnen lassen – gesamtgesellschaftlich und auch gesamtwirtschaftlich nicht wünschenswert sein kann.
Dies hinzunehmen oder gar zu befürworten, weil man (noch) nicht negativ betroffen ist, wäre ein unverzeihlicher Fehler und ebenfalls eine Wiederholung der Geschichte. Wir leben keinen Kinderroman.

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