Eins ist sicher: Niemand will bei den
Verhandlungen in Brüssel über den Finanzrahmen der Europäischen Union für den
Zeitraum 2014-2020 sein Gesicht verlieren. Die Staats- und Regierungschefs und
die Vertreter der europäischen Institutionen haben reichlich Routine darin,
Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden und sie der
Öffentlichkeit in den Mitgliedsstaaten anschließend prahlerisch als hart
erkämpfte Erfolge zu verkaufen.
Aber dieses Mal ist es anders.
Denn erstmals in der Geschichte der Europäischen
Union, die 1993 mit dem Vertrag von Maastricht begann, geht es nicht mehr
darum, großzügig einen ständig größer werden Kuchen zu verteilen. Zwar wird
auch dieses Mal verteilt. Doch nun handelt es sich um eine Verteilung der Lasten,
die sich als Folge der gemeinsam beschlossenen Rettungsmaßnahmen für Banken und
Mitgliedsstaaten sowie schlechter Haushaltsführung und Wirtschaftspolitik in
den Mitgliedsstatten ergeben und nicht nur in hoch aufgetürmter
Staatsverschuldung ihren Ausdruck gefunden haben: die Wirtschaftsaussichten haben
sich insgesamt verschlechtert und die Arbeits-losigkeit in Europa ist auf immer neue
Rekordhochs gestiegen, gleichzeitig ist die Schuldenkrise aber noch immer nicht
überwunden.
Für mehr oder weniger alle Staats- und Regierungschefs
ist die Luft dünner geworden, die Nerven liegen blank und der Spielraum für
Zugeständnisse bei Verhandlungen auf europäischer Ebene tendiert gegen Null. Genau
das ist es, was dieses Mal den EU-Haushaltsgipfel für sie alle zu einer „Reise
nach Jerusalem“ werden lässt. Denn der Vorrat an Kompromissformeln, die es wirklich
allen ermöglichen, sich zuhause einigermaßen glaubwürdig als Sieger der Verhandlungen
zu produzieren, ist nun endgültig erschöpft.
Es ist vorstellbar, dass – ganz am Ende – mithilfe
von Taschenspielertricks ein Finanzrahmen beschlossen wird, die sich oberflächlich
betrachtet gut anhört, aber de facto bei den Finanzmitteln auf europäischer
Ebene – aus Sicht derjenigen, die Kürzungen fordern - bestenfalls den Status
Quo erhält. Dass aber eine echte Kürzung der Mittel beschlossen wird, erscheint
nahezu ausgeschlossen. Tatsächlich ist es jedoch durchaus denkbar, dass Brüssel
am Ende sogar über mehr Finanzmittel verfügen kann, als in der vorangegangen siebenjährigen
Finanz-periode.
Ironischer Weise wäre dies sogar gerade
dann der Fall, wenn die Verhandlungen scheitern. Denn dann gelten die
Höchstgrenzen des Jahresetats von 2013 zuzüglich eines Inflationsausgleichs
vorerst weiter. Der aber weist sogenannte Verpflichtungsermächtigungen – eine Arte
theoretische Obergrenze, so genannt, weil die EU kaum über Eigenmittel verfügen
kann und der größte Teil des Haushalts aus den zu leistenden Zahlungen der
Mitglieds-staaten besteht – in Höhe von 152,5 Milliarden Euro aus, was 1,15 Prozent
des zusammengerechneten Brutto-inlandsprodukts aller Mitgliedsstaaten der
Europäischen Union entspricht. (2) Das wäre jedoch umgerechnet mehr als Herman
van Rompuy, der Präsident des Europäischen Rats, Ende November vergangenen
Jahres in seinem gescheiterten Kompromiss vorgeschlagen hatte (rund 972
Milliarden Euro (3) bzw. 80 Milliarden weniger als im Entwurf der Europäischen
Kommission veranschlagt (4)) und noch mehr als die jetzt anvisierten 960
Milliarden Euro. (5) Zum Vergleich: Der Finanzrahmen für 2007-2013 weist
Verpflichtungsermächtigungen von 975,8 Milliarden Euro aus. (6)
Sollte heute wieder ein Kompromiss beschlossen
und als Erfolg verkauft werden, bei dem es nicht, wie bei dem bekannten
Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“, am Ende unter den Staats- und Regierungschefs
offensichtlich auch Verlierer gibt, dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas an
der Sache faul sein. Das werden viele in den Parteien und in der Gesellschaft in
den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten möglicherweise zwar nicht (sogleich) wirklich
erkennen können. Aber ganz gewiss werden sie das argwöhnen und darauf lauern,
dass die Wahrheit herauskommt.
Wie auch immer das Ergebnis der Verhandlungen
über den Finanzrahmen ausgeht, eine Entlastung vom politischen Druck zuhause wird
sich daraus für die unter Druck stehenden Staats- und Regierungschefs nicht
ergeben. Die Zeiten, in denen es auf europäischer Ebene noch eine Basis gab, um
politische Kompromisse als nationale politische Erfolge verkaufen zu können,
sind bis auf weiteres definitiv vorbei.
Hier, am Ende einer langen Reise des
Taktierens und des Verschiebens von notwendigen Entscheidungen, rächt sich nun die
Unwilligkeit und mithin auch Unfähigkeit der Staats- und Regierungschefs, der
Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments, geeignete
Lösungskonzepte für die wirksame Bewältigung der Euro-Krise zu entwickeln und
zu beschließen, die auch die europäische Wirtschaft wieder in Schwung bringen.
Es wurde sehr viel Geld bereitgestellt, aber für Maßnahmen, deren Wirkung allzu
oft rasch verpuffte und die Austeritätspolitik hat bisher nirgendwo die
gewünschte Konsolidierung der Staatshaushalte gebracht, ohne die Wirtschaft gravierend
zu schwächen und die Arbeitslosigkeit massiv ansteigen zu lassen.
Neuer Kompromiss in der Nacht
In der Nacht nun wurde ein neuer Kompromiss
ausgehandelt, der 960 Milliarden Euro an Verpflichtungsermächti-gungen, aber nur
908 Milliarden für Zahlungsermächtigungen – das sind die effektiv bewilligten
Ausgaben, denn Schulden machen darf die EU-Kommission vertraglich bedingt nicht
– vorsieht. Würde er beschlossen, wäre es der erste EU-Finanzrahmen, der weniger
Finanzmittel bereitstellt als der vorangegangene.
Am Vormittag des heutigen Tages war er
aber noch keineswegs in trockenen Tüchern. Im Gegenteil hat der Präsident des
Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), ihn bereits scharf als Täuschungsmanöver
kritisiert und das Veto des Europäischen Parlaments angekündigt, dessen
Zustimmung (erstmals) erforderlich ist. (7)
Die Staats- und Regierungschefs müssen den
als Kompromiss ausgehandelten Finanzrahmen einstimmig beschließen. Am Veto des
Europäischen Parlaments könnte der Kompromiss trotzdem noch scheitern.
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