In gut drei Wochen sind die Bundesbürger
zur Wahl des neuen Bundestages aufgerufen. Aber dieses Mal hat das Votum der
deutschen Wähler eine weit über Deutschland hinaus gehende Bedeutung. Nichts
und niemand scheint die Wähler im Wahlkampf daran erinnern zu wollen, dass es von
ihrem Votum abhängt, welche Richtung die europäische Krisenpolitik und damit
letztlich Europa künftig einschlagen wird.
Die
Bundesregierung: Zünglein an der Waage von Europas künftigem Krisenkurs
Das ist – im fünften Jahr der durch die Lehman-Pleite im September 2008 ausgelösten
Finanzmarktkrise und im vierten Jahr der europäischen Staatsschuldenkrise, die Anfang 2010 in Griechenland
begann – keine Übertreibung. Lassen Sie mich Ihnen zwei einfache Fragen
stellen, die ich Sie für sich im Stillen ehrlich zu beantworten bitte, um das
zu verdeutlichen:
- Glauben Sie, dass Politik und Notenbanken alles Notwendige getan haben und nötigenfalls zu tun in der Lage sind, um zu verhindern, dass es aus ähnlichen Gründen wie 2008 erneut zu einer schweren, weltweiten Finanzmarktkrise kommt?
- Glauben Sie, dass die politischen Entscheidungsträger, Europäische Kommission und EZB alles Notwendige getan haben und tun können, um eine weitere Eskalation der europäischen Banken-, Schulden- und Wirtschaftswachstumskrise auszuschließen?
- die schwarz-gelbe Bundesregierung der Stabilitätsanker dieses Kurses ist und
- es zudem keine überzeugende alternative krisenpolitische Konzeption gibt.
Genau das ist der Grund, warum die
etablierten Parteien die Wähler nicht an die Bedeutung der Bundestagswahl für ganz
Europa erinnern wollen. Denn dann würde über die hohen Kosten und die
übernommenen hohen finanziellen Risiken vor dem Hintergrund diskutiert werden
müssen, wie wenig damit letztlich erreicht wurde und vor allem, wie viel mehr
es noch kosten wird, wenn man immer so weiter macht. Und Oppositionspolitiker
im Bundestag müssten sich die unbequeme Frage gefallen lassen, warum sie diese
Politik mitgetragen und warum sie diesem Kurs nichts Überzeugendes entgegen zu
setzen wussten sprich keine überzeugende Alternative aufgezeigt und propagiert haben.
Denn darum geht es doch in der Opposition.
Krisenpolitische Zwischenbilanz: Eigentlich ein Kündigungsgrund
Sicher, nicht jeder Wähler hat im Blick,
wie sich die ökonomischen Daten in den Volkswirtschaften der europä-ischen
Mitgliedsstaaten und insbesondere in Krisenstaaten wie z. B. Griechenland,
Irland, Portugal, Spanien, Ungarn, Bulgarien oder Slowenien entwickelt haben,
die alle auf Druck der EU bzw. der Regierungen der europäischen Gläubigerländer
auf einen durch Kürzungen, Einsparungen und Steuererhöhungen gekenn-zeichneten
„Sparkurs“ einschwenkten. Aber vielen wird irgendwo im Gedächtnis haften
geblieben sein, dass
- die Arbeitslosigkeit in diesen Ländern fortlaufend gestiegen und erschütternde Ausmaße angenommen hat, mit Arbeitslosenquoten weit jenseits der 20-Prozent-Marke,
- die Wirtschaft dieser Krisenstaaten sich keineswegs erholt hat, sondern ein Krisenland nach dem anderen in die Rezession gerutscht ist oder zu rutschen droht und, schlimmer noch, unverkennbar eine Tendenz zur Vertiefung der Wirtschaftskrise vorliegt,
- sich Leistungsbilanzdefizite mithin zwar reduziert werden konnten, dies aber nicht an der angestrebten Ausweitung der Exporte lag, sondern an dem infolge des durch den drastischen Sparkurs ausgelösten Nachfrageeinbruch bedingten starken Rückgangs der Importe – was nicht zuletzt unsere Exporteure in Deutschland schmerzlich zu spüren bekommen,
- immer wieder die Defizitziele für die Staatshaushalte verfehlt werden, weil sich Wirtschaft und Staats-einnahmen schlechter entwickeln als von den Sanierern prognostiziert, worauf regelmäßig mit einer Verschärfung des Sparkurses geantwortet wurde,
- seit Beginn der Staatsschuldenkrise immer wieder neue, unerwartete Finanzlücken in den Haushalten von Krisenstaaten auftauchen und über neue Finanzhilfen verhandelt werden muss – wie jetzt auch wieder im Falle von Griechenland.
Staatsschuldenkrise oder Bankenkrise?
Zudem ist es lediglich eine Frage des
Blickwinkels, ob man in Europa von einer Staatsschuldenkrise oder von einer Bankenkrise
redet oder anders ausgedrückt, ob die Euro-Retter seit 2010 fortlaufend Staaten
oder lediglich auf anderem Wege weiterhin Banken zu retten versuchen, noch dazu
weil sie es – von Ausrutschern abgesehen – ohnehin immer unter der Prämisse
taten, die Finanzmärkte zu beruhigen respektive keine Finanzmarktturbu-lenzen zu
riskieren. Schließlich fließen die Finanzhilfen zur Stabilisierung der
Krisenstaaten größtenteils praktisch direkt weiter an die Gläubiger dieser
Staaten und die EZB stützt und stabilisiert die europäischen Banken mit
billigen Krediten und kauft ihnen die Staatsanleihen ab, die niemand mehr haben
will.
Was „die Märkte“ wollen und was Parteien,
die sich die „freie Marktwirtschaft“ bzw. „freie Märkte“ auf die Fahnen
geschrieben haben, umsetzen und als „alternativlos“ bezeichnen – in Deutschland
sind dies die CDU/CSU und die FDP –, ist eine wirtschaftsliberale Politik. Der
krisenpolitische Kurs Europas, der sich aus dieser Überein-stimmung ergab, ist folglich
der, der die Profite sowie den Aktionsspielraum der Wirtschaft, vor allem aber
der Finanzmarktakteure und Banken so weit wie möglich unangetastet lässt. Denn
„Freiheit der Märkte“ bedeutet in der wirtschaftsliberalen Politikkonzeption
nichts anderes, als die Märkte so weit wie möglich von Einschrän-kungen und
Belastungen durch den Staat zu befreien, wobei das paradigmatisch mit freiem,
effektivem und deswegen wohlfahrtssteigerndem Wettbewerb gleichgesetzt wird.
Wirtschaftsliberale Politik: Krisenursache und Allheilmittel?
Die Frage, ob dieses Paradigma richtig ist
und die wirtschaftsliberale Politik in der Praxis immer genau das bewirken kann,
wird erneut gar nicht gestellt.
„Erneut“ muss es deswegen heißen, weil die wirtschaftsliberale Politik –
Deregulierung, Privatisierung, Reduzierung des Sozialstaats sowie des
Staatsanteils an der Volkswirt-schaft – auch den Boden für die
Finanzmarktexzesse und die Hypotheken- und Finanzmarktkrise in den USA bereitete,
die sich dann weltweit ausbreitete.
Seit Beginn der Griechenlandkrise Anfang
20110 nun soll die wirtschaftsliberale Politikkonzeption Griechenland und
sukzessive auch immer mehr andere europäische Staaten mit Finanzproblemen aus
der Krise führen können, wobei aber die Banken – innerhalb und außerhalb der
Krisenländer – immer ein wesentlicher Teil des Problems gewesen sind. Was uns
Kopfschmerzen bereiten muss, sind nicht so sehr die Staatsschulden von Ländern
wie Griechenland oder Portugal, sondern die Risiken, die von den aufgeblähten
und stark gehebelten Bilanzen von Großbanken und den von ihnen im großen Umfang
getätigten Geschäften abseits des klassischen Bankge-schäfts, insbesondere im
Derivatebereich, immer noch oder erneut ausgehen. Die Transparenz über die dort
schlummernden Risiken ist nach wie vor sehr begrenzt.
Insofern ist es für Regierungen mit einer
Präferenz für die wirtschaftsliberale Perspektive angenehmer, die
Staatsschulden in den Vordergrund der Krisenbekämpfung zu stellen, weil dann
nicht auffällt, dass:
- die Finanzmarktkrise und die Exzesse der großen Banken nicht effektiv bekämpft worden sind,
- die Finanzmärkte und großen Banken nicht nur weiterhin gestützt, sondern sogar gefördert werden,
- die liberale Logik der „freien Märkte“ eine Krisenpolitik erfordert, die einseitig die Bevölkerung von verschuldeten Staaten massiv belastet, um Wirtschaft, Banken und Finanzmärkte zu stabilisieren und mehr Freiräume zu verschaffen – insbesondere durch Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, Reform der Arbeitsmärkte, Einschnitte in die Sozialsysteme, Personalabbau sowie Kürzungen bei Löhnen und Pensionen im öffentlichen Sektor und selektive, nicht auf die Wirtschaft gerichtete Steuererhöhungen (Mehrwert-, Verbrauch-, Immobiliensteuer).
Das Problem all jener, die für diesen
krisenpolitischen Kurs in Europa eintreten, ist, dass er – wie oben skizziert –
nicht aufgeht und es immer schwerer wird, dies zu bestreiten. Woran das
ursächlich liegt und vor allem wie man die Probleme besser lösen kann, darüber
wird allerdings gestritten.
Wunsch nach Veränderung: Wahlalternativen und neue Koalitionen?
Die Bedeutung der Bundestagswahl für den
krisenpolitischen Kurs Europas und für die Zukunft Europas leitet sich schlicht
aus der Tatsache ab, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung als
Stabilitätsanker dieser Krisenpolitik wegfallen und es eine Regierungskoalition
geben könnte, die einen Kurswechsel durchzusetzen hilft.
Zwei Aspekte machen die Bundestagswahl für
jene, die mit dem Kurs nicht zufrieden sind, schwierig:
Erstens
gibt es mit der Alternative für Deutschland (AfD) zwar eine im Gegensatz zu
Union und FDP Euro-kri-tische Alternative. Aber sie setzt ebenfalls auf der
wirtschaftsliberalen Logik auf. Letzteres gilt im Kern auch für die „Freien
Wähler“. Als Koalitionspartner wären beide klein und ihr Einfluss auf das
Regierungsprogramm deswegen nur begrenzt. Es fragt sich, inwieweit sich durch die
Beteiligung der Euro-kritischen AfD die krisen-politische Position einer
gegebenenfalls weiterhin von der Union geführten Bundesregierung wirklich
ändern würde. Der krisenpolitischen Kurs Europas würde sich wahrscheinlich
nicht wesentlich verändern und damit bliebe Deutschland dessen
Stabilitätsanker.
Zweitens
fehlt in jeder denkbaren Regierungskonstellation, die eine Korrektur oder Abkehr
vom gegenwärtigen liberalen krisenpolitischen Kurs Europas präferieren könnte,
eine überzeugende alternative Konzeption. SPD und Grüne haben den
krisenpolitischen Kurs der schwarz-gelben Bundesregierung für Europa zudem bisher
mitge-tragen, was am Willen oder am Vorhandensein einer solchen Alternative
zweifeln lässt. Nur die Linkspartei hat ihn konsequent abgelehnt. Zudem dürfte
es für die Wähler angesichts der engen Zusammenarbeit in der Finanzkrise 2008/2009
sehr schwer sein für Peer Steinbrück (SPD), die krisenpolitischen Unterschiede
zwischen ihm und Angela Merkel (CDU) aufzuzeigen und den Wählern glaubhaft zu
vermitteln. Ob die Piraten es nach den partei-internen Streitigkeiten in den
Bundestag schaffen werden, ist ungewiss. Ob sie sich als Koalitionspartner überhaupt
einbinden ließen, ist ebenfalls fraglich.
Gegenwärtig sind sechs Parteien im
Bundestag vertreten: CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass wenigstens eine weitere, erstmals bundesweit zur Wahl
antretende Partei es in den neuen Bundestag schafft.
Bisher ist es einer neuen Partei immer
dann gelungen, dauerhaft in den
Bundestag einzuziehen, wenn sie sich eines für die Wähler wichtigen Themas
angenommen hatte, das die im Bundestag etablierten Parteien nicht abdeckten.
Den Grünen gelang es 1983 mit den Themen Anti-Atomkraft und Umweltschutz, der
Partei „Die Linke“ – anfangs noch als Bündnis PDS/WASG – gelang es mit den
Themen Arbeit und soziale Gerechtigkeit als Reaktion auf die Agenda-Politik und
die Hartz-Reformen der SPD.
Die europäische Schuldenkrise, die zum
Teil eben auch als Euro-Krise interpretiert wird und die daraus erwachsenden finanziellen
Bedrohungen, sind gegenwärtig unzweifelhaft das Thema, das viele Deutsche anhaltend
bewegt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht unwahrscheinlich, dass die AfD, die
sich dieses Themas angenommen hat und dadurch bekannt geworden ist, der Einzug
in den Bundestag auf Anhieb gelingt – allen Wahlprognosen der Meinungsforscher
zum Trotz, die damit bekanntlich schon mal häufiger falsch lagen.
Sofern die FDP die fünf-Prozent-Hürde
nimmt und zumindest einer weiteren Partei am 22. September der Einzug in den
Bundestag gelingt, dann wäre nicht auszuschließen, dass jenseits einer Großen
Koalition eine Regierungsmehrheit nur durch die Zusammenarbeit von drei
Parteien zustande kommt. Beide führenden Parteien, Union und SPD, müssten sich in
diesem Fall mit zwei Parteien arrangieren, wenn sie regieren wollen.
Dominiert das konservative Votum über die Unzufriedenheit der Bundesbürger?
Vielleicht darf man die Unzufriedenheit
der Bundesbürger mit den Regierungskoalitionen der letzten drei
Legis-laturperioden nicht unterschätzen. Rot-Grün, Große Koalition und
Schwarz-Gelb haben das Vertrauen der Bürger in die Zusagen und Versprechungen
der Parteien und in deren Bundespolitik nacheinander ramponiert. Es fällt nicht
schwer, sich daran zu erinnern, weil die Gesichter ja im Wesentlichen doch
immer dieselben geblieben sind.
Gerade deswegen dürfte es diesen Parteien
jetzt auch sehr schwer fallen, Wähler zu überzeugen und hinzuzu-gewinnen. Das
gilt umso mehr, als die von der Bundesregierung vorangetriebene europäische
Krisenpolitik in den letzten Jahren de facto von allen vier (bzw. fünf) Parteien
– CDU/CSU, FDP, SPD, Grüne – mitgetragen worden ist. Dass diese mit hohen und
weiter steigenden finanziellen Risiken behaftete, weil wenig erfolgreiche
Krisenpolitik von Kanzlerin Angela Merkel als „alternativlos“ verkauft wurde, dafür
tragen SPD und Grüne deswegen auch eine Mitverantwortung. Das muss man wohl so
sehen.
Wer die Alternativlosigkeit abwählen will,
der hat es aus den zuvor dargelegten Gründen folglich sehr schwer. Eine
wirkliche Alternative zum liberalen krisenpolitischen Kurs in Europa ist im
Wahlkampf in Deutschland bisher nicht sichtbar geworden. Die Opposition hat dieses
Thema bisher im Wahlkampf weitestgehend ausgespart und statt-dessen versucht,
die in Presse und Medien aufkommenden Skandale und Negativschlagzeilen für Regierungs-parteien
für sich zu nutzen, was aber, gemessen an den Meinungsumfragen, bisher keinen
großen Erfolg hatte.
Was den Wählern folglich bleibt, die eine
andere Krisenpolitik wünschen, ist, auf neue Regierungskoalitionen zu setzen,
die zumindest die Chance für die
ernsthafte Suche und das konstruktives Streben nach einer alternativen,
besseren Krisenpolitik eröffnen und dafür sorgen könnten, dass Deutschland nicht mehr der Stabilitätsanker für die
bisher verfolgte europäische Krisenpolitik ist.
Allerdings ist fraglich, ob es wirklich
sehr viele gibt, die das nicht nur wollen, sondern auch bereit sind, sich auf eine
solche krisenpolitische Wundertüte einzulassen.
Außerdem scheinen die Wähler gerade in
Krisenzeiten verstärkt liberal-konservativen Parteien den Vorzug zu geben – das
war beispielswiese zuletzt so in Portugal (Juni 2011), in Spanien (November
2011) sowie in Griechenland (Juni 2012) und auch im krisengeschüttelten Japan (Dezember
2012). Eine Ausnahme stellte bisher lediglich Italien dar. Doch bis jetzt steckt
Deutschland noch gar nicht in der Krise.
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