Donnerstag, 22. Mai 2014

Europawahl-Crash: Wenn eine Wahl, die eigentlich keine sein sollte, ein Misstrauensvotum wird



Alternativlos – das ist das Wort, das im Verlaufe der Euro-Krise von Regierungspolitikern und hohen Vertretern der europäischen Ebene am häufigsten verwendet wurde, um den Menschen in Europa eine Krisenpolitik zu verkaufen, die von Beginn an aus durchaus sehr verschiedenen Gründen höchst umstritten war.

Umstrittene Krisenpolitik, umstrittener Kurs des Tankers „Europa“

Die einen schrecken die mit der Rettungspolitik eingegangenen hohen finanziellen Risiken, die anderen die Folgen der zwecks Sanierung der Staatsfinanzen umgesetzten Maßnahmen für Wirtschaft und Gesellschaft der betroffenen Staaten. Beide Gruppen hegen übereinstimmend starke Zweifel an den Erfolgsaussichten dieser Politik, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen.
So geben viele dem Euro (bzw. der Währungsunion) die Schuld, weil er angesichts der wirtschaftlichen Ungleich-gewichte innerhalb der Euro-Zone eine finanzielle und wirtschaftliche Gesundung der Krisenstaaten unmöglich macht. Denn dadurch bedingt ist für die wirtschaftlich schwachen Krisenstaaten der Weg, die Probleme über eine Währungsabwertung zu beheben, versperrt.
Die Befürworter der angewendeten europäischen Krisenpolitik in den Regierungszentralen der Mitgliedstaaten sowie in Brüssel und Straßburg reklamieren, die entsprechenden Schuldenstaaten hätten über ihre Verhältnisse gelebt und müssten jetzt sparen. Weil ein Ausstieg der Krisenländer aus dem Euro aus ihrer Sicht nicht in Frage kommt, bleibt nur dieser Weg, der Weg der internen Abwertung sprich der Austeritätspolitik.
Andere wiederum vertreten die Auffassung, dass dies nur ein vorgeschobener Grund ist und es in Wahrheit eigentlich, wie schon in der Finanzkrise, doch nur wieder um die Rettung von Banken und Gläubigern geht, die sich verzockt haben. Mit der Austeritätspolitik würden nun die Bürger in den Krisenländern dafür zur Ader gelassen, während die mit der Rettung verbundenen finanziellen Risiken einmal mehr bei den Steuerzahlern in all jenen Staaten landeten, welche die für diese Rettungspolitik notwendigen Finanzhilfen zur Verfügung stellen.
Wieder andere kritisieren sowohl die Befürworter der Austeritätspolitik als auch die eines Euro-Ausstiegs. Sie sehen einen dritten Lösungsweg, um die Leistungsbilanzen in Ordnung zu bringen und die Wirtschaft in den Krisenstaaten wieder tragfähig zu machen. Der besteht darin, in den Krisenstaaten eine Währungsabwertung quasi zu simulieren. Zu erreichen ist dies dadurch, dass diesen Ländern erlaubt wird Importzölle zu erheben, die für die schwache heimische Wirtschaft eine Schutzfunktion erfüllen, so dass diese erholen und wettbewerbsfähig werden kann. Auf diese Weise könnten die Länder in der Währungsunion bleiben, ohne auf Austeritätspolitik setzen zu müssen. Allerdings würde dies den in der EU vereinbarten Freihandel einschränken, zumindest temporär.

Europäische Krisenpolitik: Bescheiden Bilanz, aber massive Nebenwirkungen

Nach vier Jahren ist die Bilanz der europäischen Krisenpolitik alles andere als überzeugend. Der Euro wurde stabilisiert. Ja, das ist der EZB gelungen. Aber die Wirkungen und vor allem die Nebenwirkungen des Versuchs, die Staatsfinanzen im Wege austeritätspolitischer Maßnahmen in Ordnung zu bringen, sind besorgniserregend. Die Staatsverschuldung in den Krisenstaaten ist nicht gesunken. Gleichzeitig haben sich dort aber im Zuge der Sanierungspolitik die wirtschaftliche Situation und die Arbeitsmarktlage gravierend verschlechtert, die Investitionen sind eingebrochen. Massenweise Insolvenzen von Firmen und privaten Haushalten sind der Preis dieser Politik der Kürzungen, Einschnitte und Steuererhöhungen, Armut und soziales Elend (1) haben in vielen Krisenstaaten ein erschreckendes Ausmaß erreicht. Es gibt dort gerade auch aus diesem Grund erhebliche soziale Spannungen, Ausländerfeindlichkeit und Radikalisierung haben stark zugenommen. Das gilt in der Tendenz für viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Kurzum: Die europäische Krisenpolitik zur Bewältigung der Schuldenkrise hat die Gesellschaft in betroffenen Mitgliedstaaten mithin tief gespalten und die politische Stabilität ausgehöhlt.

Europawahl 2014: Etablierte Parteien vereint gegen Protestparteien

Geändert hat sich am krisenpolitischen Kurs in Europa, der die Handschrift der liberal-konservativen Parteien trägt, dennoch nichts.
Die großen sozialdemokratischen Parteien in den Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament haben diesen Kurs bisher mitgetragen – wenn auch murrend. Sie sehen selbst auch eine Notwendigkeit, die Staatshaushalte durch Einsparungen, Kürzungen und Steuererhöhungen wieder auf eine solidere Basis zu stellen. Allerdings wollen sie erstens, dass dabei die Lasten gerechter verteilt werden. Zweitens halten sie ergänzende Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie zur Stimulierung von Investitionen und Wirtschaftswachstum in den Krisenstaaten für erforderlich.
Wenn man die Europawahl im Wesentlichen als eine Entscheidung zwischen dem liberal-konservativen und dem sozialdemokratischen Parteienblock ansehen will, dann steht folglich die bisherige europäische Krisenpolitik nicht grundsätzlich zur Disposition. Es geht dann lediglich darum, ob es bei einseitiger Austeritätspolitik bleibt oder ob das „Einsparen“ ein wenig verlangsamt und die Krisenpolitik um keynesianische Elemente zur Stimulierung der Wirtschaft angereichert wird.
Es ist insofern auch nicht verwunderlich, dass die Spitzenkandidaten der liberal-konservativen Parteien (EVP) und der Sozialdemokraten für die Europawahl, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, in den TV-Duellen eher wie ein europäisches Tandem wirkten und nicht wie Kontrahenten.
So betrachtet gibt es bei der Europawahl für die Wähler eigentlich gar keine richtige Wahl – zumindest nicht, wenn man sie als eine Wahl zwischen den beiden führenden Parteien ansieht. Sie haben bisher beide den krisen-politischen Kurs Europas getragen und sie werden es auch nach der Wahl tun. Eine grundlegende Kursänderung wird es mit ihnen nicht geben.
Allerdings gibt es da ein Problem. Denn andere Parteien haben im Zuge der Euro-Krise zum Teil erheblich an Zustimmung bei den Wählern gewonnen. Die Gründe dafür sind die oben genannten, das heißt die Unzufrie-denheit mit der europäischen Krisenpolitik und damit, wohin sich die EU aufgrund der von den beiden großen etablierten Parteien vereinbarten Schritte insgesamt politisch entwickelt. Ein ganz wesentlicher Grund sind zudem die angesprochenen Nebenwirkungen der europäischen Krisenpolitik: Massenarbeitslosigkeit, Pleiten, Ausbreitung von Armut und sozialem Elend, gesellschaftliche Spannungen und Wut gerade auf die etablierten politischen Parteien, die all das zu verantworten haben oder schlicht nicht zu verhindern wussten.
In einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten erzielen deswegen neue oder ehedem unbedeutende Parteien und Politiker, die von etablierten Parteien und in den Medien oft pauschal als "Protestparteien" bzw. "Populisten" und „unwählbar“ abqualifiziert werden, Zustimmungswerte von teilweise deutlich über 20 Prozent, beispielsweise

  • in Griechenland: das Linksbündnis SYRIZA: bis zu 25% (2),
  • in Frankreich: der rechte Front National: bis zu 25% (3),
  • in Großbritannien: die europakritische und gegen das politische Establishment gerichtete Unabhängig-keitspartei Ukip von Nigel Farage: bis zu 33% (4) oder auch
  • in Italien: die gegen Korruption und Parteienfilz gerichtete Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo: um 25% (5).

Nur damit kein Missverständnis entsteht: Gemäß Umfragen haben alle vier Parteien Chancen, in ihrem Land als stärkste Kraft aus der Europawahl hervorzugehen.

Schlechte Krisenpolitik ist der Nährboden für die Protestparteien

Insofern ist die aktuelle politische Entwicklung in Griechenland (siehe dazu hier (6)), wo die europäische Schuldenkrise Ende 2009 – also wenige Monate nach der letzten Europawahl – begann, ein durchaus guter Indikator für das, was in der Europäischen Union gegenwärtig geschieht: Vor allem relativ neue Parteien und insbesondere solche am äußeren rechten und linken Rand des politischen Spektrums profitieren von der europäischen Krisenpolitik. Je stärker und länger ein Land von den Folgen der Krise und der Krisenpolitik negativ betroffen ist, desto stärker der Stimmenschwund bei den altehrwürdigen Parteien.
Die bisherige Strategie der etablierten Parteien, auf diese Entwicklung mit Aufrufen zu reagieren, dem Rechts- oder Linkspopulismus bei Wahlen keine Chance zu geben, ist letztlich ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit, aber auch ein Zeichen für ein gewisses Maß an Unverbesserlichkeit und Ignoranz.
Denn der ausschlaggebende Grund für das Erstarken von Parteien am linken und rechten Rand sowie generell von neuen Parteien (wie etwa in Griechenland "To Potamie") ist – ebenso wie in den 30er Jahren in der Weimarer Republik – der ausbleibende Erfolg der (europäischen) Krisenpolitik, wobei für die Menschen das zählt, was sie erleben und wahrnehmen.

Die Krisenpolitik hat die EU in eine Sinnkrise manövriert

Lassen Sie es uns aussprechen: Vier Jahre europäische Schuldenkrise und europäische Krisenpolitik haben die Europäische Union in eine Sinnkrise manövriert. Auch das Debakel der Ukraine-Politik der Europäischen Union zeigt das deutlich.
Wollten Länder einst gerne bei der Europäischen Union dabei sein, weil es wirtschaftlich und finanziell etwas zu gewinnen gab, so hat sich dies im Zuge der Finanzmarkt- und der anschließenden europäischen Schuldenkrise zwar nicht direkt ins Gegenteil verkehrt. Gleichwohl ist aber die Europaskepsis deutlich gestiegen. Sogar in der Union denken nun immer mehr Regierungen darüber nach, wie sie die enge Bindung „an Brüssel“ lockern oder Kompetenzen von dort zurückholen können.
Das ist der Stand der Dinge vor der Europawahl und er spricht nicht für die etablierten Parteien, die Europa dorthin geführt haben.
Die Europawahl könnte vor diesem Hintergrund dazu führen, dass die Dominanz der liberal-konservativen Parteien im Europäischen Parlament gekippt wird, aber die Sozialdemokraten trotzdem nicht die Oberhand gewinnen. Wenn das geschieht, werden sie sich wahrscheinlich auf eine Große Koalition zur Rettung ihres bisherigen europäischen Rettungskurses verständigen, angereichert um keynesianische Elemente, also insbesondere Stimulierungsmaßnahmen und -programme. Der IWF hat sich längst darauf eingestellt und fordert jetzt - mal wieder - genau das.
Nur hat sich eben nichts daran geändert, dass markt- und wirtschaftsstrukturelle Probleme und Verwerfungen, wie sie in der Europäischen Union vorliegen, auf diese Weise nicht behoben werden können. Deswegen ist die Ergreifung solcher Maßnahmen unter den gegebenen Umständen letztlich auch wieder nichts anderes als ein Weg, in veränderter politischer Konstellation europapolitisch so weiter zu wurschteln wie bisher.
Es wären teure Beruhigungspillen oder besser -placebos, mit denen man sich einmal mehr Zeit erkauft, die man aber bisher schon nicht erfolgreich für die Suche nach überzeugenden Lösungen zu nutzen wusste. Stattdessen redet man sich – so wie in den letzten Wochen vor der Europawahl – lieber die Probleme schön.
Ein alternatives, besseres krisenpolitisches Konzept, um Europa nicht nur finanziell, sondern vor allem wirtschaftlich und beschäftigungsmäßig wieder auf einen soliden Kurs zu bringen, wird im Europawahlkampf von den führenden etablierten Parteien jedenfalls nicht vorgestellt. Es ist auch nicht der Eindruck entstanden, dass es ihnen darum geht, etwas grundlegend anders machen zu wollen als bisher. Im Gegenteil, sie möchten sich bei den Wählern im Grunde nur gerne die Bestätigung für ihr bisheriges Wirken und für die Beibehaltung eines im Wesentlichen unveränderten europapolitischen Kurses abholen. Das ist die Erwartungshaltung.

Stimmung in Europa erneut spektakulär falsch eingeschätzt?

Die großen Parteien scheinen sehr zuversichtlich zu sein, dass sie diese Bestätigung bekommen werden. Es wäre jedoch nicht das erste Mal, wenn sie sich täuschten.
Am 29. Oktober 2004 wurde in Rom von den Staats- und Regierungschefs feierlich der Vertrag über eine zuvor vom Europäischen Konvent mühsam ausgearbeitete Verfassung für die Europäische Union ratifiziert. Er trat nie in Kraft, nachdem die Europäische Verfassung bei den Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden überraschend gescheitert war.
Es war eine Verfassung im Sinne der Regierungen der Mitgliedstaten gewesen, aber sie war nicht im Sinne der Bevölkerung. Die Regierungschefs hatten das völlig falsch eingeschätzt und erst realisiert, als es zu spät war.
Ich erinnere mich an die fassungslosen Gesichter von Regierungschefs wie etwa Jean-Claude Juncker, der sich am kommenden Sonntag als Spitzenkandidat der liberal-konservativen EVP zur Wahl stellt, als ihnen plötzlich klar wurde, dass ihr grandioses europapolitisches Vorhaben gescheitert war. Als Konsequenz daraus wurde danach von mehr Bürgernähe Europas und vom „Europa der Bürger“ gesprochen. Was daraus geworden ist, zeigt die europäische Krisenpolitik eindrucksvoll.
Die Europawahl am kommenden Sonntag steht mit Blick auf den europapolitischen Krisenkurs unter sehr ähnlichen Vorzeichen wie seinerzeit die Abstimmung über die Europäische Verfassung. Die großen etablierten Parteien in Straßburg und in Europas Hauptstädten erwarten ein „Ja“ für ihren europapolitischen Kurs und dafür haben sie Stimmung gemacht.
Doch die politisch vermittelte und die wahrgenommene Realität und Entwicklung Europas liegen für ein sicheres „Ja“ zum bisherigen europapolitischen Kurs inzwischen bedenklich weit auseinander. In der Wahrnehmung vieler gibt es einen signifikanten Korrekturbedarf. (7) Das erklärt den großen Zulauf, den Protestparteien in einer Reihe von Ländern haben. In der Politik ist es in dieser Hinsicht nicht anders als an der Börse: Wenn sich ein signifi-kanter Korrekturbedarf aufgebaut hat, dann kommt die Korrektur irgendwann auch – mithin abrupt und heftig. Vielleicht hängt dieses Mal sogar beides zusammen – die Ereignisse bei der Europawahl und die an der Börse.

1 Kommentar:

  1. Ob die Krisenpolitik gut oder schlecht war, hängt wohl ganz davon ab auf welcher Seite der Krisenpolitik man sich befindet. Diese Politik (und die Krise) waren für die Interessensgruppen gut die sie durchsetzten (Goldman Sachs und Co.). Ich betrachte sowohl Krise als auch Krisenpolitik (Shock Doctrine) als eine bisher höchst erfolgreiche Strategie zur Durchsetzung dieser Interessen. Es ist ja nicht das erste mal, dass diese Strategie eingesetzt wurde und sie ist auch kein großes Geheimnis.

    Dass jetzt die berechtigte Frustration der Bürger in der Wahl am Sonntag zum Ausdruck kommen wird spielt den Interessen der Fettaugen abermals in die Hände. Man hatte in der EU über Jahrzehnte über die Köpfe der Bürger hinwegregiert. EU- Kommission und Rat sind Beispielhaft für die Demokratiekrise unserer Zeit.

    Gerade jetzt da das EU Parlament endlich an Einfluss gewonnen hatte, wird dieses einzige ansatzweise, demokratische EU Organ die Quittung für die korrupten Machenschaften des EU Klüngels erhalten. Vielleicht wird man so später gut begründen können warum das EU Parlament weiterhin keinen Einfluss haben soll und man beispielsweise das TTIP Abkommen am Parlament vorbeischleusen muss?

    Demokratie war immer schon ein Hinderniss beim Geld verdienen. Mit der EU-Kommsision hatte man einen Machtapperat über 500 Millionen Menschen in den gierigen Händen der in Ruhe die Politik durchsetzen konnte die einem passte. Wenn es ein Interesse der Fettaugen an einer demokratischen EU gäbe, dann hätten wir sie schon längst.

    Meiner Meinung nach wäre nur ein europweiter Aufstand der Bürger in der Lage die Dinge zu ändern. Ein solidarischer Generalstreik in ganz Europa würde ganz schnell Fakten schaffen. Aber die Menschen lassen sich ja nur zu gerne nationalistisch gegeneinander Aufhetzen. Die nationalistischen Parteien machen dabei die Drecksarbeit der Fettaugen. Noch störender beim Geldverdienen als die Demokratie ist schliesslich die Solidarität.

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