Portugal steigt aus dem Rettungsprogramm
aus. Die Botschaft der portugiesischen Regierung: Es geht wieder aufwärts. Die
harten Einschnitte und Belastungen, die die Portugiesen trotz wiederkehrender
Massenproteste über sich ergehen lassen müssen, haben sich gelohnt. Auch die
griechische Regierung hatte zuletzt Daten zu vermelden, die sie als Zeichen
dafür wertete, dass das harte Sanierungsprogramm nun langsam Früchte trägt und
es wieder aufwärtsgeht – zumindest in nicht mehr allzu ferner Zukunft.
Das sind einige der jüngsten
Erfolgsmeldungen des europäischen Krisenmanagements, so kurz vor der Europawahl
am 25. Mai – wenn man sie denn als solche akzeptieren will, was oft nicht
einfach ist, sobald man einen etwas genaueren Blick auf die Zahlen wirft oder
sich schlicht vergegenwärtigt, wie hoch überall in den Krisenländern die
Arbeitslosigkeit noch immer ist, wie schwach die Wirtschaft und wie desolat trotz
drastischer Sparmaßnahmen die staatlichen Finanzen.
Selbstredend sollen diese Erfolgsmeldungen
von den Wählern bei der Europawahl auch als Erfolge jener Regierungen
wahrgenommen werden, die die Krisenländer auf den harten austeritätspolitischen
Weg geschickt haben.
Das Beispiel Griechenland: Regierung unter Druck
Die jüngsten Umfragen zu den
Zustimmungswerten von Parteien beispielsweise in Griechenland zeigen, dass diese
Art von Erfolgsmeldungen in der Bevölkerung der Europäischen Union aber nur
sehr bedingt akzeptiert wird.
Premier Antonis Samaras kommt mit seiner
konservativen Nea Dimokratia (ND) auf 20-23 Prozent der Stimmen. Sein
Koalitionspartner, die griechischen Sozialdemokraten (PASOK) mit Evangelos
Venizelos an der Spitze, haben mit Splittergruppen ein neues Parteienbündnis
namens „Elia“ („Olivenbaum“) geschmiedet, um – angesichts der dramatisch
gesunkenen Popularität – nicht völlig in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Ob
das klappt, ist nicht sicher. „Elia“ liegt in den Umfragen aktuell nur bei
knapp 5 bis 7 Prozent. (1)
Zur Erinnerung: Bei der letzten
Parlamentswahl im Juni 2012 hatte die PASOK 12,3 Prozent der Stimmen errungen, die
ND 29,7 Prozent. Stünden jetzt Parlamentswahlen an, worauf die oppositionelle
Linkspartei Syriza drängt, würde es für die ND gemeinsam mit der PASOK für eine
Regierungsmehrheit nicht mehr reichen.
Weil es außerdem auch noch eine ganze
Reihe von Parteiausschlüssen oder –austritten bei der ND und der PASOK gegeben
hat, die in der Regel mit dem Widerstand von Abgeordneten gegen zu
verabschiedende Sparmaßnahmen zusammenhingen, ist deswegen die
Regierungsmehrheit im 300 Abgeordnete zählenden griechischen Parlament auf
zuletzt nur noch zwei Stimmen (152 Sitze) zusammengeschmolzen.
Heute findet in Griechenland die erste
Runde der Kommunalwahlen statt, nächste Woche dann überall dort, wo dies nötig
ist, gemeinsam mit der Europawahl die zweite Runde.
Gemessen an den Umfragen könnte es also
schon heute und dann eben vor allem auch bei der Europawahl am 25. Mai einen
Denkzettel für die Regierungskoalition und deren „Sanierungspolitik“ geben. Ob
es so kommt und wenn ja, wie heftig dieser Denkzettel tatsächlich ausfällt, ist
allerdings schwer einzuschätzen. Ob die Umfragen das Stimmungsbild richtig
wiedergeben, ist nicht sicher. Die zweistelligen Stimmenateilsgewinne des
Links-bündnisses Syriza bei den Parlamentswahlen am 6. Mai 2012 hatten die
Umfragen in Griechenland seinerzeit auch nicht vorausgesehen. Das Bündnis kam
praktisch aus dem Nichts und erreichte 16,8 Prozent der Stimmen, was sie zur zweitstärksten
Kraft vor der PASOK machte.
Die Europawahl ist dieses Mal anders
Bei den letzten beiden Malen war die
Wahlbeteiligung bei der Europawahl in vielen Ländern eher mäßig. 2004 und 2009
war sie in Luxemburg und Belgien mit jeweils knapp über 90 Prozent so hoch wie
nirgendwo sonst in der Europäischen Union. Überdurchschnittlich hoch war sie
auch noch in Italien (71,7 bzw. 65,1 Prozent). In den meisten
EU-Mitgliedstaaten lag sie jedoch sowohl 2004 als auch 2009 unter 50 Prozent.
Das gilt etwa für Spanien (45,1 bzw. 44,9 Prozent), Deutschland (43 bzw. 43,3
Prozent) und Frankreich (42,8 bzw. 40,6 Prozent). Bei weniger als 40 Prozent
lag die Wahlbeteiligung in beiden Jahren beispielsweise in Großbritannien,
Portugal und den Ungarn. (3)
Doch dieses Mal ist es bei der Europawahl
anders. Das hat weniger damit zu tun, dass es erstmals Spitzen-kandidaten gibt,
die sich bei den Wählern zugleich auch um den Posten des Präsidenten der
Europäischen Kommission bewerben. Vielmehr hat es damit zu tun, dass die
Europäische Union mit ihrem Krisenmanagement in der Amtszeit des aktuellen
Europäischen Parlaments gleich zweimal nicht überzeugen konnte, sondern
Kontroversen und sehr viel Kritik ausgelöst hat. Das gilt für den Umgang der EU
mit der Ukraine-Krise, die seit Wochen die Schlagzeilen und die Talkrunden im
TV beherrscht. Vor allem aber gilt das mit Blick auf die europäische
Schuldenkrise, die Anfang 2010 begonnen hat, also erst kurz nach der letzten Europawahl (Frühjahr 2009).
Die bevorstehende Europawahl ist für die
Bürger in der EU folglich somit die erste Gelegenheit, ihrem Votum über das –
nicht zuletzt in besonderer Weise von der Bundesregierung beeinflusste – europäische
Krisenmanagement an der Wahlurne Ausdruck zu verleihen. Eine Rolle spielen
dürfte das vor allem für all diejenigen, die von dieser Politik betroffen sind.
Deutschland ist allerdings so ziemlich das
einzige EU-Land, in dem die europäische Schuldenkrise und das europäische
Krisenmanagement noch keine negativen Auswirkungen auf die Bürger haben. In den
meisten Ländern ist jedoch ein mehr oder weniger großer Bevölkerungsteil damit direkt
oder indirekt konfrontiert – zum Teil in besonders krasser Form, so wie z.B. in
Griechenland und Portugal.
Es mag deswegen zwar sein, dass viele
deutsche Wähler die aktuell in Presse und Medien verbreiteten Erfolgs-meldungen
zum europäischen Krisenmanagement akzeptieren und darin eine Bestätigung des
Kurses der Kanzlerin sehen. In den Krisenländern aber, in denen das Spardiktat
herrscht, ist das – wie das Beispiel Griechenland zeigt – nicht der Fall.
Das Stimmungsbild in Deutschland sagt
insofern sehr wenig über den möglichen Ausgang der Europawahl aus. Die
Motivation vieler Bürger in Krisenländern, ihre Stimme bei der Europawahl
abzugeben, dürfte insofern eine ganz andere sein als bei den Deutschen. Für die
deutschen Wähler hat die Europawahl am kommenden Sonntag sehr wahrscheinlich keinen
höheren Stellenwert als sonst auch. In vielen EU-Mitgliedstaaten ist die
Wahrnehmung aufgrund der Wirtschaftslage und einer auf Einsparungen und Einschnitte
ausgerichteten Politik aber eine ganz andere.
Was das konkret bedeutet, kann man
vielleicht am besten an der nach Ländern aufgeschlüsselten Zahl der von Armut
und sozialer Ausgrenzung gefährdeten Menschen in der Europäischen Union ablesen,
die in der Euro-Krise deutlich gestiegen ist.
25 Prozent der Europäer sind von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht
Als „armutsgefährdet“
gelten in der EU Personen, die in einem Haushalt mit einem verfügbaren
Äquivalenzein-kommen unter der Armutsgefährdungsschwelle leben, welche auf 60
Prozent des verfügbaren Median-Äquivalenz-einkommens (nach Sozialleistungen!)
festgelegt ist. (4)
(Anmerkung
S. L. E.: Für die Berechnung des Äquivalenzeinkommens wird das Gesamteinkommen
eines Haushalts nach einem bestimmten Schlüssel gewichtet auf dessen Mitglieder
verteilt.)
Als „von
Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht“ gelten Menschen in der Europäischen
Union, wenn sie von mindestens einer
der folgenden drei Lebensbedingungen
betroffen sind: (5)
- sie sind von Armut bedroht (siehe dazu obige Definition);
- sie leiden unter erheblicher materieller Entbehrung, das heißt sie leben unter Bedingungen, die durch fehlende Mittel eingeschränkt sind und sie sind von mindestens vier der folgenden neun Entbehrungs-kategorien betroffen: Sie sind nicht in der Lage
- die Miete/Hypothek oder Rechnungen für Versorgungsleistungen pünktlich zu bezahlen,
- die Wohnung angemessen zu beheizen,
- unerwartete Ausgaben zu tätigen,
- jeden zweiten Tag eine fleisch- oder fischhaltige Mahlzeit (bzw. vegetarische Entsprechung) zu haben,
- einen einwöchigen Jahresurlaub weg von zu Hause zu finanzieren, sich
- ein Auto,
- eine Waschmaschine,
- einen Farbfernseher oder
- ein Telefon (einschließlich Mobiltelefon) zu leisten.
- sie leben in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbstätigkeit, das heißt, dass die Erwachsenen (18-59 Jahre) in diesem Haushalt im vorherigen Jahr insgesamt weniger als 20 Prozent ihres Erwerbs-potenzials ausgeschöpft haben. (Studierende sind nicht miteinbezogen!).
Die jüngsten Eurostat-Zahlen zeichnen für
die Phase der Euro-Krise (Ende 2009 bis Ende 2012) bisher eine erschreckende
Entwicklung. Knapp 125 Millionen Bürger der EU waren Ende 2012 von Armut und
sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht 24,8 Prozent der Bevölkerung der
EU. In der EU27 – also ohne das jüngste EU-Mitglied Kroatien – hat sich die
Anzahl der Betroffenen von 2009 bis 2012 – also im Zuge der Euro-Krise und des
europäischen Krisenmanagements – um 8,8 Millionen erhöht.
Abbildung 1
zeigt die Entwicklung der Zahl der Betroffenen für alle 28 Mitgliedstaaten.
Abbildung 1: Zur Vergrößerung bitte Abbildung anklicken!
Gut zu erkennen ist, dass gerade in jenen
Staaten, die in der Phase der Euro-Krise mit gravierenden Finanz-problemen zu
kämpfen hatten und auf Druck der EU auf einen austeritätspolitischen Kurs
umgeschwenkt sind, um ihre Schuldenprobleme in den Griff zu bekommen, die Zahl
der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen deutlich gestiegen
ist. Das gilt besonders für Griechenland, Italien und Spanien.
Noch deutlicher wird das Ausmaß von Armut
und sozialer Ausgrenzung, wenn man den Anteil der Gefährdeten an der jeweiligen
Gesamtbevölkerung in den Blick nimmt (siehe Abbildung 2).
Abbildung 2: Zur Vergrößerung Abbildung bitte anklicken!
Besonders ernst ist die Lage in Bulgarien,
wo zwischen 2009 und 2012 Spitzenwerte von bis zu knapp 50 Prozent erreicht wurden.
Anteile von über oder knapp unter 40 Prozent verzeichnen Rumänien und Lettland.
Nicht weniger alarmierend ist der Anstieg auf zuletzt (2012) knapp 35 Prozent
in Griechenland sowie auf knapp 30 Prozent in Irland (2011), Spanien und
Italien.
Gerade in Griechenland (+ 7 Prozentpunkte)
und Italien (+ 5,2 Prozentpunkte) hat sich der Anstieg im Zuge der Euro-Krise (2009-2012)
und des europäischen Krisenmanagements dramatisch beschleunigt. In diesem
Zeitraum erhöhte sich der betroffene Bevölkerungsanteil auch in Spanien um 3,7
Prozentpunkte. Denselben Wert erreichte Irland, für das für 2012 keine Daten
vorliegen, schon im Zeitraum 2009-2011.
Insgesamt betrachtet ist der Anteil der
von Armut und sozialer Ausgrenzung Gefährdeten in der europäischen
Schuldenkrise in 19 EU-Mitgliedstaaten gestiegen. In 18 Mitgliedstaaten lag er 2012
bei über 20 Prozent. In 13 Ländern fielen 2012 mehr als ein Viertel der
Bevölkerung in diese Kategorie. Neuere Zahlen gibt es von Eurostat noch nicht.
All das setzt aus Wählersicht mitunter ein
dickes Fragezeichen hinter das europäische Krisenmanagement – jedenfalls in
jenen Staaten, in denen sich die Lage für sehr viele Menschen verschlechtert
hat. Dass und wie sie sich verschlechtert, sehen dort nicht nur die Betroffenen,
sondern viele andere auch. Nichts ist zudem für die Menschen wichtiger als ihre
eigene wirtschaftliche Situation – ganz besonders bei Wahlen.
Es ist die Frage, wie sehr dies bei der
Europawahl am kommenden Sonntag zum Tragen kommt. Fügen sich die direkt oder
indirekt negativ betroffenen und um ihre persönliche Zukunft besorgten Wähler in
das scheinbar Unver-meidliche oder nehmen sie die Gelegenheit wahr, den verantwortlichen
Parteien und Politikern ein Denkzettel zu verpassen?
Es ist schwer zu sagen. Die Europawahl am
25. Mai könnte durchaus überraschende Resultate hervorbringen, vor allem für
die großen etablierten Parteien in den Krisenländern, die die Zustände in ihrem
Land zu verantworten haben. Protestparteien könnten dort stärker als erwartet
profitieren. Das Potenzial dafür ist in nicht wenigen Ländern vorhanden. Die
Unzufriedenheit in der Bevölkerung der EU mit dem Krisenmanagement in der EU
ist größer als es die zuletzt veröffentlichten Wirtschafts- und Finanzdaten vielleicht
vermuten lassen.
Die letzten Umfragen in Griechenland sind
dafür ein Beispiel. Dort wird sich möglicherweise schon heute bei der
Kommunalwahl zeigen, wohin die Wähler bei der Europawahl tendieren.
Zur Wahlbeteiligung in Belgien/Luxemburg eine Anmerkung: In Belgien und Luxemburg herrscht Wahlpflicht. Das kennen wir in Deutschland ja nicht. Daher die 90 %, statt wie hier eher 40%.
AntwortenLöschenHallo Herr Wolf,
Löschenvielen Dank für diesen Hinweis. In Griechenland herrscht ebenfalls Wahlpflicht. Dort lag die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2004 und 2009 trotzdem nur bei 63,2% bzw. 56,3%. Es wird dort offensichtlich nicht so streng gehandhabt.
In Belgien und Luxemburg wäre die Wahlbeteiligung bei Europawahlen wahrscheinlich aber auch ohne Wahlpflicht hoch, weil in beiden Ländern europäischen Institutionen ihren Sitz haben und viele dort davon leben.
Viele Grüße
SLE