Im Vorwahlkampf in den USA sieht man
gegenwärtig sehr deutlich, was überall auf der Welt passiert: Kandidaten, die
dem politischen Establishment den Kampf ansagen, erweisen sich als unerwartet
erfolgreich. Das gilt nicht nur für den umstrittenen Republikaner Donald Trump,
der die Debatte in den US-Medien beherrscht, sondern auch für den Demokraten
Bernie Sanders.
Quittung für Dauerkrise, Klientelpolitik und Ignoranz
Die USA sind kein Einzelfall. Im Zuge der
Euro-Krise und der umstrittenen Versuche, mit Hilfe von Austeritätspolitik Staatsfinanzen
und Volkswirtschaften wieder auf eine solide Grundlage zu stellen, sind in
vielen europäischen Mitgliedstaaten markante Persönlichkeiten an der Spitze
zuvor unbekannter oder unbedeutender Parteien in der Wählergunst signifikant
gestiegen. Das gilt etwa für Alexis Tsipras in Griechenland und seine
Linkspartei „SYRIZA“, für den Komiker Beppe Grillo in Italien mit seiner „5-Sterne-Bewegung“,
für Nigel Farage und die „United Kingdom Independence Party“ (Ukip) in
Großbritannien sowie unter anderem auch für die Linkspartei „Podemos“ mit ihrem
Frontmann Pablo Iglesias in Spanien und, nicht zu vergessen, für den
rechtsextremen „Front National“ (FN) von Marine Le Pen in Frankreich.
Die gestrigen Landtagswahlen in Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt haben unbestreitbar gezeigt, dass auch in Deutschland
eine Anti-Establishment-Partei entstanden ist und im Zuge der umstrittenen
Flüchtlingspolitik der Bundesregierung massiv an Zustimmung gewonnen hat: die
Alternative für Deutschland (AfD). Ausnahmslos alle Bundestagsparteien mussten gestern
teils drastische Stimmenanteilsverluste verbuchen. (1) Dass die SPD in
Rheinland-Pfalz und die Grünen in Baden-Württemberg Wahlsieger werden konnten,
haben sie vor allem der Authentizität ihrer Spitzenkandidaten Malu Dreyer (SPD)
und Winfried Kretschmann (Grüne) zu verdanken.
Worum es geht ist zweierlei: Erstens die
wachsende Unzufriedenheit mit der Politik der etablierten Parteien, vor allem mit
deren Krisenpolitik, die Probleme nicht wirksam und vor allem gerecht löste,
sondern für weite Teile der Bevölkerung vergrößerte. Und zweitens um Authentizität,
das heißt um das Bedürfnis der Wähler nach politischen
Führungspersönlichkeiten, die Probleme nicht verschleiern, sondern ansprechen, Missstände
nicht beschönigen und sagen, was sie denken und nicht was gerade opportun für
sie ist.
Auf Konfrontationskurs: Politisches Establishment und Wähler
In der Art der Bekämpfung der
Neuaufsteiger und ihrer Köpfe seitens des politischen Establishments gibt es
hingegen kaum Unterschiede: Es werden alle Register gezogen, um sie unseriös, undemokratisch,
inkompetent und damit als unwählbar erscheinen zu lassen. Über die Gründe der
Wähler oder genauer gesagt deren Kritik an den etablierten Parteien, die diese "Protest"-Parteien
und –Kandidaten so erfolgreich werden lässt, findet keine Auseinandersetzung
statt – nicht einmal ansatzweise. Die Botschaft des politischen Establishment
ist damit ebenso klar wie fatal: Wir wissen es besser, wir machen keine Fehler,
wir sind unantastbar. Genau das ist es, was die Wähler in Scharen zu
Protest-Parteien am linken und rechten Rand des politischen Spektrums treibt. Es
ist ein Konfrontationskurs.
Wohin ein solcher Konfrontationskurs des
politischen Establishments mit den Wählern führen kann, zeigt die Geschichte. Denn
die Reaktionen beispielsweise des politischen Establishments und der führenden
Medien auf den erdrutschartigen Erfolg der NASDAP bei den Wahlen im September 1930
weisen klare Parallelen zu heute auf. Im Leitartikel der Frankfurter Zeitung
vom 15. September 1930, in dem die Reichstagswahlen vom Tag
zuvor als „Erbitterungs-Wahlen“ bezeichnet werden, wird der Aufstieg der NSDAP
wie folgt erklärt und bewertet:
„ ... Kein positiver
Wille, auch nicht der zu einem wirklichen Umsturz des heutigen Staates, nicht
einmal der zu dem gewaltsamen Versuch eines Umsturzes unserer heutigen außenpolitischen
Grundlagen, steht hinter einem großen Teil dieser radikal-negierenden Stimmen.
Ein solcher Umsturz-Wille ist, wir dürfen uns wahrhaftig nicht in Illusionen
wiegen, bei einem Teil sicherlich vorhanden. Der andere Teil hat lediglich
Protest gewollt. Protest – auch darüber dürfen wir uns keine Illusionen machen,
und am allerwenigsten dürfen das diejenigen Parlamentarier und sonstige
Parteistellen, die es zunächst angeht – gegen die Methoden des Regierens oder
Nichtregierens, des entschlußlosen parlamentarischen Parlamentierens der
letztvergangenen Jahre, die jedem anderen mißfallen haben als den
Parlamentariern, die sie betrieben. Protest gegen die wirtschaftliche Not, die
furchtbar ist und die viele, zum Teil aus ehrlicher Verzweiflung zum anderen bloß
aus dem Ärger über diese oder jene Einzelmaßnahme, einfach in die Stimmung
treibt: die Partei, für die sie bisher gestimmt hatten, habe ihnen nicht
geholfen, also versuche man es nun einmal mit der anderen Tonart. Hitler
verspricht ja Macht, Glanz und Wohlstand. Also! Wie wäre es, wenn Hitler jetzt
wirklich die Möglichkeit erhielte, die Macht zu ergreifen? Er stünde nackt und
bloß und wüßte in Wirklichkeit nichts, gar nichts, um seine Versprechungen zu
erfüllen und Deutschland aus der Not herauszuführen. ... „
Wörtlich aus dem
Leitartikel der Frankfurter Zeitung vom 15.09.1930, Nr. 688, zitiert nach W.
Conze, „Der Nationalsozialismus“, Teil I, Stuttgart, 6. Aufl. 1972, RZ 54, S.
38-39.
Die meisten Wähler der NSADP werden als
Protestwähler abgestempelt, deren Motive nur zum Teil einen ernstzunehmenden
Hintergrund haben. Die NSDAP selbst wird als Partei dargestellt, die ihre Versprechungen
gar nicht erfüllen kann, wenn sie an die Macht käme. Die zentrale Botschaft des
Artikels ist, dass es gar keine politische Alternative gibt und auch nicht
geben kann.
Wer den gestrigen Wahlabend in Deutschland
verfolgt hat, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass die AfD und
die AfD-Wähler vom politischen Establishment und den Medien beharrlich in derselben
Weise einsortieret werden. Ob zu Recht oder nicht, auch dem Republikaner Donald
Trump geht es als parteiinternem Gegner des Establishments nicht anders und das
gilt ebenso für alle ernstzunehmenden neuen „Protest“-Parteien, ganz gleich ob
sie auf der linken oder rechten Seite des politischen Spektrum stehen. Die Reaktionsmuster
des politischen Establishments auf eine erstarkende, gegen es selbst gerichtete
Kraft sind scheinbar immer dieselben.
Zwei mögliche Antworten des politischen Establishments auf erstarkende Protestparteien
Damit keine Missverständnisse aufkommen:
Es geht hier nicht um eine qualitative Bewertung von Kandidaten und neuen
Parteien. Vielmehr geht es darum hervorzuheben, dass diese Methode des Umgangs
mit neuer politischer Konkurrenz nicht aufgeht. Sie führt nicht zum vom
politischen Establishment gewünschten Ergebnis, sondern erreicht das Gegenteil.
Ein gestern am Abend in der Onlineversion
der Neuen Zürcher Zeitung zum Aufstieg der AfD bei den Landtagswahlen veröffentlichter
Kommentar trifft deswegen den Nagel auf den Kopf. Zwei mögliche politische Antworten
der etablierten Parteien werden darin gesehen. Entweder sie erkennen, dass „der Grossteil der Wähler des Aufsteigers
nicht einfach ein Haufen trüber Rassisten, Extremisten und Dummköpfe ist, die
man am besten ignoriert“, sondern „dass
ihnen viele der eigenen, durchaus bürgerlichen und ehrenhaften Wähler abhandengekommen
sind, weil diese nicht mehr geneigt sind, die Politik der Regierungskoalition
nach dem Motto von Kanzlerin Merkel als alternativlos zu betrachten.“ Oder
es gibt einen „empörten Aufschrei in
Medien und Politik über die Bedrohung durch die 'rechtspopulistische' AfD“,
die dann weiterhin zusammen mit ihren Wählern aus dem politischen Diskurs
ausgegrenzt werden mit der Folge, dass die Machtverhältnisse zwar unverändert
bleiben, aber die Spannungen und die Unzufriedenheit in der Bevölkerung
zunehmen. (2)
Die politischen Reaktionen auf das
Wahlergebnis lassen den Schluss zu, dass sich die etablierten Parteien bereits reflexartig
für die zweite Antwortmöglichkeit entschieden haben. Besser wird dadurch
nichts. Es gibt in der Wahrnehmung vieler viele ungelöste oder unbefriedigend
gelöste Probleme in Deutschland und auf europäischer Ebene. Die Mehrheit der
Wähler mag das heute an deutschen Wahlurnen noch nicht so sehen. Gemessen an
den Reaktionen auf den gestrigen Erfolg der AfD stellen die etablierten
Parteien jedoch nicht darauf ab, Schein und Sein durch Kurskorrekturen wieder miteinander
in Einklang zu bringen und das ist mit Blick auf die Geschichte beinahe eine
Garantie dafür, dass sie die Mehrheit nicht werden halten können.
Was gestern in Deutschland auf Länderebene
geschehen ist, ist kurz zuvor in Portugal, dann in Spanien und zuletzt auch in
Irland auf nationaler Ebene bei Wahlen passiert: Die Regierungsbildung ist
aufgrund unklarer Mehrheitsverhältnisse zum Problem geworden. Das ist die politische
Realität. Wir erleben eine Art schleichende "Weimarisierung" Europas,
weil die etablierten Parteien aus der Geschichte offenbar nichts lernen wollen.
Es wäre nicht so beunruhigend, wenn dies nur in einem Land geschähe. Aber es
geschieht in so vielen Ländern zur gleichen Zeit.
Hallo Herr Eichner,
AntwortenLöschenich erlaube mir die Diskussion die wir zur Bundestagswahl 2013 hier hatten noch einmal hier zu verlinken: (Stichpunkt: "des Kaisers neue Kleider".)
http://stefanleichnersblog.blogspot.de/2013/08/die-bundestagswahl-und-europa-die.html
Seit 2013 hat sich im Grunde nichts geändert. Der nackte Kaiser und sein Hoftstaat ziehen das Schauspiel weiter durch und die Wähler fallen auf die dreisten (Auf)Schneider massenweise herein.