Sonntag, 13. Februar 2011

Wettbewerbsleitbilder der Wirtschaftspolitik: "What do we want competiton to do for us?"


In diesem Aufsatz geht es um Wettbewerb. Es geht um die unterschiedlichen Erklärungen der Ökonomen für die Voraussetzungen effektiven Wettbewerbs und damit einer reibungslos funktionierenden, prosperierenden Marktwirtschaft. Die folgenden Ausführungen sollen das nötige Vorverständnis für den nächsten Aufsatz,
"Die europäische Krise - Teil 4", schaffen, in dem eine vergleichende Betrachtung des Orientierunsgwertes von verschiedenen Wettbewerbsleitbildern für die europäische Wirtschaftspolitik erfolgen soll.

So lange innerhalb der EU keine Verständigung in der Leitbild-Frage erzielt worden ist, schweben alle Überlegungen für eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der EU und eine EU-Wirtschaftsregierung im luftleeren Raum. Denn die Wirtschaftspolitik kann auf eine Vorstellung davon, unter welchen Voraussetzungen die Marktwirtschaft prosperiert, nicht verzichten.

Wettbewerb ist der Motor der Marktwirtschaft. Es ist entscheidend für die Wirtschafts-politik zu wissen, was sie einerseits tun kann und was sie andererseits unterlassen muss, damit dieser Motor rund läuft.

Das klingt wie eine nostalgische Reminiszenz an Zeiten, in denen die Ökonomen für die Wirtschaftspolitik noch tonangebend waren. Wer würde nicht der Aussage zustimmen, dass sie das heute nicht mehr sind? Die praktische Politik orientiert sich an empirischen Wirtschaftsdaten, aber vor allem auch an wirtschaftlichen Interessen, vertreten durch ein Heer von Lobbyisten. Wer keine Lobby hat, der existiert in den Augen der Politik pointiert ausgedrückt nur als Restgröße, die für politische Entscheidungen kaum relevant ist.

Tatsächlich ist die Wirtschafts- und Finanzpolitik bedingt durch die Krise genau deswegen in schweres Fahrwasser geraten. Denn erstens ist in wirtschaftlich turbulenten Zeiten der Orientierungswert empirischer und grundsätzlich aus der Vergangenheit stammender Daten für die praktische Politik oft sehr gering. Zweitens wird der Einfluss von Lobbyisten auf die Politik in der Bevölkerung wie auch in weiten Teilen der Wirtschaft zunehmend kritisch gesehen.

Doch abgesehen davon haben gerade die führenden Ökonomen eigene Probleme. Denn infolge der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise ist ihr Theoriengebäude in sich zusammen-gestürzt. Die Krise hat neoklassische, neoliberale und ebenso keynesianische Ökonomen in fundamentale Erklärungsschwierigkeiten gebracht. Sie hat die begrenzte Erklärungskraft ihrer Theorien aufgedeckt. Aus diesem Grund könnten die führenden Ökonomen der Politik aktuell kaum wirklich helfen, sollte sie sich besinnen und um Orientierung gebenden Rat für die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik in der EU bei ihnen anklopfen.

Allerdings würde die Politik aller Voraussicht nach wohl nicht um Rat bezüglich des wirtschaftspolitischen Leitbildes ersuchen. Warum nicht? Ganz einfach: Weil jeder zu wissen glaubt, wie Wettbewerb und Markt funktionieren.

Das ist das Problem. Denn das ist ein Irtum.

Erstens sind sich darüber nicht einmal die Ökonomen, die es eigentlich wissen müssten, einig. Die Krise hat den Wert ihrer Kenntnisse bezüglich der Funktionsweise von Märkten zudem auf einer grundsätzlichen Ebene infrage gestellt. Zweitens dürften sich viele Politiker nicht einmal bewusst sein, dass ihren wirtschaftspolitischen Debatten, Argumenten und Maßnahmen sehr wohl ein spezifisches, aus der Wettbewerbstheorie abgeleitetes Verständnis von der Funktionsweise wettbewerblicher Märkte zugrunde liegt.

Tatsächlich wurde die ökonomische, vor allem aber die wirtschaftspolitische Leitbild-Debatte bereits Ende der 60er Jahre beendet. Seither hat sich zumindest in der Politik offenbar niemand mehr für diese Frage interessiert. Das seinerzeit übernommene wettbewerbs- bzw. wirtschaftspolitische Leitbild wurde nicht mehr hinterfragt - weder in Deutschland noch in einem anderen Industriestaat. Politiker haben in diesen vier Dekaden verinnerlicht, was das favorisierte Leitbild besagt. Aber viele haben über die Jahre vergessen, auf welche wettbewerbstheoretische Basis ihre Auffassungen zurückgehen und mitunter oft ebenso, wie diese heißt. Sie sind sich nicht bewusst, dass es sich so oder so um Theorien handelt, die auf umstrittenen Hypothesen beruhen und dass es insofern durchaus Risiken birgt, ihnen in der praktischen Wirtschaftspolitik blind zu folgen, egal ob das nun bewusst oder unbewusst geschieht.

Machen Sie einmal die Probe! Fragen Sie Ihre Politiker, welche Wettbewerbstheorien sie kennen und was für Fortschritte es in den Wirtschaftswissenschaften auf diesem Feld gegeben hat. Sie werden dabei feststellen: Das Wettbewerbsverständnis ist zu einer unreflektierten und unbewussten Selbstverständlichkeit geworden.

Das sieht man zum Beispiel daran, dass liberale Politiker gerne behaupten, entweder man sei für Wettbewerb und die Marktwirtschaft oder dagegen. Diese Aussage ist aus ökonomische Sicht Nonsens, weil sie fälschlicherweise suggeriert, es herrsche vollkommene Klarheit über die Voraussetzungen für funktionierende und prosperierende Märkte und damit sei der Weg der Wirtschaftspolitik vorgezeichnet.

Gerade deswegen unterliegen viele Politiker einem weiteren Irrtum. Wenn sie Maßnahmen zur Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unter-nehmen ergreifen, dann tun sie das üblicherweise mit der Begründung, das sei gut für Wachstum und Beschäftigung. Dadurch werden aber unzulässigerweise zwei verschiedene Aspekte miteinander vermengt, nämlich erstens die Fähigkeit der Unternehmen, im Wettbewerb zu bestehen und zweitens die Fähigkeit des Wettbewerbs, Wachstum und darüber auch positive Beschäftigungseffekte zu bewirken.
 
Wenn diese Trennung unterbleibt, werden die tatsächlichen Wettbewerbsbedingungen, unter denen die Unternehmen auf Märkten agieren, mit dem Idealtyp von Leistungs-wettbewerb ("wirksamer Wettbewerb") gleichgesetzt, der in der Wettbewerbstheorie die Ordnung der Märkte und wirtschaftliche Prosperität bewirkt. Dass dies geschieht, ist eine direkte Folge der weitgehenden Abkopplung der Politiker von der wirtschaftstheoretischen Basis. Wer sich also dafür einsetzt, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken und damit in letzter Konsequenz die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Volks-wirtschaft, der hat sich damit nicht unbedingt auch schon für funktionierende Märkte sowie für Wachstum und Beschäftigung eingesetzt - ein Argument, dass beispielsweise auch den von der Bundesregierung für die EU vorgeschlagenen "Pakt für Wettbewerbs-fähigkeit" in ein ganz neues Licht rückt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es gerade in Anbetracht der aktuellen Debatte um eine EU-Wirtschaftsregierung bzw. eine bessere Koordinierung der nationalen Wirtschafts-politiken wesentlich, dem wirtschaftspolitischen Leitbild bzw. dem Wettbewerbs-leitbild die Bedeutung zukommen zu lassen, die ihm gebührt. Das gilt umso mehr, als es in der aktuellen Diskussion überhaupt keine Rolle spielt und der Debatte somit die zentrale Grundlage fehlt. Das ist ein Zeichen, wie weit sich die Politiker europaweit von den Grundlagen und Voraussetzungen erfolgreicher Wirtschaftspolitik entfernt haben.

Die Vorstellung der Ökonomen von "wirksamem Wettbewerb" (synonym verwendete Bezeichnungen: "idealer Wettbewerb", "effektiver Wettbewerb" und "Leistungs-wettbewerb") und damit von optimal funktionierenden Märkten hat sich im Zeitablauf gewandelt und ausdifferenziert. Es existieren also nebeneinander verschiedene Wettbewerbstheorien und verschiedene, daraus abgeleitete Wettbewerbsleitbilder als Orientierungsbasis für die Wirtschaftspolitik. Das ist nicht unwichtig. Denn das spiegelt letztlich auch die Entwicklung und Auffächerung der übergeordneten allgemeinen Wirtschaftstheorie wieder, in die die Wettbewerbstheorien durch die Übernahme gewisser Grundannahmen eingebettet sind. Damit ist die Krise, in die die Wirtschaftstheorie infolge der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise geraten ist, auch eine Krise der Wettbewerbs-theorien und -leitbilder. Das verdeutlicht die Herausforderung, vor die die EU bei der Suche nach und der Verständigung auf eine europäische Wirtschaftspolitik gestellt ist und zwar ganz unabhängig von der Frage, wie diese letztlich organisatorisch (zentral oder dezentral) umgesetzt werden soll.

Vier Wettbewerbstheorien bzw. -auffassungen und daraus abgeleitete wettbewerbs- bzw. wirtschaftspolitische Leitbilder können im Wesentlichen unterschieden werden und sollen im Folgenden thematisiert werden:
  1. Vollkommene Konkurrenz
  2. Funktionsfähiger Wettbewerb
  3. Freier Wettbewerb
  4. Evolutorischer Wettbewerb

1. Das Modell der "vollkommenen Konkurrenz" - präzise, aber realitätsferne Bedingungen wirksamen Wettbewerbs

Die erste konkrete Formulierung von Bedingungen für idealen Wettbewerb stammt aus der neoklassischen Gleichgewichtstheorie und ist etwa 90 Jahre alt. Es geht um das sogenannte Modell der "vollkommenen Konkurrenz", das genau genommen kein Wettbewerbsleitbild war, aus dem jedoch später durch Modifizierung der zugrunde liegenden Bedingungen verschiedene Wettbewerbsleitbilder für die Wirtschaftspolitik abgeleitet wurden. Die Bedingungen sind die Folgenden:
  • die Marktform des Polypols (viele Anbieter und Nachfrager mit jeweils kleinem Marktanteil; der Marktpreis ist deswegen für die Wettbewerber nicht beein-flussbar; sie können sich also nur über die angebotene Menge anpassen);
  • Homogenität - also absolute Gleichartigkeit aller Sachen, aller Personen, des Raums sowie auch in zeitlicher Hinsicht;
  • vollkommene Markttransparenz, das heißt, alle Wirtschaftssubjekte verfügen über vollständige Übersicht und Voraussicht;
  • unbegrenzte Mobilität und Teilbarkeit von Produktionsfaktoren und Gütern;
  • unendliche Reaktionsgeschwindigkeit aller Akteure bei Anpassungsprozessen auf Märkten;
  • es existieren für Wirtschaftsakteure keinerlei Schranken für den Marktzutritt und den Marktaustritt, aber auch
  • striktes Rationalverhalten aller Marktteilnehmer, versinnbildlicht in der Figur des "Homo Oeconomicus";
  • alle Wirtschaftssubjekte verfügen über vollständiges Wissen und
  • der Staat enthält sich jeglichen Eingriffs in das Marktgeschehen.
Es ist evident, dass es unrealistisch ist anzunehmen, alle Bedingungen könnten in der realen Wirtschaft hergestellt werden. Diese Erkenntnis setzte sich aber nur zögerlich durch. Erst in den späten 20er Jahren begann bei den Ökonomen der langsame Abschied von der "vollkommenen Konkurrenz" als Vorbild für effektiven Wettbewerb auf realen Märkten. Dabei spielte eine Rolle, dass gerade die Forderung polypolistischer Märkte etwas war, was in der Realität immer seltener eine Entsprechung fand. Oligopolistische Märkte - als Marktform zwischen dem Polypol (sehr viele Anbieter) und dem Monopol (ein Anbieter) - waren dagegen immer häufiger zu beobachten.

In den späten 20er und den frühen 30er Jahren gingen Ökonomen (P. Sraffa (1926), später zeitgleich auch E. H. Chamberlain (1933 - "Monopolistic Competition") und J. Robinson (1933 - "Imperfect Competition")) deswegen der Überlegung nach, inwieweit auf Märkten auch unter Bedingungen unvollkommmenen, also von den Bedingungen der "vollkommenen Konkurrenz" abweichenden Wettbewerbs ein Gleichgewicht erreichbar sei. Im Kern wurde das - aus theoretischer Sicht - bejaht, wodurch die Basis für die wettbewerbstheoretische Legitimation oligopolistischer Märkte gelegt war.

Es war dabei am Rande bemerkt sicher kein Zufall, dass diese Überlegungen in einer historischen Zeit entstanden, in der - gerade auch in den USA - eindeutig eine stark ansteigende Unternehmenskonzentration zu beobachten war. Ähnlich dürfte es sich etwa auch mit den Arbeiten von R. Hilferding (Das Finanzkapital, 1910) und J. A. Schumpeter (Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 1912) verhalten haben, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie befassten sich zu einer Zeit kritisch mit monopolistischen Strukturen, in der diese speziell in den USA ausgesprochen negative Folgen gezietigt hatten, so dass die Politik die Notbremse zog (Zerschlagung von American Tobacco und Standard Oil (beide 1911)).

Während in den USA so in den 30er Jahren das Oligopol sukzessive in den Mittelpunkt der Definitionsversuche wirksamen Wettbewerbs rückte, gingen die Bestrebungen in Deutschland zunächst in eine andere Richtung. So empfahl der ordoliberale Ökonom W. Eucken (1939) - einer der Väter des Konzepts der "Sozialen Marktwirtschaft" - als praktikable Abwandlung der "vollkommenen Konkurrenz" die "vollständige Konkurrenz" als Leitbild für die Wirtschaftspolitik. Dabei sah er nur eine Bedingung vom ursprünglichen neoklassischen Modell als zentrale Voraussetzung für effektiven Wettbewerb an, nämlich die polypolistische Marktstruktur und stand damit im Gegensatz zur herrschenden Auffassung in den USA.

Dort wurde das Oligopol zwar für eine längere Übergangsperiode zunächst nur als eine Art "zweitbeste Lösung" (nach der nicht realisierbaren "vollkommenen Konkurrenz") angesehen. Die Ablösung wurde seinerzeit aber auch durch die sogenannte "Gegengiftthese" gefördert. Diese These besagt, angesichts oligopolistischer und somit unvollkommener Märkte lasse sich die Wirksamkeit des Wettbewerbs steigern, wenn man weitere Unvollkommenheiten  zulässt. Beispielsweise könnte demnach eine Reduzierung der Markttransparenz auf oligopolistischen Märkten als Gegengift wirken, weil es spontanes Parallelverhalten der Oligopolisten erschwert.


2. "Funktionsfähiger Wettbewerb" - Oligopole werden zum Marktideal

Ende der 30er Jahre begann in den USA die endgültige Abkehr von der "vollkommenen Konkurrenz". Stattdesen wurde eine realitätsnähere, praktikable Definition effektiven Wettbewerbs gesucht, wozu vor allem die empirisch ausgerichtete Forschung der sogenannten "Industrial Organization"(Industrieökonomik) in den USA (Harvard) beitrug.

Der Ansatz wurde entsprechend als "Workable Competition" ("funktionsfähiger Wettbewerb") bezeichnet ( J. M. Clark (1940)). Genau genommen handelt es sich dabei um eine ganze Familie von Definitionen idealen Wettbewerbs auf der Basis des Oligopols, weil die Ökonomen hinischtlich der Bedingungen für "funktionsfähigen Wettbewerb" uneins waren - und immer noch sind. Es wurden zahlreiche verschiedene Sets von Kriterien für "funktionsfähigen Wettbewerb" erarbeitet. So gehört etwa auch der Ansatz des deutschen Ökonomen E. Kantzenbach (1967) dazu, der lediglich drei Kriterien (Anbieterzahl, Produktheterogenität und Markttransparenz) als relevant für die Bestimmung der "optimalen Wettbewerbsintensität" auf Märkten ansah. Ebenso zu dieser Familie gehört das Konzept der "Contestable Markets"("angreifbare Märkte") von W. J. Baumol (1982), bei dem als einzige Bedingung für effektiven Wettbewerb die Offenheit der Märkte (keine Schranken für den Marktzutritt) angesehen wird.

Vier ergänzende Bemerkungen sind für das Verständnis der Theorie vom "funktions-fähigen Wettbewerb" sowie zur Abgrenzung von der "vollkommenen Konkurrenz" wichtig:
  1. Obwohl die Konkretisierung der Wettbewerbsauffassung "funktionsfähiger Wettbewerb" sehr stark von der empirischen Forschung profitierte, steht sie dennoch grundsätzlich weiterhin auf dem Fundament der neoklassischen Gleichgewichtstheorie. Anders ausgedrückt stellt der "funktionsfähige Wettbewerb" die Grundannahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie nicht infrage, sondern baut darauf auf. Das gilt vor allem für die Annahme, dass Wettbewerb grundsätzlich als Mechanismus verstanden wird, der - ähnlich wie die "vollkommene Konkurrenz" - im Grundsatz selbsttätig läuft und insofern auch weiterhin die Bedingung, der Staat dürfe nicht in die Marktprozesse eingreifen, aufrecht erhalten wird.
  2. Während die "vollkommene Konkurrenz" exakte Bedingungen für wirksamen Wettbewerb festlegt, die alle erfüllt sein müssen, zeichnet sich der Ansatz "funktionsfähiger Wettbewerb" dadurch aus, dass für die als relevant angesehenen Kriterien lediglich eine Spanne vorgegeben wird, innerhalb derer alle Ausprägungen der Marktmerkmale als zulässig akzeptiert werden. Beispielsweise fordert die "vollkommene Konkurrenz" eine "vollkommene Markttransparenz" und "Homo-genität aller Güter". Beim "funktionsfähigen Wettbewerb" sind hingegen unter-schiedliche Grade von Markttransparenz und Produktheterogenität zulässig. Ferner wurden die Spannen beipspielsweise bedingt durch die Globalisierung der Märkte angepasst, so dass heute Oligopole mit viel höheren Unternehmens-konzentrationsgraden als etwa in den 60er Jahren akzeptiert und zugelassen werden - gut zu erkennen an der Welle von Mega-Fusionen in den letzten Jahren.
  3. Ebenso wie bei der "vollkommenen Konkurrenz" erfolgt auch beim "funktions-fähigen Wettbewerb" die Definition ganz wesentlich über die Marktform. Während erstere das Polypol als Marktideal ansieht, ist es bei letzterer das Oligopol. Wie zentral die Marktform für die Definition wirksamen Wettbewerbs in den beiden neoklassischen Ansätzen ist, zeigt sich beispielsweise bei W. Eucken, dessen Leitbild "vollständige Konkurrenz" überhaupt nur die Marktform als Bedingung aufnimmt (Polypol) und ebenso bei E. Kantzenbach, in dessen Ansatz ("optimale Wettbewerbsintensität"/"funktionsfähiger Wettbewerb") die Marktform (Oligopol) eine von drei Bedingungen ist.
  4. Darüber hinaus liegt bei den beiden neoklassischen Wettbewerbsauffassungen bedingt durch die starke Fokussierung der Marktform auch eine Präferenz bezüglich der Unternehmensgröße vor. Während die "vollkommene Konkurrenz", aber auch Abwandlungen davon wie etwa W. Euckens "vollständige Konkurrenz", bedingt durch ihr Marktideal den Fokus wirtschaftspolitisch auf kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) richten, rückt das Leitbild "funktionsfähiger Wettbewerb" mit der Empfehlung des Oligopols wirtschaftspolitisch die Großunternehmen in den Mittelpunkt.
Bis Anfang der 50er Jahre wurde Wettbewerb noch nicht dynamisch aufgefasst, sondern statisch. Das heißt, der "vollkommenen Konkurrenz" lag ein statisches Wettbewerbs-verständnis zugrunde. Das bedeutet, mit den Bedingungen für wirksamen Wettbewerb wurde ein allgemeingültiges Marktideal definiert, vergleichbar mit einer Moment-aufnahme eines Marktes oder einer Fotographie. Und dieses Marktideal wurde mit dem Wettbewerbsideal gleichgesetzt - es gab darüber hinaus keine weitergehende Beschreibung oder Erklärung des Wettbewerbs selbst. Die Veränderung der Markt-gegebenheiten in der Zeit, mit anderen Worten die Entwicklung von Märkten, wurde dabei nicht berücksichtigt. Weil folglich die Marktsicht statisch war, traf das auch auf die Wettbewerbsuaffassung zu.

Das änderte sich bei der Theorie vom "funktionsfähigen Wettbewerb", die zwar bedingt durch die Verankerung in der neoklassischen Theorie ebenfalls ein statisches Marktideal definiert - genau genommen wurden viele verschiedene Marktideale definiert. Der Wettbewerb selbst wurde indes als Prozess, das heißt dynamisch aufgefasst.


Exkurs: Wettbewerb als dynamischer Prozess

Anfang der 50er Jahre begann sich in den Wirtschaftswissenschaften das dynamische Wettbewerbsverständnis durchzusetzen. Wettbewerb wurde nunmehr selbst beschrieben und zwar unabhängig von den für wirksamen Wettbewerb definierten Bedingungen bzw. - im Falle des "funktionsfähigen Wettbewerbs" - vom Marktideal. Neben das für wirksamen Wettbewerb definierte Marktideal trat ein Wettbewerbsideal, das den idealen Ablauf des Wettbewerbsprozesses oder anders ausgedrückt die Arbeitsweise des Wettbewerbs definiert. Damit rückten Innovationen in den Mittelpunkt des wettbewerbstheoretischen wie auch des wirtschaftspolitischen Interesses.

Wettbewerb als dynamischer Prozess (H. Arndt (1952), J. M. Clark (1961)) wurde von da an als eine im Ideal unendliche Abfolge von innovativen unternehmerischen Wettbe-werbsvorstößen und sich jeweils anschließenden Verfolgungsphasen seitens der dadurch herausgeforderten Wettbewerber beschrieben. Dieser Prozess wird vom unternehme-rischen Wunsch, mittels innovativer Produkte Nachfrage auf sich zu ziehen (das heißt: durch Innovationen) angetrieben. Jeder innovative Vorstoß eines Wettbewerbers zwingt die übrigen Anbieter auf einem Markt, entweder mit einem vergleichbaren Produkt nachzuziehen (Imitation), um durch die Innovation verloren gegangene Marktanteile zurück zu gewinnen oder die Konkurrenz mit einem eigenen innovativen Vorstoß zu überflügeln. Das hält den Prozess - in der Idealvorstellung - immer in Gang.

Der Wettbewerbsprozess bzw. die Arbeitsweise des Wettbewerbs wird von den Ökonomen bis heute übereinstimmend in dieser Weise erklärt. Das ist vielleicht der Grund dafür, dass heute jeder zu wissen glaubt, was "Wettbewerb" ist. Denn eine Alternative dazu gibt es nicht. Das erklärt mithin, warum sich in den Köpfen vieler die falsche Überzeugung festgesetzt hat, die Alternative zu "Wettbewerb" sei die Planwirtschaft oder anders ausgedrückt: Entweder es gibt Wettbewerb oder es gibt ihn nicht. Dass so gedacht wird, haben die Ökonomen zu verantworten. Denn sie haben es unterlassen, zwischen dem Wettbewerbsideal, das eine spezifische Qualität des Wettbewerbsprozesses darstellt (unendlich laufender Wettbewerbsprozess) und der grundsätzlichen Arbeitsweise des Wettbewerbs, also der schlichten Erklärung des Wettbewerbsprozesses (innovativer Vorstoß zwingt Wettbewerber zur Anpassung), zu unterscheiden.

Das ist insofern verständlich, als sowohl in der klassischen als auch in der neoklas-sischen Wirtschaftstheorie Wettbewerb auf Märkten grundsätzlich als selbstlaufend oder selbstregulierend definiert ist. Diese Hypothese liegt - mit einer Ausnahme (S. L. Eichner (2002)) - allen wettbewerbstheoretischen Ansätzen und damit Wettbewerbs-leitbildern zugrunde. Nur wenn deren Gültigkeit vorausgesetzt wird, ist es überflüssig zwischen der grundsätzlichen Arbeitsweise des Wettbewerbs und einem Wettbe-werbsideal zu unterscheiden. Aber genau das erweist sich heute als problematisch, weil die Finanzmarktkrise große Zweifel an dieser Hypothese, das heißt an der Existenz der Selbstregulierungskräfte des Marktes, geschürt hat.

Dass es heute dennoch mehrere alternative, miteinander konkurrierende Wettbewerbs-theorien bzw. Wettbewerbsleitbilder gibt und sich nicht eine einzelne als überlegen herauskristallisiert hat, hat einen einfachen Grund: Es gibt in den Wirtschafts-wissenschaften keine Klarheit darüber, wie wirksamer Wettbewerb erreicht werden kann.

Es gibt nach wie vor unterschiedliche Auffassungen über die Bedingungen, unter denen der von Innovationen angetriebene Wettbewerbsprozess reibungslos abläuft und nicht nur die Märkte ordnet und die Marktkräfte in einer Art dynamischer Machtbalance hält, sondern zugleich auch die Wirtschaft prosperieren lässt. Es gilt deswegen auch: Es gibt für die Wirtschaftspolitik bei der Orientierung an einem Wettbewerbsleitbild keine Gewissheit, genau das zuerreichen, was es verspricht.

Es ist im Übrigen durchaus bedeutsam, dass der Übergang zu einem prozessualen Wettbewerbsverständnis und damit die Betonung der Bedeutung von Innovationen in eine historische Phase fällt (50er Jahre), in der auch die neoklassische Wachstumstheorie entstand. Denn das ist als Zeichen dafür zu werten, wie stark seinerzeit wirtschafts-politisch die Frage in den Vordergrund rückte, wie wirtschaftliches Wachstum erklärt und somit letztlich auch wirtschaftspolitisch gefördert werden kann. Ebenso wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass mit dem Aufstieg der Wachstumstheorie der wesentlich ältere Ansatz, dynamisch-innovativen Wettbewerb für die Erklärung von "wirtschaftlicher Entwicklung" - als neoklassischen Gegenentwurf - zu nutzen (insb. J. A. Schumpeter (1912), H. Arndt (1952, 1992) u. a.), sukzessive an Bedeutung verlor. Denn das erklärt mithin, warum zu der mit der Finanz- und Weltwirtschaftskrise selbst in die Krise geratenen neoklassischen Theorie im Allgemeinen und der neoklassischen Wachstumstheorie im Besondern keine Alternative gesehen und stattdessen von einem Theoriedefizit gesprochen wird. Das ist nicht ganz korrekt.


3. Freier Wettbewerb - Ablehnung jeglichen Marktideals

Der "freie Wettbewerb" als Theorie wie auch als Leitbild (F. A. v. Hayek (1968), E. Hoppmann (1966) u. a.) geht auf die klassische ökonomische Theorie von A. Smith (Wohlstand der Nationen (1776)) zurück und wurde immer als stärkster Gegenentwurf zu den neoklassisch geprägten Wettbewerbstheorien gesehen - auch von der Politik.

Die drei wichtigsten Unterschiede zum Modell der "vollkommenen Konkurrenz", ihren Abwandlungen sowie zum Leitbild "funktionsfähiger Wettbewerb" sind:
  1. Die wirtschaftstheoretische Verankerung (klassische statt neoklassische Theorie);
  2. die Ablehnung eines Marktideals als Basis für die Definition wirksamen Wettbewerbs. Das ist eine unmittelbare Konsequenz aus der wirtschaftstheore-tischen Verankerung, denn die Wirtschaftstheorie von A. Smith hat eine sich dynamisch entwickelnde Wirtschaft (und damit auch sich entwickelnde Märkte) zum Inhalt und nicht, wie die neoklassische Wirtschaftstheorie, eine entwick-lungslose (statische) Kreislaufwirtschaft;
  3. Ablehnung jeglicher ergebnisbezogener Norm für wirksamen Wettbewerb; dieser wird folglich nicht an seinen Ergebnissen gemessen; mehr noch definiert diese Wettbewerbstheorie überhaupt kein Ideal für wirksamen Wettbewerb; stattdessen wird Wettbewerb negative normiert, das heißt, es wird definiert, unter welchen Bedingungen kein "freier" bzw. wirksamer Wettbewerb existiert.
Von den Vertretern der Wettbewerbstheorie "freier Wettbewerb" wurde mit Blick auf die Theorie "funktionsfähiger Wettbewerb" kritisch hervorgehoben, ein Marktideal könne nicht der Tatsache gerecht werden, dass sich im Zuge der Entwicklung von Märkten unter anderem gerade die Marktform verändert. Auf neuen Märkten ist das innovierende Unternehmen i. d. R. Monopolist. Durch die Gewinnchancen werden jedoch Nachahmer angelockt, so dass die Zahl der Anbieter immer weiter ansteigt, bis das Marktpotenzial ausgeschöpft ist (Polypol) und ein Verdrängungswettbewerb einsetzt. Der dadurch bedingt einsetzende Unternehmenskonzentrationsprozess sorgt dann dafür, dass die Anbieterzahl immer weiter absinkt (Oligopol).

Ebenso wie die auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie basierten Wettbewerbs-theorien gründet allerdings auch die Theorie "freier Wettbewerb" auf der Hypothese des selbstlaufenden und sich selbst regulierenden Wetbewerbs, weil das auch die zentrale These in der klassischen Wirtschaftstheorie von A. Smith ist, versinnbildlicht in seiner "unsichtbaren Hand". Auch hier wird der Wettbewerb als dynamischer Prozess verstanden - wie oben beschrieben - und zugleich auch als Wettbewerbsideal.

Verkürzt ausgedrückt ist deswegen in dieser Wettbewerbstheorie die einzige Bedingung für wirksamen Wettbewerb und wirtschaftliche Prosperität, dass für alle Marktakteure die Freiheit zum Wettbewerb besteht und das bedeutet: Freiheit von staatlicher Beein-flussung oder Gängelung - das Credo des Wirtschaftsliberalismus´ und der Grund für Deregulierungsforderungen. Die Möglichkeit, dass Wettbewerb aus sich heraus die Freiheit der Marktteilnehmer reduzieren könnte, wird nicht gesehen. "Freier Wettbewerb" bedeutet jedoch nicht "Laissez faire". Aber er bedeutet, dass der Staat nicht in die Märkte intervenieren darf. Darüber hinaus sollte er einen Rahmen von Regeln (Ordnungs-politik) für das Geschehen auf Märkten setzen, der ein größtmögliches Maß an unter-nehmerischer Freiheit gewährleistet und zugleich niemanden diskriminiert.

Bei keinem anderen Wettbewerbsleitbild ist das Vertrauen auf die Selbstregulierungs-kräfte des Marktes von so zentraler Bedeutung und so uneingeschränkt. Denn der Wettbewerb kann gemäß dieser Theorie weder an seinen Ergebnissen gemessen noch ergebnisbezogen in irgendeiner Weise gezielt (von staatlicher Seite) beeinflusst werden. Markt- und Wettbewerbsprozesse sind in dieser Sicht offene Prozesse und es wird die Auffassung vertreten, der Staat verfüge grundsätzlich niemals über genügend Informa-tionen, um Wettbewerbsprozesse gezielt positiv beeinflussen zu können.

Die Crux des Leitbildes liegt allerdings in der Messung von Freiheit und für die Wirtschaftspolitik zusätzlich darin, dass es vergleichsweise wenig Handlungsorien-tierung gibt.


4. "Evolutorischer Wettbewerb" - sich wandelnder Wettbewerb als Ideal

Die Wettbewerbstheorie "evolutorischer Wettbewerb" (S. L. Eichner (2002)) knüpft nicht an der neoklassischen Theorie an, sondern ebenso wie der "freie Wettbewerb" an der klassischen Wirtschaftstheorie von A. Smith. Auch hierbei wird, wie beim "freien Wettbewerb", von sich entwickelnden Märkten ausgegangen, so dass es sich verbietet, wirksamen Wettbewerb über ein Marktideal zu definieren. Allerdings wird für diese Wettbewerbstheorie die Hypothese des grundsätzlich selbstlaufenden und selbstregu-lierenden Wettbewerbsprozesses aufgegeben.

Das hat zwei entscheidende Konsequenzen:
  1. Es ist es gleichbedeutend mit dem Wegfall der Rechtfertigung für das von den neoklassisch basierten Wettbewerbstheorien bzw. -leitbildern und in noch strikterer Form von dem Konzept "freier Wettbewerb" geforderte "Nicht-Inter-ventionspostulat". Denn diese Bedingung kann überhaupt nur sinnvoll vertreten werden, wenn Wettbewerb grundsätzlich als selbstlaufend und selbstregulierend angesehen wird.
  2. Andererseits erschließt sich durch die Aufgabe der These vom selbstlaufenden Wettbewerb die Möglichkeit, verschiedene Qualitäten des Wettbewerbspro-zesses bzw. Formen des Wettbewerbs zu unterscheiden und zwar abhängig vom Grad der Veränderungen, die Innovationsaktivitäten in der Wirtschaft entfalten (ökonomische Signifikanz). Wettbewerb treibt gemäß dieser Auffassung die Entwicklung von Märkten voran, verändert sich im Zuge der Entwicklung von Märkten aber auch selbst (evulotorischer Wettbewerb). Mit anderen Worten wird die grundsätzliche Arbeitsweise des Wettbewerbs (innovativer Vorstoß zwingt Wettbewerber zur Anpassung) nicht zugleich in den Rang eines Wettbewerbs-ideals erhoben (uendlich laufender und Prosperität bewirkender Prozess).
Wettbewerb kann gemäß dieser Theorie die Entwicklung von Märkten, Wachstum und Beschäftigung in ganz unterschiedlicher Weise beeinflussen. Das hängt von der Wettbewerbsform ab, vor allem aber auch von der Zeitspanne, über die hinweg eine spezifische Wettbewerbsform auf Märkten vorherrscht. Deswegen wird nicht eine spezifische Wettbewerbsform als wirksamer Wettbewerb definiert. Vielmehr kommt es darauf an, dass sich die Wettbewerbsform im Zeitablauf immer wieder wandelt, weil dies die Voraussetzung für die Entwicklung von Märkten ist.

Die zu einem Zeitpunkt vorherrschende Wettbewerbsform kann und wird oft auch von Markt zu Markt differieren. Wettbewerb kann gemäß dieser Wettbewerbstheorie auf Märkten durchaus auch negative Wirkungen entfalten und ebenso zum Erliegen kommen. Das Maß für wirksamen Wettbewerb bzw. "evolutorischen Wettbewerb" ist deswegen weder ein spezifischer Grad von Freiheit noch eine Ergebnisnorm, sondern die ökonomische Entwicklungsqualität des Wettbewerbsprozesses, das heißt das Ausmaß, in dem der Wettbewerb innerhalb eines Zeitabschnitts zur Entwicklung eines Marktes beiträgt.

Während bei den anderen Wettbewerbstheorien wirksamer Wettbewerb immer als effektiver Preiswettbewerb definiert wird, kommt es beim "evolutorischen Wettbewerb" für wirksamen Wettbewerb in erster Linie darauf an, über ökonomisch signifikante Innova-tionen die Marktentwicklung in Gang zu halten. Wettbewerb auf Märkten ist gemäß dieser Auffasung entsprechend zu keiner Zeit reiner Preiswettbewerb, sondern immer eine Mischung aus Preis- und Qualitätswettbewerb. Welcher der Basisparameter Funktionalität, Qualität, Kosten und Preis in Wettbewerbsprozessen den Ausschlag, ist abhängig von der Marktsituation und dem Wettbewerbsverhalten der Marktteilnehmer.

Damit sind die grundsätzlichen Möglichkeiten der Leitbildauswahl für die Wirtschafts-politik, speziell auch für die der Europäischen Union, umrissen und die Grundlagen für "Die Europäische Krise - Teil 4" gelegt.

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