Freitag, 28. Januar 2011

Die europäische Krise - Teil 3: Koordinierung der Wirtschaftspolitik oder EU-Wirtschaftsregierung und die Krise des Kapitalismus


Als die Finanzmarktkrise im 2007 in den USA begann - damals noch verharmlosend als "US-Hypothekenkrise" bezeichnet -, herrschte außerhalb der USA zunächst monatelang die Einschätzung vor, es handele sich um ein amerikanisches Problem. Als die Krise schon bald über den Atlantik schwappte und in Deutschland die Mittelstandsbank IKB sowie die SachsenLB in Schieflage brachte, herrschte zwar Besorgnis. Aber an eine beginnende ernste Krise auf dem europäischen Kontinent glaubte zunächst kaum einer. Noch im Sommer des Jahres 2008, wenige Wochen vor der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers, waren beispielsweise die Wirtschaftsprognosen der Ökonomen für die zweite Hälfte des Jahres 2008 durch die Bank positiv. Nach der Lehman-Pleite änderte sich alles sehr rasch und erst von da an setzte sich in der öffentlichen Berichterstattung und Debatte bei der Krisenbezeichnung die Terminologie "Finanzmarktkrise" durch.

Aber auch das war eine Fehleinschätzung. Dies äußerte sich erstens darin, dass die Ursachen des folgenden Absturzes der Realwirtschaft fälschlicherweise allein oder doch zumindest ganz wesentlich in der Finanzmarktkrise gesehen wurden. Und weil die Krise als Finanzmarktkrise begriffen wurde, sahen die Regierungen für sich selbst keinen wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf. Vielmehr kippten sie zweitens den Notenbanken die Probleme vor die sprichwörtlichen Füße. Als sich herauskristallisierte, dass die Notenbanken die Finanzmärkte nicht so schnell wieder zu stabilisieren vermochten und immer stärker die Gefahr einer Kreditklemme in den Vordergrund rückte, handelten die Regierungen dann doch. Dabei wurde die Weltwirtschaftskrise als konjunkturell bedingt aufgefasst, also als kurzfristig, vorübergehend - das dritte Zeichen für die falsche Einschätzung der Krise. Die Interpretation der Lage zu diesem Zeitpunkt war ebenso einfach wie falsch: Es herrschte  die Überzeugung vor, der Staat müsse die Realwirt-schaft ganz im Sinne von Keynes lediglich vorübergehend mit Konjunktur stimulierenden Maßnahmen stützen - bis es den Notenbanken gelungen sein würde, die Finanzmärkte wieder zu stabilisieren. Wohin dies geführt hat, zeigt sich heute in den USA und ebenso in Japan.

Erst in den letzten Wochen, im Zuge der EU-Schuldenkrise, hat  - angesichts der an vielen Stellen erneut aufkommenden Probleme, die auf eine drohende Rückkehr oder, je nach Interpretation, eine erneute Verschärfung der Finanzmarktkrise hindeuten - eine Debatte über den wirtschaftspolitischen Handlungsbedarf für die Europäische Union begonnen.

Nach fast vier Jahren ist die Krisendebatte in Europa nun also tatsächlich doch noch in der Krisenrealität angekommen - zumindest ein wenig.

Denn erneut wird der Fehler gemacht, diesen Handlungsbedarf allein aus den Finanz-marktproblemen, vor die gegenwärtig besonders die hoch verschuldeten EU-Mitglied-staaten gestellt sind, abzuleiten. Infolgedessen dominieren die kontrovers geführte Debatte einerseits Vorschläge über geeignete Instrumente zur Stabilisierung dieser Staaten und des Euro - Aufstockung des Rettungsfonds, Euro-Bonds, Europäischer Währungsfonds. Andererseits wird wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf auf europäischer Ebene nur insoweit gesehen als er dazu dient, künftig schlechte Haushaltsführung und dadurch bedingt ausufernde Verschuldung in den EU-Mitglied-staaten zu verhindern.
 

Aktuell wird diese Diskussion immer noch eher auf einer grundsätzlichen Ebene geführt: Brauchen wir eine zentrale europäische Wirtschaftsregierung oder lediglich eine bessere Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken? Das ist die Frage, die im Vordergrund steht und dies zeigt, wie oberflächlich die Auseiandersetzung zum gegenwärtigen Zeitpunkt tatsächlich noch ist. Von einer Verschärfung des Stabilitätspaktes etwa ist die Rede, von einheitlichen Kriterien, nach denen die Haushalte der Regierungen überprüft werden sollen und von automatisch greifenden Sanktionen. So soll u. a. etwa die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten stärker in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Solche Kriterien lassen sich jedoch nicht leicht finden und nicht selten ist keineswegs so klar, wie diese sinnvoll und zuverlässig gemessen werden können. Denn genau so wie beispielsweise die Definition und Messung der Wohlfahrt durch das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist auch die Definition und Messung der Wettbewerbsfähigkeit in den Wirtschaftswissenschaften keineswegs unumstritten - ein in der aktuellen politischen Debatte zumindest erheblich unterschätztes Problem.

Was die Debatte zeigt, ist, dass ihr unverändert eine Sichtweise der Krisenproblematik zugrunde liegt, die einen wesentlichen Teil der krisenursächlichen Probleme ausklammert: Die Krise wird grob vereinfachend als Schuldenkrise begriffen. Die Finanzierungsprobleme sowie die Konsequenzen für die Finanzmärkte und den Euro werden gesehen. Die Probleme der europäischen Wirtschaft, die, wie in "Die europäische Krise - Teil 2" argumentiert, signalisieren, dass das bisherige europäische Wachstums-modell nicht mehr trägt, werden weitestgehend ausgeblendet. Zwar werden die Ungleich-gewichte innerhalb der EU als problematisch wahrgenommen und sie sind - hier wie auf globaler Ebene - vor dem Hintergrund von Überlegungen, Regierungen auf das Ziel ausgeglichener Leistungsbilanzen zu verpflichten, bereits andiskutiert woren. Konkrete Lösungen gibt es aber nicht.

Einstweilen wird in der EU nur gesehen, dass dieses Problem nicht allein oder gar ausschließlich seitens der Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen gelöst werden kann. Vielmehr muss vor allem auch in den Staaten mit hartnäckigen Leistungsbilanz-defiziten daran gearbeitet werden, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Doch wie bereits zuvor betont, steht dabei auch der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit selbst zur Disposition: Was macht die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten eigentlich aus, wie soll sie gemessen werden? Immerhin keimt inzwischen die Erkenntnis, dass man das "Erfolgs-modell" von Exportnationen nicht einfach in einem Akt falsch verstandenen Harmoni-sierungsstrebens allen EU-Mitgliedstaaten überstülpen kann.


Dennoch hat die Debatte Schlagseite in Richtung "buchhalterisch korrekter Haushalts-führung" anhand von ein paar "bewährten" volkswirtschaftlichen Kennzahlen - nur das im Zuge der Krise eben klar geworden ist, dass es diese "bewährten" sprich zuverlässigen Kennzahlen gar nicht gibt: Was ist beipielsweise "Wohlfahrt"? Alle Versuche der Ökonomen, sie zu definiern und zu messen, sind bisher gescheitert. Insofern ist es etwa auch fraglich, inwieweit das "Wirtschaftswachstum", gemessen am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, überhaupt geeignete Orientierungen zu geben vermag - nicht zuletzt wenn man an die überall in den Industriestaaten immer weiter auseinander klaffende Vermögens- und Einkommensschere denkt. Die Wachstumsideologie - immer mehr vom selben -, der die Wirtschaftspolitik folgt, wird angesichts der Erfahrungen aus der Krise immer stärker infrage gestellt.

All dies und mehr steckt hinter der Frage nach dem wirtschaftspolitischen Handlungs-bedarf für die Europäische Union. Die Tatsache, dass die Finanzmarktkrise die führenden ökonomischen Schulen - Neoklassik, Neoliberalismus und Keynesianismus - selbst in eine Krise gestürzt hat, weil sie die offensichtlichen Schwächen und die begrenzte Orientierungskraft ihrer Theorien gnadenlos aufdeckte, erschwert die Orientierung in dieser Frage massiv.

Auf der wirtschaftswissenschaftlichen Seite ist eine Art Vakuum entstanden, das die Politik lange Zeit nicht schmerzte, weil sie einmal den wirtschaftspolitischen Handlungs-bedarf ignorierte und die Krise mit all ihren wirtschaftstheoretischen Fragen als Problem der Notenbanken ansah. Davon unabhängig schmerzte es sie aber auch deswegen nicht, weil sie sich in den zurückliegenden Jahren immer stärker von wirtschaftstheoretischen Grundlagen entfernte und sich stattdessen auf wirtschaftspolitischen Pragmatismus verlegte. Damit ist einmal die stärkere Orientierung an empirischen Daten gemeint, zum anderen eine stärkere Berücksichtigung der Belange von Interessengruppen, sprich: Das Tor für Lobbyisten wurde weit geöffnet. Die Kehrseite der Medaille ist: Die Abhängigkeit der Politik vom der "Kompetenz" und vom Rat der Lobbyisten ist gewaltig angestiegen.

Die Situation hat sich jedoch grundlegend verändert. Erstens wird heute der Einfluss von Lobbyisten in der Bevölkerung und selbst in der Wirtschaft überaus kritisch gesehen. Zweitens tendiert der Orientierungswert empirischer Daten, die selbstverständlich immer Vergangenheitsdaten sind, in wirtschaftlich turbulenten Zeiten gegen Null. Wenn es in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten drunter und drüber geht und nichts mehr so ist, wie es einmal war, dann sind alle in der Vergangenheit gesammelten und in Daten komprimierten Erfahrungen für die Meisterung der Realität nur noch von sehr begrenztem Wert und zum Teil schlicht wertlos. Mit anderen Worten ist in turbulenten wirtschaftlichen Zeiten die ökonomische Theorie der einzige Halt für die auf Wirtschaft und Finanzmärkte gerichtete Politik.

Damit ist klar, wie prekär die Lage wirklich ist, weil die Finanzmarktkrise ausgerechnet die ökonomische Theorie, der letzte Orientierung gebende Halt der Politik, in ihren Grundfesten erschüttert hat.

Was die Lage verschärft, ist, dass aktuell wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf auf europäischer Ebene zwar gesehen wird. Doch genau wie zuvor der Bedarf an Konjunktur-stimulierung nach der Lehman-Pleite wird er gegenwärtig von den Finanzmärkten her begründet. Die Vorschläge für eine EU-Wirtschaftsregierung erwecken aus diesem Grund beispielsweise eher den Eindruck, die Politiker hätten dabei eine Art "europäische Sparpolizei" oder eine "EU-Wirtschafts-Spar-Regierung" im Sinn.

Das kann und wird nicht die Lösung sein. Es würde die EU bis an ihre Grenzen belasten und die innereuropäischen sowie auch die innerstaat-lichen Spannungen verschärfen. Andererseits besteht eindeutig wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf auf europäischer Ebene und zwar losgelöst von der sekundären Frage, ob er zentral organisiert werden soll - über eine Art EU-Wirtschaftsregierung - oder durch Rahmenvorgaben für die nationalen Regierungen.

Unter Berücksichtigung der zuvor erläuterten Probleme wird eine wirtschaftspolitische Lösung und mithin ein neues, tragfähiges Wirtschaftsmodell für die EU nicht gefunden werden können, so lange es nicht zu einer Verständigung auf ein wirtschaftspolitisches Leitbild dür die EU kommt. Es ist eines der großen Versäumnisse der EU, dass diese Frage überhaupt niemals erörtert worden ist. Das ist der Grund, warum jeder EU-Mit-gliedstaat wirtschaftspolitisch vor sich hin wurschtelt und wir erst jetzt, unter dem Druck der Schuldenkrise, in diese Richtung zu denken beginnen.

Wenn man diese Frage nach dem wirtschaftspolitischen Leitbild in Angriff nehmen will, dann muss man sich darüber im Klaren sein, was das bedeutet: Es geht - wie immer in Krisenzeiten - nicht ohne Rückgriff auf die ökonomische Theorie. Denn diese stellt Erklärungen für die grund-sätzlichen Funktionszusammenhänge der Marktwirtschaft (bzw. des Kapitalismus´) und die Voraussetzungen für wirtschaftliche Prosperität bereit. Genau darum geht es: Was kann und muss getan werden, damit die Europäische Union als Ganzes wieder prosperiert? Das Problem dabei: Es gibt nicht die eine, richtige Theorie, sondern unterschiedliche und zudem unvollkommene Theorien mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen.

So fürchterlich abstrakt, wie es sich anhört, ist es jedoch nicht. Denn jeder weiß, was die Marktwirtschaft antreibt, was sie prosperieren lässt, nämlich: der Wettbewerb.

Wettbewerb ist der Motor der Marktwirtchaft und zugleich die ordnende und für eine dynamische Regulierung der Marktkräfte sorgende Kraft - jedenfalls in der Idealvor-stellung. In der Realität ist er das nicht - nicht mehr, muss man sagen, denn im Nachkriegsdeutschland Ludwig Erhards war er es beispielsweise ganz eindeutig. Was wir heute sehen, wird indes oft als "Raubtierkapitalismus" bezeichnet oder gleich als "Krise des Kapitalismus´", die mit der Forderung nach einem starken Staat verbunden wird.(1)

Es ist falsch und nur mit Unkenntnis der Zusammenhänge zu erklären, wenn der Kapitalismus, die Marktwirtschaft oder der Wettbewerb als Kern des Problems angesehen werden, das nur durch einen starken Staat zu lösen sei. Das Problem liegt woanders: Wirtschaftspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie von einer zutreffenden Vorstellung darüber geleitet wird, welche Voraussetzungen erfüllt sein müsssen damit die Wirtschaft prosperiert und es eben nicht zu Auswüchsen kommt.

Entscheidend dafür ist, wie oben dargelegt, das Wettbewerbsideal.

Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Wettbewerb all seine positiven Wirkungen für die Ordnung der Märkte und für wirtschaftliche Prosperität entfaltet, wird in den Wirtschaftswissenschaften in unterschiedlicher Weise beantwortet - was gegenwärtig aber niemand thematisiert. Wir können deswegen davon ausgehen, dass das Wettbewerbsleitbild, an dem sich die Wirtschaftspolitik der Industriestaaten orientiert - sie tut es, auch wenn das niemand thematisiert -, offensichtlich dafür verantwortlich ist, dass wir heute einen Raubtierkapitalismus erleben und eine solch tiefe Krise mit anhaltend großen, systemischen Instabilitäten haben.

In "Die europäische Krise - Teil 4" soll dargelegt werden, zwischen welchen unterschied-lichen Wettbewerbsleitbildern die Europäische Union zwecks Orientierung der Wirtschaftspolitik grundsätzlich wählen kann, was die zugrunde liegenden Theorien besagen und welche Handlungsorientierungen sie geben.


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