Montag, 22. November 2010

Irland-Krise: Regierungen bleiben eine Geisel der Finanzmärkte


Bankenrettung folgt Haushaltskrise, folgt Sparzwang, folgt Staatsrettung, folgt ... - im Falle der Irland-Krise wiederholt sich, ausgehend von der Haushaltskrise, der Ablauf, den wir von der Griechenland-Krise her schon kennen. Es verschlägt einem die Sprache, wie selbstverständlich der Druck der Finanzmärkte hingenommen wird. Denn die Finanz-märkte haben Irland im wahrsten Sinne des Wortes in diese Notlage getrieben - und andere EU-Staaten in die Nähe einer Notlage. Irland ist nur ein weiterer Fall. Man kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es nicht der letzte war und das liegt an eben dieser Selbstverständlichkeit, mit der der Druck der Finanzmärkte akzeptiert wird.

Was aus diesem Grund seit Beginn der Finanzmärkte geschieht, ist Ausdruck einer Pervertierung des für marktwirtschaftliche Wirtschaftssysteme bisher bekannten grund-sätzlichen Verhältnisses zwischen Marktteilnehmern und Staat und es hat Methode. Zur Erinnerung: Die Sorge um die Stabilität der Finanzmärkte zwang Irland und alle anderen Staaten zur Rettung von Zocker-Großbanken. Die kleinen und mittelgroßen Banken, die größtenteils mit dem Casino gar nichts zu tun hatten, aber nun unter den Folgen zu leiden haben, auch daran sei erinnert, wurden weitestgehend sich selbst überlassen, zum Teil zusätzlich belastet. Gerade in den USA ist das der Fall. Dort sterben die Regional-banken vor sich hin - was die Regierung offensichtlich wenig kümmert und die Wall Street schon gar nicht. Die schlimmsten Folgen des gigantischen Schadens, den zockende Großbanken in aller Welt angerichtet haben und dessen ganzes Ausmaß bis heute nicht trans-parent gemacht worden ist - noch ein Punkt, an den erinnert werden muss -, waren von den Staaten nicht ohne massive Staatsverschuldung abzufangen. Es war dabei von vornherein klar, dass die hohe Staatsverschuldung wie ein Damoklesschwert über den entsprechenden Staaten hängen würde. Nachdem nun die Finanzmärkte die Regierungen dazu gebracht haben, die großen Spieler des Casinos zu retten und die Regierungen es versäumt haben, den Casino-Betrieb wirksam zu unterbinden, werden sie jetzt, da sie an den Rand der Staatspleite geraten sind, selbst zum Objekt des Casinos. Was schert es "die Finanzmärkte", dass sie der Grund für die Schulden sind? Nochmals: Hier geht es nicht um rein marktwirtschaftliche und, was immer gerne suggeriert wird, Gesetzmäßig-keiten folgende Prozesse, sondern darum, dass der Schwanz mit dem Hund wackelt. Schließlich ist der Staat die oberste Kontroll- und Ordnungsinstanz der Märkte und er hat seine Aufgabe so wahrzunehmen, dass sie funktionieren.

Niemand kann behaupten es wäre nicht abzusehen gewesen wohin es führen würde, wenn es den politischen Entscheidern und den Notenbanken nicht gelingen würde, sich von den Finanzmärkten zu emanzipieren - denn genau darum geht es. Bis heute wird stattdessen im Endeffekt alles getan, was "die Finanzmärkte" fordern. Jetzt haben die Finanzmarktteilnehmer also die kostspielige Rettung von Staaten erreicht, die nicht nötig geworden wäre, wenn die Finanzmarktakteure nicht selbst die Kosten für die Refinan-zierung in unbezahlbare Höhen getrieben hätten. Insofern sind "die Finanzmärkte" sogar in doppelter Hinsicht verantwortlich für das Irland-Desaster. Die Finanzmärkte haben alles erreicht: Sie wurden gerettet, sie durften den Casino-Betrieb fortsetzen, was Staaten wie Irland u. a. zu spüren bekommen, die jetzt wunschgemäß einer nach dem anderen gerettet werden, denn ansonsten wäre die Zockerei auf dem Anleihenmarkt ja nicht aufgegangen.

Doch dieses Spiel ist aus Sicht der Finanzmärkte noch lange nicht zu Ende gespielt und damit kein Missverständnis aufkommt: Die Finanzmarktteilnehmer werden es nicht selbst stoppen, bevor es eskaliert. Das wissen wir. Der Crash des Immobilienmarktes ist der Beleg dafür, das erfolgreiche Insistieren der Branche darauf, im Wesentlichen so weiter machen zu dürfen wie bisher, ebenfalls. Wie vieler Belege bedarf es noch, damit endlich wahrgenommen wird, dass die Finanzmärkte einen "Not-Aus"-Schalter weder haben noch bereit sind, ihn zu akzeptieren?

Die nächste Stufe des Spiels ist: "Die Finanzmärkte" fordern von den verschuldeten Staaten eine strikte Austeritätspolitik oder besser gesagt die EU, die EZB und der IWF tun es, um die Finanzmärkte zu beruhigen - was auf dasselbe hinausläuft.

Es ist wichtig, in diesem Punkt exakt zu sein: "Die Finanzmärkte" wollen nicht, dass der Sparkurs ihre eigenen Aktivitäten behindert oder gar einschränkt. Damit ist dann aber auch klar, zu wessen Lasten gespart werden soll: Zu Lasten der Allgemeinheit, d. h. also vor allem der Bürger und zu Lasten kleinerer und mittelgroßer Unternehmen, die offen-sichtlich nicht gemeint sind, wenn Politiker davon reden, was sie für "die Wirtschaft" tun. "Die Wirtschaft", das sind Großunternehmen und Großbanken, die Global Player eben. Seit vier Dekaden stehen sie unter der Überschrift "Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit" im Fokus der Regierungspolitik in den Industriestaaten - was erstaunlicherweise nie thematisiert wird. Es muss dabei klar gesehen werden, wohin diese in allen Industriestaaten betriebene einseitige Unterstützung von Großunternehmen heute geführt hat: Zu einer Art "Zwei-Klassen-Gesellschaft" in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten. Wir haben heute in den Industriestaaten in vielen Branchen einerseits einige wenige Großkonzerne, andererseits viele kleine und mittelgroße Unternehmen, die entweder in für Großunternehmen uninteressanten Nischen oder auf lokalen Märkten operieren oder die - sehr oft - von Großunternehmen abhängig sind (z. B. Automobil-zulieferer).

Was die einseitige Fokussierung der Politik auf das Großunternehmenssegment in der Wirtschaft und auf den Finanzmärkten über einen Zeitraum von vier Dekaden im Resultat bedeutet, lässt sich verdeut-lichen, wenn man sich die Volkswirtschaften der Industrie-staaten als Riesen vorstellt, die heute auf zwei unterschiedlich langen und starken Beinen stehen. Das lange, starke Bein ist es, auf dem die Volkswirtschaften eigentlich ruhen. Es steht für das Segment der Großunternehmen und Großbanken. Das kürzere, ausgemergelte Bein steht für das Segment der kleinen und mittelgroßen Unternehmen und Banken. Mit diesem Bild vor Augen wird auch verständlich, warum sich die Großbanken nie wirklich für das Geschäft mit kleinen und mittelgroßen Firmen interessiert haben.

Auch wenn das eine stark pointierte Beschreibung ist, so lässt sich damit das grund-legende strukturelle Problem, vor dem infolgedessen alle Industriestaaten in ähnlicher Weise stehen, auf den Punkt bringen. Dadurch bedingt wird die beschriebene Sparformel, der Staaten wie Griechenland und Irland nun folgen müssen, zu einer überaus gefähr-lichen Angelegenheit, denn sie trifft das schwache Bein hart.

Es liegt auf der Hand, dass dies ebenso wenig funktioniert wie die zuvor ebenfalls einseitig auf den Erhalt der Strukturen bzw. auf die Stabilisierung des starken Beins gerichtete keynesianische Ausgabenpolitik. Auf einen nachhaltigen Wachstumskurs hat das so verstandene und allseits betriebene "deficit spending" nicht geführt. Drakonisches Sparen zu Lasten der Bürger (Nachfrager) und der mittelständischen Wirtschaft wird hingegen die ohnehin existierende wirtschaftliche und wirtschaftsstrukturell bedingte Schieflage noch vergrößern. Das ist ein Anti-Wachstumskonzept.

Es erscheint vor diesem Hintergrund aberwitzig anzunehmen, diese Form des drastischen Sparens könne den Weg für Wrtschaftswachstum bereiten und zur Gesundung der Staatsfinanzen führen. Schon jetzt ist deutlich geworden: Sowohl in Griechenland als auch in Irland muss das aufgelegte Sparpaket nach wenigen Monaten bereits erneut verschärft werden. Denn die ersten Sparmaßnahmen reichen anders als geplant nicht aus, um die gesetzten Konsolidierungsziele zu erreichen - eine Folge der Wirtschaftsabschwächung, die die Sparmaßnahmen ebenfalls bewirkten.

Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die Wirtschaftslage dadurch so weit verschlechtert hat, dass an den Finanzmärkten und in den Medien die Gefahr einer drohenden Depression in klammen Staaten sowie die befürchteten Folgen für die globale Wirtschaft Thema wird? Denn man muss ja sehen, dass mehr und mehr Staaten, wie schon nach der Lehman-Pleite, schlicht bei den Nachbarn abgucken und sich auf denselben Kurs begeben, aber damit eben auch beinahe im Gleichschritt in dieselben Schwierigkeiten stolpern.

Was ich damit zum Ausdruck bringen will: Egal ob Bankenrettungs-, Konjunktur- oder Sparpakete - alles, was die Regierungen seit Beginn der Finanzkrise getan haben, diente dazu, das kriselnde starke Bein des Riesen zu stabilsieren. Das gelang temporär, allerdings nur zum Preis einer weiteren Schwächung des ohnehin vernachlässigten und stark geschwächten zweiten Beins. Das wirklich heiße Eisen, die Volkswirtschaften wirtschaftsstrukturell solider aufzustellen und damit die Weichen für dynamische wirtschaftliche Entwicklung, Wachstum und Beschäftigung zu stellen, wurde nicht angepackt.

"Too Big To Fail" wird aus diesem Grund aller Voraussicht nach wieder ein Thema werden - im Bankensektor und in der Realwirtschaft. Vor allem auch deswegen, weil die Regie-rungen es ganz im Sinne der zuvor beschriebenen Politik zulassen, dass im Wege von Fusionen und Übernahmen fortlaufend noch größere Konzerne entstehen, anstatt die gefährlich hohe Abhängigkeit der Volkswirtschaften der Industriestaaten vom Großunter-nehmenssegment zu verringern. Die Regierungen berauben sich damit - nicht zuletzt auf Druck der Finanzmärkte - systematisch der Möglichkeiten, ihre Volkswirtschaften anders als durch bedingungslose Unterstützung des Großunternehmenssegments zu stabili-sieren. Die grundsätzliche Instabilität des Systems kann aber nicht dadurch behoben werden, dass der Staat die Großen stützt und Profite aus einer zunehmend schwächeren Nachfrage vom Segment der mittelständischen Unternehmen in das der Großunter-nehmen umgelenkt werden.

Der Fall Irland zeigt deswegen, dass sich die Politik in einer Sackgasse befindet. Es geht nicht nur um ausufernde Staatsschulden. Die sich fortlaufend vergrößernde Gefahr besteht darin, dass das Großunternehmenssegment die eine oder andere Volkswirtschaft der Industriestaaten nicht mehr trägt, das Segment der kleinen und mittelgroßen Unter-nehmen jedoch zu schwach ist, um dies zu kompensieren. Ein Terroranschlag, ein neuer Börsencrash oder ein anderes einschneidendes Ereignis könnte der Auslöser dafür sein. Die Lehman-Pleite hat gezeigt, wie verwundbar das Großunternehmenssegment ist.

Dass die Europäische Staatengemeinschaft und der IWF Griechenland und Irland eine Verschärfung des Sparkurses verordnen, ist ein erneuter Kniefall vor den Finanzmärkten. Für die Emanzipierung von den Finanzmärkten und einen Kurswechsel in der Krisen-politik fehlt der Mut und die Kraft. Genau das ist der Grund, warum uns zuerst bestimmte Konzepte zur Bankenrettung und zur Konjunkturankurbelung und nun Sparpakete der beschriebenen Art  als alternativlos verkauft werden. Das ist nicht so. Vielmehr geht es mit Blick auf das Ziel der Stabilisierung von Wirtschaft, Finanzmärkten und Staatshaus-halten um die Frage, wie und wo gespart und wofür Geld ausgegeben wird. Da läuft vieles falsch. Deswegen lohnt es sich darum zu streiten.

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