Es begann am vergangenen Freitag, dem letzten
Tag im Monat Mai also. Am frühen Morgen rückte die türkische Polizei mit Tränengas
und Wasserwerfern an und löste ein Camp von Parkschützern im beliebten Gezi-Park
am Taksim-Platz in Istanbul gewaltsam auf. Die überwiegend jungen Menschen
hatten mit dem Camp friedlich gegen den Bau eines Einkaufszentrums im Gezi-Park
und für den Erhalt dieser Grünanlage im Herzen von Istanbul protestiert. (1)
Doch damit waren die Proteste und die
Angelegenheit für die Regierung Recep Tayyip Erdogans nicht beendet. Im Gegenteil.
Sie schlugen noch am selben Tag in
gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei um. Dann verwandelten
sie sich in massive, teils friedliche, teils immer wieder in gewaltsame
Auseinander-setzungen mit der Polizei umschlagende Proteste gegen die Regierung
von Ministerpräsident Erdogan und seine islamisch-konservative Partei für
Gerechtigkeit und Entwicklung. Trotz unterdrückter Berichterstattung in den
türkischen Medien und gestörter Internet- und Telekommunikation weiteten sich die
Proteste auf zahlreiche andere Orte in der Türkei aus und halten an. (2) Zehntausende
gehen seitdem auf die Straßen.
Das alles geschah innerhalb kürzester
Zeit, praktisch über Nacht.
Schon am 1. Juni wurde von über 90 Kundgebungen
im ganzen Land, von hunderten Festnahmen und zahlreichen Verletzten berichtet.
(3) Laut Angaben von Menschenrechtsorganisationen und Ärzteverbänden hat es im
Zuge der anhaltenden Proteste bei den Konfrontationen mit der Polizei bis heute
1.700 Verletzte gegeben und auch zwei Todesopfer. Die türkische Regierung
spricht dagegen von 173 Verletzten. (4)
Die Protestbereitschaft ist nicht abgeebbt.
Im Gegenteil. Der Rücktritt der Regierung Erdogan scheint eine nicht verhandelbare
Position der Demonstranten im ganzen Land geworden zu sein.
Es geht um die Unzufriedenheit mit einer Regierung,
die die Bürgerrechte im Sinne ihrer konservativ-religiösen Vorstellung von der
Gesellschaft immer weiter beschneidet und damit gegen weite Teile der
Bevölkerung regiert. Es geht auch um den autoritären Führungsstil, um Staatswillkür,
wie die Proteste gegen das geplante Einkaufs-zentrum exemplarisch verdeutlichen,
an dem Erdogan ungeachtet dessen festhalten will. Die Regierung setzt für den
Wirtschaftsboom verstärkt auf solche großen Bauprojekte. Die Widerstände gegen
diese Art von Politik, die wesentliche Bedürfnisse und Argumente in der Bevölkerung
ignoriert und Widerspruch nicht duldet, wie auch die Widerstände dagegen, sich von
der Regierung einen konservativ-islamischen Lebensstil aufzwingen zu lassen,
sind offensichtlich unterschwellig beträchtlich angewachsen. Nach der gewaltsamen
Auflösung der friedlichen Proteste gegen das Einkaufszentrum im Gezi-Park haben
sie sich Bahn gebrochen. Das war der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen gebracht hat.
Ministerpräsident Erdogan hat diese
Widerstände zweifellos unterschätzt und ihre Möglichkeiten, sie unter Kontrolle
zu bringen, überschätzt. Erst erklärte Erdogan die Demonstranten zu Extremisten,
die nicht für das stünden, was die Mehrheit der Bevölkerung wolle und dass die
Regierung sich nicht von diesen Rabauken von dem Bauvorhaben abbringen lasse. Gestern
dann, am Montagabend, sagte er im Rahmen seines Besuchs in Marokko, die Lage in
seinem Land beruhige sich allmählich. Wenn er zurückkehre, seien "die
Probleme erledigt". (5)
Sie sind nicht erledigt.
Aus Protest gegen die Polizeigewalt hat
der Gewerkschaftsbund KESK heute zum Streik aufgerufen. Die Beschäftigten des
öffentlichen Dienstes in der Türkei sollen ab Mittag die Arbeit niederlegen und
damit für eine demokratische Türkei und gegen den "Faschismus" der
islamisch-konservativen Regierungspartei AKP demon-strieren. Hunderttausende
Menschen könnten dem Aufruf laut Presseberichten folgen. (6)
Das ist der Stand der Dinge und er gibt Anlass
zu großer Nachdenklichkeit – weit über die Türkei hinaus.
Der Arabische Frühling begann 2010 mit
Massenprotesten und Ausschreitungen in Tunesien, die sich gegen die Regierung von
Machthaber Zine el-Abidine Ben Ali richteten. Wenn man sich einmal vor seinem
geistigen Auge eine Landkarte vom Mittelmeerraum vorstellt, um den Arabischen Frühling
in der zeitlichen Entwicklung geographisch verfolgen zu können, dann stellt man
fest, dass sich diese Revolution gegen Staatswillkür und autoritäre Politik sukzessive
gegen den Uhrzeigersinn um das Mittelmeer herum fortpflanzte. Der „Frühling“
erfasste Libyen, später Ägypten, zuletzt Syrien und er ist jetzt offenbar in
der Türkei angekommen.
Es ist dabei bemerkenswert und zugleich
ein Signal, dass Demonstranten in der Türkei sich bezüglich ihrer zentralen Motive
nicht nur in einer Linie mit den Menschen in jenen Staaten sehen, die den
Arabischen Frühling Realität werden ließen, sondern auch mit denen, die in den
europäischen Nachbarländern auf die Straße gingen, etwa Griechenland und
Spanien, um gegen die als alternativlos verkaufte und in diesem Sinne ebenfalls
autoritäre Politik ihrer Regierungen zu protestieren. (7)
Allerdings fällt dabei auf: Bisher hat es
in den südeuropäischen Krisenländern zwar immer wieder Massenproteste gegen die
Austeritätspolitik der jeweiligen Regierungen gegeben und auch Ausschreitungen.
Aber zum Sturz einer Regierung, zu einem echten politischen Wandel bzw. Frühling
ist es durch diese Proteste bisher noch nicht gekommen – abgesehen von einer
Ausnahme: Bulgarien.
Will sagen: Steht uns nach dem Türkischen
Frühling der Europäische Frühling bevor?
Es ist bezeichnend, dass gerade erst die
Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) eindringlich vor
sozialen Unruhen in Europa warnte. Hohe und weiter steigende Arbeitslosigkeit,
sinkender Lebensstandard und Verlust des Vertrauens in die Politik bilden
demnach ein explosives Gemisch, das Krawalle aus Hoffnungslosigkeit entzünden
kann. Südeuropa gilt bei der ILO als gefährdet, Deutschland als die stabile
Ausnahme – noch. (8)
Wie weit ist also etwa Spanien noch von
diesem Punkt entfernt, an dem Proteste aus Unzufriedenheit mit der Politik,
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung eine Größenordnung erreichen, die den Rücktritt
oder Sturz der konservativen Regierung von Premier Mariano Rajoy bewirkt? Oder der
griechischen Regierung oder der Portugals?
Ich persönlich habe nicht den Eindruck,
dass die Gefahr für Europa, die von der forcierten einseitigen
Austeritäts-politik in Kombination mit einem die Belange der Bevölkerung sowie
die unmittelbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen ignorierenden, autoritären
Politikstils ausgeht, von unseren Regierungen wirklich ernst genommen wird. Denn
es ist bisher nichts unternommen worden, um ihr glaubwürdig und effektiv entgegenzuwirken.
Das ist die türkische Botschaft für
Europa.
Die Entstehungsgeschichte der Proteste in
der Türkei sollte aber speziell auch die Politiker Deutschlands aufrütteln. Denn
unzweifelhaft gibt es viele Parallelen in der Entwicklung der Proteste gegen
das Bauvorhaben im Gezi-Park und der gegen das Bahnhofsprojekt
Stuttgart 21. Auch in Stuttgart ignorierten die Regierungspolitiker lange Zeit
alle Bedenken und Gegenargumente und versuchten ihren Beschluss über das Bahnhofsprojekt
ohne Abstriche regelrecht zu exekutieren. Dann wurden friedliche Proteste mit
Wasserwerfern und Reizgas gewaltsam aufgelöst und es gab viele Verletzte.
Die Entwicklung in Stuttgart hat danach
mit der Vereinbarung von Schlichtungsgesprächen einen anderen Verlauf genommen
als jetzt in Istanbul. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass es in der Regierungspolitik
hierzulande – nicht nur in Baden-Württemberg, Berlin (Flughafenprojekt) oder
Bayern – die gleichen, gefährlichen Reflexe gibt wie in der Regierung Erdogan und
den gleichen, mithin autoritär vertretenen Anspruch, dass parlamentarische
Mehrheiten jede Entscheidung rechtfertigen und Mehrheitsentscheidungen über
jeden Zweifel erhaben sind.
Wer so denkt, hat den Kontakt zu den
Menschen, für die er Politik macht, aufgegeben, mithin vielleicht sogar für entbehrlich
erklärt und damit seinen Bezug zur gesellschaftlichen und
gesamtwirtschaftlichen Realität stark eingeschränkt oder verloren.
Genau das ist auch die Grundlage dafür,
dass Regierungen von einem „Frühling“ überrascht werden können, der, egal ob in
Tunesien, der Türkei, Deutschland oder Pakistan, im Kern letztlich das Ziel
verfolgt, die gestörte Verbindung wiederherzustellen. Dass dies in der Regel
mit dem Sturz von Regierungen endet, lässt sich sehr schlicht begründen: Was nicht
biegt, das bricht und wer nicht hören will, muss fühlen.
Sehr schöner Artikel.
AntwortenLöschenIch würde aber die Eriegnisse in Frankfurt noch erwähnen wo die Blockupy Proteste gewaltsam von der Polizei niedergeschlagen wurden.
Auch dort scheint das Verhältnis der Politik zu Bürgern und Demokratie eines zu sein das man nur schwer mit unserer Verfassung in Einklang bringen kann.
http://www.fr-online.de/blockupy-frankfurt/leitartike-zul-blockupy-frankfurt-die-ordnung-der-anderen,15402798,23098752.html
Zitat FR:
Es gibt sie überall, diese Politiker-Spezies. Sie sorgt sich vor allem um das, was sie für Sicherheit und Ordnung hält, und das heißt vor allem: Der Betrieb muss ungehindert laufen. Störungen sind mit Härte zu unterbinden, soweit sie Beeinträchtigungen etwa des Bankenwesens bedeuten könnten.
Dass das Verhalten von Banken unter Umständen die „Ordnung“ mehr stört als eine Demonstration gegen Banken, das ist diesen Politikern ein eher abwegiger Gedanke.
In Frankfurt am Main wurde am vergangenen Wochenende mal wieder für „Ordnung“ gesorgt. In der angeblich so weltoffenen Stadt verteidigten prügelnde, pfeffersprayende Polizisten das Bankenviertel gegen Demonstranten, die meinten, es sei an der Zeit, die Gesellschaft gegen die herrschende Unordnung der Kapitalmärkte und gegen deren Folgen zu verteidigen.
Hallo alien observer,
Löschensicher, es gibt noch mehr Beispiele.
Eins ist ganz sicher auch der Fall Gustl Mollath, der in die Psychiatrie gesperrt wurde, wo er nun schon seit mehr als sieben Jahren ist, weil er "unkorrigierbar" der Überzeugung sei, seine Frau und andere Mitarbeiter der HypoVereinsbank Nürnberg seien in ein komplexes System der Schwarzgeldverschiebung verwickelt.
Das Problem: Er hatte dies - bevor er eingesperrt wurde - auch der HypoVereinsbank mitgeteilt, die darufhin die interne Revision beauftragte, der Sache nachzugehen. In dem Prüfbericht, der wenige Wochen später vorlag, bestätigten die Revisoren seinen Vorwürfe. Alle Vorwürfe hätten sich, soweit überprüfbar, als richtig erwiesen.
Justiz und Politik in Bayern sehen bei dieser Sache immer schlechter aus. Wenn Sie Zeit und Interesse haben, schauen Sie sich mal die folgende Doku an, die in dieser Woche in der ARD ausgestrahlt wurde, es lohnt sich:
http://mediathek.daserste.de/sendungen_a-z/799280_reportage-dokumentation/15028746_die-story-im-ersten-der-fall-mollath
Viele Grüße
SLE
Hallo Herr Eichner,
Löschender Fall Mollath ist mir natürlich ein Begriff.
Ich bin Münchner und verfolge den Fall.
Die Abgründe die sich auftun wenn man hinter die Kulissen der demokratischen Fassade blickt lassen einen schwindeln.
Die Frage ob es inzwischen zwingend notwendig ist, sich am Betrug am Bürger zu beteiligen, bzw. zu den Betrügereien anderer zu schweigen und sie zu vertuschen, um ein politisches Amt auszuüben drängt sich immer mehr auf.
Wie kann ein Seriöser und Integrer Politiker in dieser Situation noch an eine Position gelangen? Er muss doch vom Rest als Gefahr gesehen werden.
Inwieweit kann ein Kurswechsel unserer Politik noch Stattfinden ohne, dass die gesamte Kaste durch den Volkszorn weggeschwemmt werden muss?
Die Positionen und auch die Vorgänge eskalieren immer mehr. Auch die Offenheit mit der der Betrug und die Korruption inzwischen stattfindet wächst.
Die "Steueraffäre" und der Wechsel von Roland Koch zu Bilfinger und sein AR Posten bei der UBS, der Wechsel Klaedens zu Daimler, Schröders Wechsel zu Gazprom, die unglaublichen Verstrickungen von Jörg Asmussen und seinem Studienfreund Jens Weidmann zum Bankenwesen (Zuviele um sie hier aufzuzählen), die Liste liesse sich endlos Fortsetzen (Stoiber, Mappus, Oettinger ...).
Hier noch von einem demokratischen Rechtsstaat zu sprechen fällt wahrlich schwer. Seit der Kohl Ära staut sich eine gigantische Flut der nicht erfolgten Aufarbeitung der Skandale der neueren Geschichte, deren Überbegriff eigentlich nur Regierungskriminalität heissen kann.
Notdürftig wird der Damm immer wieder geflickt, wenn es sein muss wird wiedermal einer für Unzurechnungsfähig erklärt.
Welcher Tropfen den Damm sprengen wird bleibt abzuwarten.