Donnerstag, 9. September 2010

"Atomkompromiss", "Stuttgart 21", Steuergeschenke für Hoteliers - sie nennen es "Marktwirtschaft"


Seit Wochen schon bewegt immer mehr Bürger, wie Politik und Deutsche Bahn versuchen, "Stuttgart 21", das milliardenschwere Prestigeprojekt für den Umbau des Stuttgarter Kopfbahnhofs in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof, gegen den heftigen Widerstand der Stuttgarter durchzusetzen. Immer mehr Gutachten, Details und Expertenaussagen, die gegen das Projekt sprechen, gelangen in die Öffentlichkeit. Sie werfen die Frage auf, wie es überhaupt möglich sein konnte, dass "Stuttgart 21" von allen politischen Gremien abgesegnet worden ist.

Damit ist die Entwicklung hier erneut an einem Punkt angelangt, der die Glaubwürdigkeit der Politik massiv belastet - so wie es bei den von der Bundesregierung Ende 2009 beschlossenen Steuervergünstigungen für Hoteliers der Fall war. Ist "Stuttgart 21" ein weiteres Beispiel für Klientelpolitik, das heißt im konkreten Fall für einen "Deal" zwischen Politik und Deutscher Bahn, über dessen Sinnhaftigkeit und Kosten die Bürger im Dunkeln gelassen werden sollten?

Noch mehr Bedenken in dieser Richtung entfacht gegenwärtig die Berichterstattung über den von der Regierung beschlossenen Kompromiss zur Verlängerung der Laufzeiten von Atomkraftwerken. Dabei gab es schon im Vorfeld der Entscheidung Streit und Kritik - zuletzt auch wegen der deutschlandweiten Anzeigenkampagne der Atomlobby, mit der die Bundesregierung zur Verlängerung der Laufzeiten bewegt werden sollte. So äußerte etwa das Bundeskartellamt (1) wettbewerbspolitische Bedenken gegen eine Laufzeitverlängerung, die ein Gutachten der Kommunen (2) stützen. Zudem legte beispielsweise auch der Sachverständigenrat der Bundesregierung für Umweltfragen (SRU) dar (3), dass eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten vor dem Hintergrund der klimapolitischen Ziele sowie auch mit Blick auf die Sicherstellung der Stromversorgung nicht erforderlich ist. Der Rat wies ferner darauf hin, dass ein dauerhaftes nebeneinander von herkömmlicher und wachsender erneuerbarer Stromerzeugung das System ineffizient und unnötig teuer machen würde. Deswegen riefen die Experten die Bundesregierung dazu auf, die anstehende Erneuerung des Kraftwerkparks für die Umstellung auf erneuerbare Energien zu nutzen.

Darüber hinaus gab es Vorwürfe, der Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) halte einen Bericht über die Versorgungssicherheit in der Energiewirtschaft mit Daten zur Bedeutung der Atomindustrie zurück (4) und es wurde angesichts der bevorstehenden Entscheidung zu den AKW-Laufzeiten gefolgert, er könnte die Entbehrlichkeit der Atomkraft verdeutlichen.

Ausgesprochen kritisch wurde auch ein im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums erstelltes externes Energiegutachten aufgenommen, das der Entscheidungsfindung dienen sollte. Die schärfste inhaltliche Kritik an diesem Gutachten kam vom Bundesumweltministerium (5), das "haarsträubende Fehler" monierte und Manipulationsvorwürfe erhob: Es seien offensichtlich bewusst Extremfall-Annahmen zugrundegelegt worden, um den Klimaschutz und die Umstrukturierung der Energieversorgung zu diskreditieren; zudem seien trotz anderslautenden Auftrags nur die Kosten, nicht jedoch der Nutzen einer ambitionierten Klimapolitik betrachtet worden; ferner schnitten im Gutachten wegen fragwürdiger Annahmen zur Strompreisbildung Szenarien mit langen AKW-Laufzeiten besser ab.

Doch alle fachliche Expertise und alle Kritik haben nichts bewirken können.

Das für sich genommen wirft bereits die Frage auf, worauf sich der von den verantwortlichen Politikern beschlossene Atomkompromiss eigentlich stützt und worauf er letztlich abzielt. Doch jetzt gelangen außerdem noch immer mehr Details an die Öffentlichkeit, die, wie im Falle der beschlossenen Steuervergünstigungen für Hoteliers und "Stuttgart 21", den Blick verstärkt auf diese Frage lenken. Dazu gehören etwa Berichte, die darlegen, dass
  • die beschlossene Laufzeitverlängerung der AKW um durchschnittlich 12 Jahre faktisch zu deutlich längeren Laufzeiten führt. (6) Das hat mit der prognostizierten Auslastung der AKW zu tun. Sie wird nicht in Jahren berechnet, sondern in Jahresvolllaststunden. Die Auslastungsprognose der Bundesregierung hierzu ist nach Expertenauffassung sehr optimistisch. Wird sie von den Kraftwerksbetreibern nicht erreicht, verlängert sich die Laufzeit der Reaktoren um die Differenz. Das Ökoinstitut schätzt deswegen, dass sich die Laufzeit der AKW tatsächlich um 14 Jahre verlängert. Das Institute for Sustainable Solutions and Innovations (ISUSI) kommt sogar auf 15 Jahre;
  • der Atomkompromiss den Energiekonzernen trotz Brennelementesteuer und freiwilliger Sonderzahlung beträchtliche zusätzliche Gewinne ermöglicht. (7) Nach Berechnungen des Ökoinstituts können die vier großen Energieanbieter E.on, RWE, Vattenfall und EnBW zusammen mehr als 57 Milliarden Euro zusätzliche Gewinne einstreichen, wenn der Strompreis konstant bleibt. Bei einem moderaten Anstieg der Strompreise ergeben sich indes zusätzliche Gewinne von mehr als 96 Milliarden Euro. Bleiben die Strompreise konstant, werden 46 Prozent von diesen zusätzlichen Gewinnen abgeschöpft, steigen die Strompreise indes moderat, müssen die Kraftwerksbetreiber dagegen nur noch 28 Prozent abgeben. Dabei ist in der Rechnung allerdings noch nicht berücksichtigt, dass die AKW voraussichtlich länger laufen als die angegebenen duchschnittlichen 12 Jahre (siehe oben);
  • die Bundesregierung offenbar eine deutliche Senkung des Schutzniveaus für Atomkraftwerke plant, wofür auch das Atomgesetz entsprechend geändert werden soll. (8) Es geht um sicherheitstechnische Anforderungen und Maßnahmen zur Vorsorge gegen Risiken. Die Verpflichtung der AKW-Betreiber zur Nachrüstung, insbesondere auch der sogenannten Altreaktoren, soll weitgehend abgeschafft werden. Wesentliche und für die Kraftwerksbetreiber vor allem auch teure Modernisierungs- und Nachrüstungserfordernisse sollen anders eingestuft und damit für viele Jahre aufgeschoben werden. Mit den geplanten neuen Fristen fallen diese Kosten für alte Anlagen gemäß des Berichts praktisch nicht mehr an. Gemäß des entsprechenden Gesetzesentwurfs soll auch das Klagerecht der Bürger eingeschränkt werden;
  • es offenbar einen "Deal" zwischen Bundesregierung und Energiekonzernen gibt (9), der vertraglich fixiert wurde, dessen Existenz und Inhalte jedoch geheim gehalten werden.
Damit setzt sich der Prozess der Erosion der Politikerglaubwürdigkeit fort, der mit der Debatte um die Steuervergünstigungen für Hoteliers unter dem Stichwort "Klientelpolitik" Anfang des Jahres einsetzte und sich im Zuge von "Stuttgart 21" und "Atomkompromiss" beschleunigt. Die Umfragen der Meinungsforscher dokumentieren es. Schwerer noch wiegt, dass sich damit immer stärker herauskristallisiert, wie in Deutschland Politik gemacht wird und wie wenig sich dies mit dem Anspruch der Regierungspolitiker in Einklang bringen lässt, die immer wieder betonen, ihr Ziel sei die "Soziale Marktwirtschaft".

"Freie Marktwirtschaft" ? "Wettbewerb" ? Wohlstand für alle" ? - Haben wir das?

Niemand wird diese Frage heute noch guten Gewissens mit "Ja" beantworten können. Im Gegenteil zeigen die hier angesprochenen Beispiele dafür, wie Politik gemacht wird, dass wir uns immer weiter von der "Sozialen Marktwirtschaft" entfernen. Es ist völlig klar, dass es sich negativ auf die Funktionsfähigkeit und die gesamtwirtschaftlichen Resultate der Marktwirtschaft auswirkt, wenn Politik zugunsten spezifischer Interessen und für Konzerne gemacht wird. Es ist kein Wunder, dass neun von zehn Deutschen die "Marktwirtschaft" zunehmend negativ beurteilen. (10) Denn Politiker geben zwar immer wieder gerne vor, sie wollten eine "Soziale Marktwirtschaft". Tatsächlich betreiben sie allzu oft eine an spezifischen Interessen ausgerichtete Politik, verschleiern dies jedoch und verkaufen ihre Entscheidungen dem Bürger als die Marktwirtschaft stärkend oder "marktwirtschaftlich notwendig". Dass dies so lange bei den Bürgern keinen Argwohn geweckt hat, lässt sich nur damit erklären, dass die wenigsten wirklich eine Vorstellung davon haben, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen und wie Politik gestaltet werden muss, damit die (Markt-)Wirtschaft tatsächlich prosperiert und alle davon profitieren können.

Die Ökonomen sind in dieser Hinsicht keine Hilfe. Bis zum Ausbruch der Krise schienen sie zu wissen, unter welchen Voraussetzungen die Wirtschaft rund läuft und wächst. Seitdem ist jedoch klar, dass sie dazu nur sehr wenig sagen können.

Die Bürger, die unser aktuelles Wirtschaftssystem skeptisch beurteilen, haben recht damit. Nur handelt es sich eben gar nicht mehr um ein vom fairen Wettbewerb gesteuertes Wirtschaftssystem, sondern um ein von spezifischen Interessengruppen gesteuertes bzw. um ein sogenanntes korporativistisches Wirtschaftssystem. Ein solches befindet sich, wenn man sich die verschiedenen möglichen Ausprägungen von Wirtschaftssystemen als fließende Skala vorstellt, an deren Endpunkten die theoretischen Extremformen "freie Marktwirtschaft" und "Planwirtschaft" stehen, irgendwo in der Mitte. Je stärker ausgeprägt der Einfluss von Gruppen - Verbände, Gewerkschaften, Lobbyisten - auf die Politik ist und je stärker der Wettbewerb ausgehebelt wird, desto stärker sind die planwirtschaftlichen Züge des Systems.

Es ist insofern auch eine logische Konsequenz der oben beschriebenen politischen Praxis, dass bei uns die Industriepolitik mittlerweile einen so hohen Stellenwert hat - wobei diese keineswegs, wie die Bezeichnung suggeriert, nur auf den Industriesektor ausgerichtet ist. Tatsächlich ist die klassische Form der Industriepolitik auf die jeweils größten Unternehmen in wichtigen Branchen, die sogenannten National Champions, fokussiert. Und genau das können wir beobachten, etwa im Energiesektor, in der Automobilindustrie, im Pharma- und Chemiesektor und bei den Banken. Die Politik adressiert die Konzerne in diesen Sektoren, indem sie sich an deren Interessen orientiert. Das Bindeglied sind sehr oft Lobbyisten und deren Treiben wiederum verdankt sich die Bezeichnung "Klientelpolitik".

Tatsächlich ist die beschriebene "klassische Form" der Industriepolitik - andere Formen sind durchaus möglich -, die auf internationale Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung abzielt, eng verwandt mit der "Planification" Frankreichs in den 60er Jahren, im Rahmen derer die Regierung ihre Konzerne über die Aufstellung von mehrjährigen Plänen mitsteuerte. Diese Politik enthielt folglich planwirtschaftliche Elemente. Die Nähe zur Planwirtschaft ist insofern evident. Die gegenwärtige Form von Industrie- oder Klientelpolitik in Deutschland ist indes auch nicht unähnlich derjenigen Politik, die sich aus der sogenannten Stamokap-Lehre Rudolf Hilferdings (Das Finanzkapital, 1910) ableitete. "Stamokap" steht für "staatsmonopolistischer Kapitalismus". Der Staat sieht sich hierbei als eine Art Reparaturbetrieb des Kapitalismus und steht für eine Spätphase desselben, in der - nach Hilferding - Aktionäre die privaten Unternehmer verdrängt haben, die freie Konkurrenz von marktbeherrschenden Monopolen und Kartellen abgelöst worden ist und die wirtschaftliche Macht der Banken zunimmt.

Man kann darüber streiten, wie weitreichend Analogien sind. Bestreiten kann man sie nicht. Die gegenwärtige wirtschaftliche Realität ist der von Hilferding charakterisierten nicht unähnlich. Beunruhigend daran ist Folgendes: Hilferding hat die beschriebene Ausprägung des Kapitalismus, in der gemäß der Stamokap-Theorie die Interessen von Konzernen und des "Geldpools" mit denen des Staates weitgehend zusammenfallen, als die letzte, die "absterbende" Phase des Kapitalismus angesehen. Heute reden wir zwar von "(klassischer) Industriepolitik", aber diese ist ebenso durch ein zunehmendes Zusammenfallen der Interessen von Konzernen und des "Geldpools" (die "Finanzmärkte") mit denen des Staates gekennzeichnet. Der Staat ist heute de facto "Reparaturbetrieb des Kapitalismus"  - im Zuge der Finanzmarkt- und der sich anschließenden Weltwirtschaftskrise ist dies insofern deutlich geworden, als die Regierungen es eben diesen größten Akteueren (Banken, Konzerne) mit insbesondere finanziellen Hilfen ermöglichten so weiterzumachen wie bisher. Die Politik ist folglich dieselbe. Die Verfechter und Befürworter der "klassischen Industriepolitik" vertreten jedoch die Auffassung, diese Politik würde nicht nur die internationale Wettbewerbsfähigkeit (primär der "National Champions") verbessern, sondern auch zu Wirtschaftswachstum und Beschäftigung führen. Danach sieht es allerdings nicht wirklich aus, wenn man Daten und Fakten betrachtet. Nach Hilferding ist diese Politik kennzeichnend für die Phase des Niedergangs des kapitalistischen Systems.

So weit muss man Hilferding nicht folgen, das ist klar. Heute würde man ihn vielleicht als "Untergangspropheten" bezeichnen. Dennoch bleibt der Widerspruch bestehen. Wer hat nun recht? Was bewirkt klassische Industrie- bzw. Klientelpolitik? Wachstum und Beschäftigung oder das Gegenteil?

Das ist etwas zum Nachgrübeln, denke ich.

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