Sonntag, 21. Juni 2009

Neoliberalismus in der Krise: Vom liberalen Irrtum marktliberaler Ökonomen und Politiker


Viele Politiker wehren sich gegen staatliche Eingriffe in die Märkte - aktuell in den Automobilmarkt (GM/Opel und Schaeffler) und vor allem natürlich in die Finanzmärkte, man denke etwa an die staatlichen Hilfen für in Schieflage geratene Banken bis hin zur Zwangsenteignung im Falle der Hypo Real Estate. Sie vertrauen auf die Marktkräfte und pochen auf Deregulierung oder fordern doch zumindest, ein nicht allzu rigides Regulierungskorsett zu schnüren, weil dies - so ihre Sicht der Dinge - die Märkte in ihrer Funktionsweise schwer beeinträchtigen würde.

Diese Politiker gelten als Verfechter der Marktwirtschaft. Sie nehmen für sich in Anspruch zu wissen, wie die Marktwirtschaft funktioniert und sie erwecken den Eindruck, jeder, der nicht ihre marktliberale - Kritiker sagen oft "neoliberale" - Auffassung teilt, könne kein Befürworter der Marktwirtschaft sein.

Die Marktwirtschaft, so die zugrundeliegende Behauptung, kann überhaupt nur richtig funktionieren, wenn sie "frei" ist, "frei" von staatlicher Einflussnahme bzw. Intervention, von staatlicher Gängelung. Die Konsequenz daraus ist, dass liberale Politiker fordern, der Staat müsse sich auf "Ordnungspolitik" beschränken, das heißt auf die Vorgabe eines rechtlichen Rahmens für die Märkte, innerhalb dessen sich das Unternehmertum "frei" entfalten kann, zum Wohle der Volkswirtschaft.

Ist also nur derjenige für die Marktwirtschaft, der diese Auffassung teilt? Funktioniert die Marktwirtschaft tatsächlich so, wie von den Marktliberalen respektive den Verfechtern der "freien Marktwirtschaft" behauptet?

Zweimal "Nein". "Freiheit" und die Begrenzung auf "Ordnungspolitik" kann eine funktio-nierende und vor allem prosperierende Marktwirtschaft nicht gewährleisten.

Das bedarf der Erklärung.

Die liberale Marktauffassung geht auf Adam Smith (1723-1790) zurück, den Vater der klassischen liberalen Wirtschaftstheorie. Natürlich hat Smith ebenso wie die Befürworter seiner Lehre Recht mit der Betonung der Notwendigkeit eines moralisch verantwortlichen Handelns der Marktakteure. In diesem Punkt können wir alle von ihm lernen.

Andererseits wusste Smith letztlich vergleichsweise wenig darüber zu sagen, wie die Marktwirtschaft wirklich funktioniert. Für all das, was er nicht zu erklären vermochte, steht seine "Invisible Hand", die unsichtbare Hand, die auf wundersame Weise die Märkte ordnet, zu Wirtschaftsentwicklung und Wohlfahrtssteigerungen führt.

Es macht Sinn "freie" Märkte zu fordern, wenn man daran glaubt, dass die Marktwirt-schaft ein solchermaßen Wohlfahrt generierendes Selbstregulierungssystem ist. Denn staatliche Interventionen können so betrachtet dieses System nur stören und es in letzter letzter Konsequenz zerstören. Aber warum man daran glauben soll, dafür bleibt uns Smith die Antwort schuldig. Es ist letztlich nur eine Hypothese, die zudem auf recht wackeligen Füßen steht.

Die neue Popularität von Smith ist Ausdruck des Versagens der neoklassischen Theorie, des ökonomischen Mainstreams also. Einst mit dem Anspruch angetreten, die Funktionsweise der Wirtschaft besser erklären zu können als die klassischen Ökonomen es vermochten, stellt sich im Zuge der Krise mehr und mehr heraus, dass sie diesem Anspruch nicht gerecht wird.

Die neoklassische Theorie geht allerdings ebenso wie Smith von Selbstregulierungs-kräften der Wirtschaft aus. Das heißt, neoklassisch gesehen verfügt sie über immanente Kräfte, die sie ganz ohne staatliches Eingreifen in einen wohlfahrtsoptimalen Gleichge-wichtszustand führen. Die politische Konsequenz heißt deswegen auch in diesem Fall: Der Staat sollte sich auf Ordnungspolitik begrenzen.

Die neoklassische Theorie ist eine Gleichgewichtstheorie, die Theorie einer im Gleich-gewicht befindlichen Kreislaufwirtschaft, einer Wirtschaft also, in welcher es - anders als in der Smith´schen Theorie - keine wirtschaftliche Entwicklung gibt und in der es deswegen auf den effizientesten Einsatz der vorhandenen, knappen Ressourcen ankommt.

Tatsächlich entwickelt sich jedoch die Wirtschaft und Joseph A. Schumpeter ist einer der wenigen Ökonomen die versucht haben, das Phänomen der wirtschaftlichen Entwicklung zu erklären. Der neoklassische Zweig der Ökonomie setzte dem - seit den 50er Jahren - die Wachstumstheorie gegenüber. Die neoklassische Wachstumstheorie geht davon aus, dass es aufgrund von technischem Fortschritt zu einer Verschiebung des wirtschaftlichen Gleichgewichts kommt, entlang eines (gleichgewichtigen) Wachstumspfades. Es ist eine Theorie, deren Orientierungswert für die Wirtschaftspolitik der Bundespräsident Horst Köhler in seiner vierten Berliner Rede Ende März 2009 implizit infrage stellte.

Insofern überrascht es nicht, dass gerade Ökonomen die Berliner Rede nicht so gut aufnahmen, denn der Bundespräsident rüttelte damit auch am Fundament der herrschenden ökonomischen Lehre. (1) Das ist konsequent, denn die führenden Ökonomen haben bisher erschreckend wenig zur Erklärung der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise beigetragen, eben weil sie gleichgewichtstheoretisch vorgehen (und ihre Modelle allzu viele realitätsferne Abstraktionen aufweisen): "Entwicklung der Wirtschaft" ist nicht gleichbedeutend mit dem neoklassischen "Gleichgewichtszustand der Wirtschaft", sondern mit "wirtschaftlichem Ungleichgewicht". Wirtschaftliche Entwicklung in das gleichgewichtstheoretische Konzept zu zwängen und als "Verschiebung des Gleichgewichts" entlang eines stetigen Wachstumspfades zu interpretieren, ist eine realitätsferne Simplifizierung.

Die reale Wirtschaft ist eine sich entwickelnde Wirtschaft. Die neoklassische Theorie kann die Wirtschaft somit heute nicht besser erklären als Adam Smith, sondern - besser gesagt - genauso wenig wie Adam Smith.

Aus diesem Grund gelingt es den führenden Ökonomen auch nicht, die Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise zu erklären und darzulegen, welche Maßnahmen ergriffen werden können, um sie zu überwinden. Dafür wäre eine Wirtschaftstheorie erforderlich, die wirtschaftliche Entwicklung, Evolution und damit Ungleichgewichte erklären kann.

Jeder Politiker, der sich folglich auf die Selbstregulierungskräfte des Marktes beruft und eine liberale Wirtschafts- bzw. Ordnungspolitik fordert, dem fehlt dafür die tragfähige wirtschaftstheoretische Grundlage. Zu suggerieren oder gar zu behaupten, nur wer die marktliberale Auffassung teilt, sei für die freie Marktwirtschaft, ist falsch und dogmatisch.

Im Kern haben alle Akteure auf der Bühne der Finanzmarkt- und Weltwirtschaftskrise gegenwärtig dasselbe Problem:

Alle - Ökonomen, Manager (2), Politiker - sind bis vor wenigen Wochen fest davon ausgegangen, dass sie die Marktwirtschaft und den Wettbewerb, der sie antreibt, verstehen. Doch plötzlich funktionieren die alten Erfolgsrezepte nicht mehr. Die Märkte scheinen verrückt zu spielen. Seitdem herrscht Verunsicherung, Zweifel an den eigenen Krisenstrategien und politischen Maßnahmen, "Schockstarre"; es folgten eilige Rufe nach dem rettenden Staat und verfehlte Wirtschaftsprognosen sind an der Tagesordnung.

Das sind alles Zeichen dafür, dass Märkte und Wettbewerb in Wirklichkeit anders funktionieren als bisher gedacht - auch wenn das ein befremdlicher Gedanke ist. Und die klassische Theorie von Adam Smith, die neoklassische Theorie und auch die keyne-sianische Theorie tragen aus diesem Grund nicht zur Erklärung und Bewältigung der Krise bei. Sie können Ungleichgewichte, wirtschaftliche Entwicklung nicht oder nicht zutreffend erklären.

Die Ökonomen müssen folglich zurück ans Reißbrett und neue Modelle bauen, vielleicht anknüpfend an Schumpeters "Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung". Es gilt theoretisch zu erklären, wie eine sich entwickelnde Wirtschaft funktioniert und was dies für die Voraussetzungen für einen eine prosperierende Wirtschaft bewirkenden Wettbewerb impliziert. Wettbewerb ist eben offenbar nicht einfach Wettbewerb, wie Ordnungspolitiker und Mainstream-Ökonomen denken.

Die (funktionierende) Marktwirtschaft allein auf eine einzige Vorstellung bzw. Form von Wettbewerb zu reduzieren, wie es es Ordnungspolitiker und Mainstream-Ökonomen tun ("freier Wettbewerb" oder "funktionsfähiger Wettbewerb"), wird der Komplexität des Prozesses der wirtschaftlichen Entwicklung nicht gerecht. Es ist naheliegend davon auszugehen, dass in einer sich entwickelnden Wirtschaft Wettbewerb, der "Motor" der Marktwirtschaft", ebenfalls als sich entwickelnd gedacht werden muss, als "evoluto-rischer Wettbewerb". Das heißt, im Zeitablauf müssen als notwendige Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung unterschiedliche Formen von Wettbewerb auftreten.

Klar ist: Der "Motor" der Weltwirtschaft stottert seit dem Ausbruch der Finanzmarktkrise zunehmend. Mag sein, dass staatliche Hilfsmaßnahmen und Konjunkturpakete allein aufgrund des gigantischen Volumens die Krise kurzfristig mildern und das hier beschriebene Kernproblem übertünchen können. Lösen werden sie es ganz sicher nicht, genauso wenig wie die schlichte Besinnung auf "Ordnungspolitik" und "freie Märkte".

Keynes hatte schon sehr richtig festgestellt: "In the long run we are all dead."

Smith ist tot - Keynes auch.


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