Was für eine Überraschung. Nachdem über
einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren das umstrittenen Bahnhofs-projekt
„Stuttgart 21“ (S21) gegen den heftigen Widerstand und anhaltende Massenproteste
der Bürger vor Ort verteidigt wurde und auch ein Volksentscheid dagegen gescheitert
war, will die Bundesregierung für die aus dem Ruder laufenden Kosten nicht mehr
aufkommen und Ausstiegsmöglichkeiten prüfen. Das jedenfalls will die
Stuttgarter Zeitung erfahren haben und zwar aus einem Dossier des
Bundesverkehrsministeriums. (1)
Die Vorgeschichte
Die prognostizierten Kosten für „Stuttgart
21“ waren seit der Vorstellung des Projekts im Jahr 1994 mehrmals angehoben
worden. Auch der Streit um das Bahnhofsprojekt ist alt. Im August 2008 erklärte
der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU)
aufgrund anhaltender Diskussion, das Projekt sei solide geplant und die
Landesregierung rechne mit Kosten in Höhe von 3,076 Milliarden Euro. Wenige
Wochen später kritisierte der Bundesrechnungshof diese Kalkulation von der
Deutschen Bahn und dem Land und prognos-tizierte, das Projekt werde am Ende
deutlich mehr als 5,3 Milliarden Euro kosten. Bund, Land und die Stadt
Stuttgart einigten sich im Sommer 2009 dennoch auf einen Kostenansatz von 3,076
Milliarden Euro zuzüglich einer Absicherung gegen alle eventuellen
Kostenrisiken in Höhe von 1,45 Milliarden Euro. (2) Damit wurde die
Kostenobergrenze für Stuttgart 21 bei 4,526 Milliarden Euro gesetzt.
Als im August 2010 die regelmäßigen
Massenproteste gegen Stuttgart 21 überregional Aufmerksamkeit erregten,
veranschlagte die Bahn allerdings bereits Kosten in Höhe von knapp 4,088
Milliarden Euro für den neuen, unter-irdischen Bahnhof in Stuttgart. Die Gegner
des Projekts hatten die Kalkulationen der Bahn für den Tiefbahnhof „Stuttgart
21“ von Beginn an als unrealistisch und viel zu optimistisch kritisiert und
immer gefordert, sie solle diese offenlegen, was aber nie geschah.
Deutsche
Bahn: 1,47 Mrd. Euro
Bund: 1,23 Mrd. Euro
Land Baden-Württemberg: 0,82 Mrd. Euro
Stadt Stuttgart: 0,24 Mrd. Euro
Flughafen Stuttgart: 0,23 Mrd. Euro
Verband Region Stuttgart: 0,10 Mrd. Euro
Bund: 1,23 Mrd. Euro
Land Baden-Württemberg: 0,82 Mrd. Euro
Stadt Stuttgart: 0,24 Mrd. Euro
Flughafen Stuttgart: 0,23 Mrd. Euro
Verband Region Stuttgart: 0,10 Mrd. Euro
Geplante Kosten insgesamt: 4,088 Mrd. Euro
Über Wochen fanden im Sommer friedliche
Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt statt. Die Teilnehmer-zahlen stiegen
von anfänglich einigen Tausend auf – nach Veranstalterschätzungen – in der
Spitze bis zu 150.000 Teilnehmern an, womit niemand gerechnet hatte. Am
30. September 2010 eskalierte die Situation. Die Polizei löste eine
Massendemonstration in höchst umstrittener Weise gewaltsam auf. (4) Es gab
zahlreiche Verletzte. Viele ältere Menschen und auch Kinder hatten sich im
Stuttgarter Schlossgarten am Protest gegen das Bahnhofsprojekt beteiligt, als
die Polizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die
Demon-stranten vorging. Es wurden schwere Vorwürfe gegen Polizei und
Landesregierung erhoben. (5)
Um die Lage zu entspannen, vereinbarten Deutsche
Bahn, die damalige Schwarz-Gelbe Landesregierung unter Ministerpräsident Stefan
Mappus (CDU) und Projekt-Gegner Schlichtungsgespräche, die Mitte Oktober 2010 begannen.
Sie wurden von dem als Schlichter berufenen CDU-Politiker Heiner Geißler
geleitet. (6)
Die Bahn war jedoch auch nach mehrwöchigen
öffentlichen Schlichtungsverhandlungen bei ihrer Kostenkalku-lation (4,088 Mrd.
Euro) und ihrer Einschätzung geblieben, den Kostendeckel von gut 4,5 Milliarden
Euro einhalten zu können. An dem Projekt wurde deswegen, anders als von den
Gegnern erhofft, festgehalten. Das Schlichtungsergebnis vom 30. November
2010 sah jedoch einen Stresstest bezüglich der Leistungsfähigkeit des geplanten
Tiefbahnhofs vor, weil begründete Zweifel an den Leistungsprognosen der Bahn
zutage getreten waren sowie – zum Teil davon abhängige –, zusätzliche Kosten
verursachende Nachbesserungen der Projektpläne. (7)
Bei den Landtagswahlen in
Baden-Württemberg am 27. März 2011 wurde die von Stefan Mappus (CDU)
geführte Schwarz-Gelbe Regierung abgewählt. Stuttgart 21, aber vor allem auch
die kurz zuvor infolge eines Erdbebens und eines Tsunamis in Fukushima
geschehene nukleare Katastrophe wurden als Grund dafür gesehen, dass die Grünen
und die SPD eine Regierungsmehrheit erhielten und die Grünen als stärkste
Partei mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten stellen konnten.
Im März 2012, ein Jahr nach der
Landtagswahl in Baden-Württemberg, erklärte die Bahn, die Kosten für das
Projekt lägen jetzt um 200 Millionen Euro über dem bisher veranschlagten Betrag
von 4,088 Milliarden Euro, das heißt, bei nunmehr rund 4,3 Milliarden Euro. Die
aus der Schlichtung resultierenden Mehrkosten für Nachbesse-rungen des Konzepts
in Höhe von 80 Millionen Euro sind darin jedoch noch nicht enthalten. (8)
Im Dezember 2012 hatte die Bahn eröffnet,
der Kostenrahmen von 4,526 Milliarden Euro sei nicht zu halten. Das Projekt
werde mindestens 1,1 Milliarden Euro mehr kosten, insgesamt also mindestens 5,6
Milliarden Euro. Diese Mehrkosten will die Bahn tragen, weil das Projekt nach eigenen
Angaben auch dann noch wirtschaftlich ist. (9) Darüber werden ergänzend
Kostenrisiken gesehen, die aber von Bahn und Land unterschiedlich bewertet
werden: Die Bahn veranschlagt diese mit 930 Millionen Euro, die
baden-württembergische Landesregierung sieht hingegen Kostenrisiken von bis zu
1,2 Milliarden Euro. (10) Die Verwirklichung von Stuttgart 21 könnte demnach letztlich
bis zu 6,8 Milliarden Euro kosten. Die zusätzlichen Kostenrisiken will
die Bahn nicht übernehmen.
Die Grün-Rote Landesregierung von
Baden-Württemberg hatte jedoch zuvor immer wieder deutlich gemacht, dass sie
sich über den ursprünglich vereinbarten Finanzierungsanteil von maximal 930
Millionen Euro hinaus nicht an anfallenden Mehrkosten beteiligen werde. (11)
Auch der Bundesverkehrsminister Peter
Ramsauer (CSU) hatte schon Anfang Dezember 2012 erklärt, der Bund bleibe bei
seinem auf 563,8 Millionen Euro begrenzten Finanzierungsanteil. Der
Gesamtbeitrag des Bundes zu den Projektkosten liegt jedoch höher, nämlich bei
knapp 1,2 Milliarden Euro, weil auch GVFG-Mittel (Gemeinde-finanzierungsgesetz) für
Stuttgart 21 bereitgestellt werden. (12)
Neue Lage
Jetzt soll ein von Experten des
Bundesverkehrsministeriums erarbeitetes 15-seitiges Dossier vorliegen, aus dem
die Stuttgarter Zeitung zitiert (13):
- „Ein belastbarer aktueller Gesamtwertumfang wurde noch nicht ermittelt bzw. ausreichend geprüft.“
Das heißt, die aktuellen Kostenangaben der Deutschen Bahn für Stuttgart 21 –
5,6 Milliarden Euro plus Risikopuffer von 980 Millionen Euro – werden in
Zweifel gezogen.
- „Die Beantwortung der Fragen sowie die Statusberichte der Wirtschaftsprüfer weisen auf erhebliche Risiken über die bisherigen Berechnungen der DB AG hinaus hin.“
Das Bundesverkehrsministerium befürchtet folglich weitere Kostenrisiken.
- „Bei Betrachtung der gesamten Mehrkosten wird die Eigenkapitalverzinsung negativ.“… „Deshalb müssen Alternativen bis zum Ausstieg ernsthaft untersucht werden, um den Schaden minimieren zu können.“
Ergänzend schreibt dazu SWR.de in einem Artikel (14):
- „Bei Mehrkosten ab 1,8 Milliarden sei Stuttgart 21 außerdem für den Konzern nicht mehr wirtschaftlich und es sei durchaus wahrscheinlich, dass diese Grenze erreicht werde, heißt es in dem Gutachten.“
In der Stuttgarter Zeitung wird des
Weiteren zitiert (15):
- „Die Wirtschaftlichkeit der Weiterführung kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.“ Ebenso könne „nicht beurteilt werden, ob die Weiterführung eindeutig wirtschaftlicher als eine Alternative ist.“
Es ist folglich unklar, ob „S21“ in puncto Wirtschaftlichkeit etwa der von den
Projekt-Gegnern vorgeschlagenen Konzepts zur Modernisierung des bestehenden
Kopfbahnhofs („K21“) überlegen ist. Gefordert wird deswegen in dem Papier:
- „Zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit ist eine grundlegend neue Wirtschaftlichkeitsberechnung erforderlich, die eine Realisierung der ABS/NBS Stuttgart–Ulm–Augsburg im Weiterführungsfall berücksichtigt.“
Das Fazit des Papiers ist, dass der
Aufsichtsrat der Deutschen Bahn – die dem Bund gehört – derzeit keine
abschließende Entscheidung über Stuttgart 21 treffen könne, weil dafür erst
eine neue belastbare und geprüfte Kostenberechnung des Projekts inklusive
Risikovorsorge vorliegen müsse, auf deren Grundlage eine neue
Wirtschaftlichkeitsrechnung zu erstellen sei. Dabei müssten auch realistische
Fälle der Weiterführung des Kopfbahnhofs und weiterer Alternativen geprüft und
schließlich mit den Projektpartnern die Sicherung der Gesamtfinanzierung
geklärt werden. (16)
In der deutschen Presse wurde dies als
Distanzierung der Bundesregierung vom Bahnhofsprojekt Stuttgart 21
interpretiert, was Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU) jedoch umgehend
dementierte. (17)
Allerdings ist dieses Dementi insofern
schwach, als in dem Dossier des Bundesverkehrsministeriums aus Sicht des
Eigentümers und Aufsichtsrats der Deutschen Bahn harsche Kritik am Vorstand des
Unternehmens geübt wird. Dabei geht es nicht nur um die unzureichende und
möglicherweise falsche Information des Aufsichtsrats in dieser Angelegenheit.
Dem Vorstand wird laut Stuttgarter Zeitung in dem Dossier auch vorgeworfen,
bisher noch keine Verhandlungen mit den Projektpartnern über die ungeklärte
Finanzierung der bereits identifizierten Mehrkosten aufgenommen zu haben,
obwohl er dazu vertraglich verpflichtet und vom Aufsichtsrat auch aufgefordert
worden sei. Des Weiteren soll sich das Ministerium in dem Dossier laut Zeitung
explizit von der Äußerung des Vorstands distanziert haben, die Deutsche Bahn
wolle zumindest die 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten selbst tragen, weil diese
Entscheidung dem Aufsichtsrat obliege. (18)
Die politisch riskante Akrobatik der Schadensbegrenzung
Welch akrobatischen Akt hier die
Bundesregierung versucht – vorausgesetzt das Dossier enthält die
veröffent-lichten Aussagen –, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Bahn dem
Bund gehört und sie das Projekt bisher mit Klauen und Zähnen verteidigt hat. Denn
die Bundesregierung finanziert es zu 66 Prozent, wenn man die
Finanzierungsanteile von Bund und Bahn addiert. Wenn Stuttgart 21 von der
Regierung in Berlin gestoppt werden sollte, dann wäre das eine politische 180-Grad-Wende,
so wie zuvor auch schon in der Atompolitik.
Zur Erinnerung: In der Zeit der
Massenproteste gegen „Stuttgart 21“ im zweiten Halbjahr 2010 hatte sich Bundes-kanzlerin
Angela Merkel (CDU) vehement für das Projekt eingesetzt und die bevorstehende
Landtagswahl in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung darüber erklärt. (19)
Auch Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU) hatte es verteidigt und auf die Einhaltung
rechtlicher bindender Beschlüsse gepocht (20), ebenso wie etwa auch der damalige
Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) (21), der Bundesaußenminister und
damalige FDP-Chef Guido Westerwelle (FDP) (22) und Bundesinnenminister Thomas
de Maizière (CDU) (23).
Dass bei den Gegnern des Projekts gut
begründete Zweifel an der Kostenkalkulation der Deutschen Bahn existierten, die
diese bis heute nie transparent gemacht hat und an den von der Bahn in Aussicht
gestellten Vorzüge bzw. Leistungsmerkmalen des Bahnhofskonzeptes, wurde in der
ganzen Zeit von der Bundesregierung nie anerkannt. Die Bundesregierung hat nie
anerkannt, dass die vielen Menschen, die gegen Stuttgart 21 protestierten,
nicht die rechtlich bindende Wirkung von parlamentarischen Beschlüssen und von Verträgen
in Frage stellen wollte, sondern die Angaben und Dokumente, die zu diesen
Beschlüssen und Verträgen führten.
Wenn der Bundesrechnungshof bereits im
Jahr 2008 die Kostenkalkulation des Projekts als viel zu optimistisch
kritisieren und prognostizieren konnte, sie würden sich am Ende auf mehr als 5,3
Milliarden belaufen, warum konnte die Deutsche Bahn dies erst im Dezember 2012
und warum beginnt die Bundesregierung – sofern die Berichte über das Dossier
den Tatsachen entsprechen – erst jetzt, die Planung und Kalkulation der Bahn zu
hinterfragen? Vielleicht, weil beides nie eine ausschlaggebende Rolle spielte?
Gegen den ehemaligen baden-württembergischen
Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU), der Stuttgart 21 zu seiner Sache
gemacht hatte und durchfechten wollte, laufen seit dem 11. Juli 2012 staatsanwaltschaftliche
Ermittlungen wegen des von ihm unter Umgehung des Landtags veranlassten milliardenschweren
Kaufs von Anteilen des Energiekonzerns EnBW durch das Land Baden-Württemberg. Es
geht um den Vorwurf der Untreue. (24)
Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen
eingeleitet, weil ein diesbezüglicher Prüfungsbericht des Landes-rechnungshofes (25)
dem damaligen Ministerpräsidenten erhebliche Versäumnisse bei der Anbahnung des
Kaufs anlastete sowie generell die Vorteilhaftigkeit des Geschäfts für das Land
Baden-Württemberg in Frage stellte. (26) Stefan Mappus hatte den EnBW-Deal Ende
2010, also wenige Wochen vor der Landtagswahl, über die Bühne gebracht und als großen
Erfolg für das Land verkauft.
„Stuttgart 21“ sollte auch als großer
Erfolg verkauft werden, ist jedoch offenbar alles andere als in trockenen
Tüchern. Die diesbezüglichen Warnungen des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr
2008 klingen nach. Ein mit Steuergeldern finanziertes, milliardenschweres und überteuertes
Projekt, das auch als solches entlarvt wird, ist vor Wahlen ein der Alptraum
von Regierungen, die es zu verantworten haben.
Im Herbst wird ein neuer Bundestag
gewählt.
Die Universität Düsseldorf hat übrigens heute
der Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) in der Plagiatsaffäre
den Doktortitel ohne weitergehende Prüfungen aberkannt. Denn der Rat der Philosophischen
Fakultät, der dies beschloss, hat es als erwiesen angesehen, dass Schavan
"systematisch und vorsätzlich über ihre Dissertation verteilt"
gedankliche Leistungen vorgegeben habe, die sie nicht selbst erbrachte. (27) Das
ist, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene, ein weiteres Beispiel dafür, dass natürlich
auch Regierungspolitiker für ihre Entscheidungen und Handlungen zur Rechenschaft
gezogen werden – früher oder später, auf die eine oder andere Weise.
„You can fool all the people some of
the time and some of the people all the time but you cannot fool all the people
all the time.“ Die
Abraham Lincoln zugeschriebene Politikerweisheit ist alt, aber wahr.
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Tach Herr Eichner,
AntwortenLöschenmir gefällt Ihr unaufgeregter, sachlicher und faktenreicher Stil.
Bitte (noch lange) weiter so - viel Erfolg!