Dienstag, 5. Februar 2013

Dossier des Bundesverkehrsministeriums zu „Stuttgart 21“ – Auftakt einer politisch riskanten Schadensbegrenzung?



Was für eine Überraschung. Nachdem über einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren das umstrittenen Bahnhofs-projekt „Stuttgart 21“ (S21) gegen den heftigen Widerstand und anhaltende Massenproteste der Bürger vor Ort verteidigt wurde und auch ein Volksentscheid dagegen gescheitert war, will die Bundesregierung für die aus dem Ruder laufenden Kosten nicht mehr aufkommen und Ausstiegsmöglichkeiten prüfen. Das jedenfalls will die Stuttgarter Zeitung erfahren haben und zwar aus einem Dossier des Bundesverkehrsministeriums. (1)

Die Vorgeschichte

Die prognostizierten Kosten für „Stuttgart 21“ waren seit der Vorstellung des Projekts im Jahr 1994 mehrmals angehoben worden. Auch der Streit um das Bahnhofsprojekt ist alt. Im August 2008 erklärte der damalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) aufgrund anhaltender Diskussion, das Projekt sei solide geplant und die Landesregierung rechne mit Kosten in Höhe von 3,076 Milliarden Euro. Wenige Wochen später kritisierte der Bundesrechnungshof diese Kalkulation von der Deutschen Bahn und dem Land und prognos-tizierte, das Projekt werde am Ende deutlich mehr als 5,3 Milliarden Euro kosten. Bund, Land und die Stadt Stuttgart einigten sich im Sommer 2009 dennoch auf einen Kostenansatz von 3,076 Milliarden Euro zuzüglich einer Absicherung gegen alle eventuellen Kostenrisiken in Höhe von 1,45 Milliarden Euro. (2) Damit wurde die Kostenobergrenze für Stuttgart 21 bei 4,526 Milliarden Euro gesetzt.
Als im August 2010 die regelmäßigen Massenproteste gegen Stuttgart 21 überregional Aufmerksamkeit erregten, veranschlagte die Bahn allerdings bereits Kosten in Höhe von knapp 4,088 Milliarden Euro für den neuen, unter-irdischen Bahnhof in Stuttgart. Die Gegner des Projekts hatten die Kalkulationen der Bahn für den Tiefbahnhof „Stuttgart 21“ von Beginn an als unrealistisch und viel zu optimistisch kritisiert und immer gefordert, sie solle diese offenlegen, was aber nie geschah.
Die von der Bahn kalkulierten Kosten in Höhe von 4,088 Mrd. Euro waren wie folgt aufgeteilt: (3)

Deutsche Bahn:                   1,47 Mrd. Euro
Bund:                                 1,23 Mrd. Euro
Land Baden-Württemberg:    0,82 Mrd. Euro
Stadt Stuttgart:                    0,24 Mrd. Euro
Flughafen Stuttgart:             0,23 Mrd. Euro
Verband Region Stuttgart:     0,10 Mrd. Euro

Geplante Kosten insgesamt: 4,088 Mrd. Euro

Über Wochen fanden im Sommer friedliche Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt statt. Die Teilnehmer-zahlen stiegen von anfänglich einigen Tausend auf – nach Veranstalterschätzungen – in der Spitze bis zu 150.000 Teilnehmern an, womit niemand gerechnet hatte. Am 30. September 2010 eskalierte die Situation. Die Polizei löste eine Massendemonstration in höchst umstrittener Weise gewaltsam auf. (4) Es gab zahlreiche Verletzte. Viele ältere Menschen und auch Kinder hatten sich im Stuttgarter Schlossgarten am Protest gegen das Bahnhofsprojekt beteiligt, als die Polizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Demon-stranten vorging. Es wurden schwere Vorwürfe gegen Polizei und Landesregierung erhoben. (5)
Um die Lage zu entspannen, vereinbarten Deutsche Bahn, die damalige Schwarz-Gelbe Landesregierung unter Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und Projekt-Gegner Schlichtungsgespräche, die Mitte Oktober 2010 begannen. Sie wurden von dem als Schlichter berufenen CDU-Politiker Heiner Geißler geleitet. (6)
Die Bahn war jedoch auch nach mehrwöchigen öffentlichen Schlichtungsverhandlungen bei ihrer Kostenkalku-lation (4,088 Mrd. Euro) und ihrer Einschätzung geblieben, den Kostendeckel von gut 4,5 Milliarden Euro einhalten zu können. An dem Projekt wurde deswegen, anders als von den Gegnern erhofft, festgehalten. Das Schlichtungsergebnis vom 30. November 2010 sah jedoch einen Stresstest bezüglich der Leistungsfähigkeit des geplanten Tiefbahnhofs vor, weil begründete Zweifel an den Leistungsprognosen der Bahn zutage getreten waren sowie – zum Teil davon abhängige –, zusätzliche Kosten verursachende Nachbesserungen der Projektpläne. (7)
Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg am 27. März 2011 wurde die von Stefan Mappus (CDU) geführte Schwarz-Gelbe Regierung abgewählt. Stuttgart 21, aber vor allem auch die kurz zuvor infolge eines Erdbebens und eines Tsunamis in Fukushima geschehene nukleare Katastrophe wurden als Grund dafür gesehen, dass die Grünen und die SPD eine Regierungsmehrheit erhielten und die Grünen als stärkste Partei mit Winfried Kretschmann den Ministerpräsidenten stellen konnten.
Im März 2012, ein Jahr nach der Landtagswahl in Baden-Württemberg, erklärte die Bahn, die Kosten für das Projekt lägen jetzt um 200 Millionen Euro über dem bisher veranschlagten Betrag von 4,088 Milliarden Euro, das heißt, bei nunmehr rund 4,3 Milliarden Euro. Die aus der Schlichtung resultierenden Mehrkosten für Nachbesse-rungen des Konzepts in Höhe von 80 Millionen Euro sind darin jedoch noch nicht enthalten. (8)
Im Dezember 2012 hatte die Bahn eröffnet, der Kostenrahmen von 4,526 Milliarden Euro sei nicht zu halten. Das Projekt werde mindestens 1,1 Milliarden Euro mehr kosten, insgesamt also mindestens 5,6 Milliarden Euro. Diese Mehrkosten will die Bahn tragen, weil das Projekt nach eigenen Angaben auch dann noch wirtschaftlich ist. (9) Darüber werden ergänzend Kostenrisiken gesehen, die aber von Bahn und Land unterschiedlich bewertet werden: Die Bahn veranschlagt diese mit 930 Millionen Euro, die baden-württembergische Landesregierung sieht hingegen Kostenrisiken von bis zu 1,2 Milliarden Euro. (10) Die Verwirklichung von Stuttgart 21 könnte demnach letztlich bis zu 6,8 Milliarden Euro kosten. Die zusätzlichen Kostenrisiken will die Bahn nicht übernehmen.
Die Grün-Rote Landesregierung von Baden-Württemberg hatte jedoch zuvor immer wieder deutlich gemacht, dass sie sich über den ursprünglich vereinbarten Finanzierungsanteil von maximal 930 Millionen Euro hinaus nicht an anfallenden Mehrkosten beteiligen werde. (11)
Auch der Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) hatte schon Anfang Dezember 2012 erklärt, der Bund bleibe bei seinem auf 563,8 Millionen Euro begrenzten Finanzierungsanteil. Der Gesamtbeitrag des Bundes zu den Projektkosten liegt jedoch höher, nämlich bei knapp 1,2 Milliarden Euro, weil auch GVFG-Mittel (Gemeinde-finanzierungsgesetz) für Stuttgart 21 bereitgestellt werden. (12)


Neue Lage

Jetzt soll ein von Experten des Bundesverkehrsministeriums erarbeitetes 15-seitiges Dossier vorliegen, aus dem die Stuttgarter Zeitung zitiert (13):

  • „Ein belastbarer aktueller Gesamtwertumfang wurde noch nicht ermittelt bzw. ausreichend geprüft.“
Das heißt, die aktuellen Kostenangaben der Deutschen Bahn für Stuttgart 21 – 5,6 Milliarden Euro plus Risikopuffer von 980 Millionen Euro – werden in Zweifel gezogen.

  • „Die Beantwortung der Fragen sowie die Statusberichte der Wirtschaftsprüfer weisen auf erhebliche Risiken über die bisherigen Berechnungen der DB AG hinaus hin.“
Das Bundesverkehrsministerium befürchtet folglich weitere Kostenrisiken.

  • „Bei Betrachtung der gesamten Mehrkosten wird die Eigenkapitalverzinsung negativ.“„Deshalb müssen Alternativen bis zum Ausstieg ernsthaft untersucht werden, um den Schaden minimieren zu können.“
Ergänzend schreibt dazu SWR.de in einem Artikel (14):
  • „Bei Mehrkosten ab 1,8 Milliarden sei Stuttgart 21 außerdem für den Konzern nicht mehr wirtschaftlich und es sei durchaus wahrscheinlich, dass diese Grenze erreicht werde, heißt es in dem Gutachten.“

In der Stuttgarter Zeitung wird des Weiteren zitiert (15):

  • „Die Wirtschaftlichkeit der Weiterführung kann derzeit nicht abschließend beurteilt werden.“ Ebenso könne „nicht beurteilt werden, ob die Weiterführung eindeutig wirt­schaftlicher als eine Alternative ist.“
Es ist folglich unklar, ob „S21“ in puncto Wirtschaftlichkeit etwa der von den Projekt-Gegnern vorgeschlagenen Konzepts zur Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs („K21“) überlegen ist. Gefordert wird deswegen in dem Papier:

  • „Zur Beurteilung der Wirtschaftlichkeit ist eine grundlegend neue Wirtschaftlichkeitsberechnung erforderlich, die eine Realisierung der ABS/NBS Stuttgart–Ulm–Augsburg im Weiterführungsfall berücksichtigt.“

Das Fazit des Papiers ist, dass der Aufsichtsrat der Deutschen Bahn – die dem Bund gehört – derzeit keine abschließende Entscheidung über Stuttgart 21 treffen könne, weil dafür erst eine neue belastbare und geprüfte Kostenberechnung des Projekts inklusive Risikovorsorge vorliegen müsse, auf deren Grundlage eine neue Wirtschaftlichkeitsrechnung zu erstellen sei. Dabei müssten auch realistische Fälle der Weiterführung des Kopfbahnhofs und weiterer Alternativen geprüft und schließlich mit den Projektpartnern die Sicherung der Gesamtfinanzierung geklärt werden. (16)
In der deutschen Presse wurde dies als Distanzierung der Bundesregierung vom Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 interpretiert, was Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU) jedoch umgehend dementierte. (17)
Allerdings ist dieses Dementi insofern schwach, als in dem Dossier des Bundesverkehrsministeriums aus Sicht des Eigentümers und Aufsichtsrats der Deutschen Bahn harsche Kritik am Vorstand des Unternehmens geübt wird. Dabei geht es nicht nur um die unzureichende und möglicherweise falsche Information des Aufsichtsrats in dieser Angelegenheit. Dem Vorstand wird laut Stuttgarter Zeitung in dem Dossier auch vorgeworfen, bisher noch keine Verhandlungen mit den Projektpartnern über die ungeklärte Finanzierung der bereits identifizierten Mehrkosten aufgenommen zu haben, obwohl er dazu vertraglich verpflichtet und vom Aufsichtsrat auch aufgefordert worden sei. Des Weiteren soll sich das Ministerium in dem Dossier laut Zeitung explizit von der Äußerung des Vorstands distanziert haben, die Deutsche Bahn wolle zumindest die 1,1 Milliarden Euro Mehrkosten selbst tragen, weil diese Entscheidung dem Aufsichtsrat obliege. (18)


Die politisch riskante Akrobatik der Schadensbegrenzung

Welch akrobatischen Akt hier die Bundesregierung versucht – vorausgesetzt das Dossier enthält die veröffent-lichten Aussagen –, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Bahn dem Bund gehört und sie das Projekt bisher mit Klauen und Zähnen verteidigt hat. Denn die Bundesregierung finanziert es zu 66 Prozent, wenn man die Finanzierungsanteile von Bund und Bahn addiert. Wenn Stuttgart 21 von der Regierung in Berlin gestoppt werden sollte, dann wäre das eine politische 180-Grad-Wende, so wie zuvor auch schon in der Atompolitik.
Zur Erinnerung: In der Zeit der Massenproteste gegen „Stuttgart 21“ im zweiten Halbjahr 2010 hatte sich Bundes-kanzlerin Angela Merkel (CDU) vehement für das Projekt eingesetzt und die bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg zu einer Volksabstimmung darüber erklärt. (19) Auch Bundesverkehrsminister Ramsauer (CSU) hatte es verteidigt und auf die Einhaltung rechtlicher bindender Beschlüsse gepocht (20), ebenso wie etwa auch der damalige Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) (21), der Bundesaußenminister und damalige FDP-Chef Guido Westerwelle (FDP) (22) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) (23).
Dass bei den Gegnern des Projekts gut begründete Zweifel an der Kostenkalkulation der Deutschen Bahn existierten, die diese bis heute nie transparent gemacht hat und an den von der Bahn in Aussicht gestellten Vorzüge bzw. Leistungsmerkmalen des Bahnhofskonzeptes, wurde in der ganzen Zeit von der Bundesregierung nie anerkannt. Die Bundesregierung hat nie anerkannt, dass die vielen Menschen, die gegen Stuttgart 21 protestierten, nicht die rechtlich bindende Wirkung von parlamentarischen Beschlüssen und von Verträgen in Frage stellen wollte, sondern die Angaben und Dokumente, die zu diesen Beschlüssen und Verträgen führten.
Wenn der Bundesrechnungshof bereits im Jahr 2008 die Kostenkalkulation des Projekts als viel zu optimistisch kritisieren und prognostizieren konnte, sie würden sich am Ende auf mehr als 5,3 Milliarden belaufen, warum konnte die Deutsche Bahn dies erst im Dezember 2012 und warum beginnt die Bundesregierung – sofern die Berichte über das Dossier den Tatsachen entsprechen – erst jetzt, die Planung und Kalkulation der Bahn zu hinterfragen? Vielleicht, weil beides nie eine ausschlaggebende Rolle spielte?
Gegen den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU), der Stuttgart 21 zu seiner Sache gemacht hatte und durchfechten wollte, laufen seit dem 11. Juli 2012 staatsanwaltschaftliche Ermittlungen wegen des von ihm unter Umgehung des Landtags veranlassten milliardenschweren Kaufs von Anteilen des Energiekonzerns EnBW durch das Land Baden-Württemberg. Es geht um den Vorwurf der Untreue. (24)
Die Staatsanwaltschaft hatte die Ermittlungen eingeleitet, weil ein diesbezüglicher Prüfungsbericht des Landes-rechnungshofes (25) dem damaligen Ministerpräsidenten erhebliche Versäumnisse bei der Anbahnung des Kaufs anlastete sowie generell die Vorteilhaftigkeit des Geschäfts für das Land Baden-Württemberg in Frage stellte. (26) Stefan Mappus hatte den EnBW-Deal Ende 2010, also wenige Wochen vor der Landtagswahl, über die Bühne gebracht und als großen Erfolg für das Land verkauft.
„Stuttgart 21“ sollte auch als großer Erfolg verkauft werden, ist jedoch offenbar alles andere als in trockenen Tüchern. Die diesbezüglichen Warnungen des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008 klingen nach. Ein mit Steuergeldern finanziertes, milliardenschweres und überteuertes Projekt, das auch als solches entlarvt wird, ist vor Wahlen ein der Alptraum von Regierungen, die es zu verantworten haben.
Im Herbst wird ein neuer Bundestag gewählt.
Die Universität Düsseldorf hat übrigens heute der Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) in der Plagiatsaffäre den Doktortitel ohne weitergehende Prüfungen aberkannt. Denn der Rat der Philosophischen Fakultät, der dies beschloss, hat es als erwiesen angesehen, dass Schavan "systematisch und vorsätzlich über ihre Dissertation verteilt" gedankliche Leistungen vorgegeben habe, die sie nicht selbst erbrachte. (27) Das ist, wenn auch auf einer ganz anderen Ebene, ein weiteres Beispiel dafür, dass natürlich auch Regierungspolitiker für ihre Entscheidungen und Handlungen zur Rechenschaft gezogen werden – früher oder später, auf die eine oder andere Weise.
„You can fool all the people some of the time and some of the people all the time but you cannot fool all the people all the time.“ Die Abraham Lincoln zugeschriebene Politikerweisheit ist alt, aber wahr.

Folgende frühere Post zum Thema könnten Sie auch interessieren:



1 Kommentar:

  1. Tach Herr Eichner,
    mir gefällt Ihr unaufgeregter, sachlicher und faktenreicher Stil.

    Bitte (noch lange) weiter so - viel Erfolg!

    AntwortenLöschen